Kleine Anfrage 4020
der Abgeordneten Markus Wagner, Enxhi Seli-Zacharias und Sven W. Tritschler AfD
Vereinbarkeit eines Kalifats mit der freiheitlich-demokratischen Grundordnung
Der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Thomas Haldenwang (CDU), äußerte in einem Interview, dass das Kalifat eine „denkbare Staatsform“ sei.1 Diese Aussage wirft Fragen bezüglich der Vereinbarkeit eines Kalifats mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland auf. Vor diesem Hintergrund sind nähere Informationen der Landesregierung erforderlich, um die Position des Landes Nordrhein-Westfalen zu diesem Thema zu klären und die Auswirkungen solcher Äußerungen auf Nordrhein-Westfalen zu untersuchen.
Vor diesem Hintergrund fragen wir die Landesregierung:
- Inwieweit hält die Landesregierung ein Kalifat für eine denkbare Staatform für die Bundesrepublik Deutschland und das Land Nordrhein-Westfalen?
- Sieht die Landesregierung eine grundsätzliche Vereinbarkeit eines Kalifats mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland und den spezifischen verfassungsrechtlichen Anforderungen des Landes Nordrhein-Westfalen?
- Welche verfassungsrechtlichen Anforderungen müsste nach Ansicht der Landesregierung ein Kalifat erfüllen, um mit dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland und der Verfassung des Landes Nordrhein-Westfalens in Einklang zu stehen?
- Inwiefern gibt es in Nordrhein-Westfalen aktuell Organisationen bzw. Gruppierungen, die die Errichtung eines Kalifats fordern?
- Wie hat sich das Personenpotenzial, das ein Kalifat in Nordrhein-Westfalen fordert, in den letzten 10 Jahren entwickelt?
Markus Wagner
Enxhi Seli-Zacharias
Sven W. Tritschler
1 https://apollo-news.net/haldenwang-kalifat-ist-eine-denkbare-staatsform/
Der Minister des Innern hat die Kleine Anfrage 4020 mit Schreiben vom 23. Juli 2024 namens der Landesregierung beantwortet.
- Inwieweit hält die Landesregierung ein Kalifat für eine denkbare Staatform für die Bundesrepublik Deutschland und das Land Nordrhein-Westfalen?
- Sieht die Landesregierung eine grundsätzliche Vereinbarkeit eines Kalifats mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland und den spezifischen verfassungsrechtlichen Anforderungen des Landes Nordrhein-Westfalen?
- Welche verfassungsrechtlichen Anforderungen müsste nach Ansicht der Landesregierung ein Kalifat erfüllen, um mit dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland und der Verfassung des Landes Nordrhein-Westfalens in Einklang zu stehen?
Die Fragen 1 bis 3 werden aufgrund des Sachzusammenhangs gemeinsam beantwortet.
Die Landesverfassung sowie das Grundgesetz (GG) bilden den verfassungsrechtlichen Rahmen der Bundesrepublik und des Landes Nordrhein-Westfalen und legen insofern die Voraussetzungen für das staatlich verfasste Gemeinwesen fest.
Danach ist die Bundesrepublik Deutschland ein demokratischer und sozialer Bundesstaat, Artikel (Art.) 20 Abs. 1 GG. In Art. 20 GG sind die allgemeinen Prinzipien für die Staatsstruktur (Verfassungsgrundsätze) festgeschrieben, darunter das Demokratie- und das Rechtsstaats-prinzip. Das Volk ist danach Träger der Staatsgewalt, es äußert seinen Willen durch Wahlen, aus denen das Parlament hervorgeht. Der Grundsatz der Gewaltenteilung ist dabei ein tragendes Prinzip der rechtsstaatlichen Verfassung und Wesensmerkmal der Verfassungsstaatlichkeit. Art. 28 GG schreibt darüber hinaus fest, dass die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern den Grundsätzen des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaates im Sinne dieses Grundgesetzes entsprechen. In Art. 1 bis Art. 19 GG finden sich die Grundrechte – sie garantieren u.a. Meinungs- und Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit Glaubensfreiheit oder Gleichberechtigung.
Die Verfassung für das Land Nordrhein-Westfalen (LVerf NRW) ergänzt und konkretisiert diese Vorgaben: So präzisiert Art. 3 LVerf NRW den Grundsatz der Gewaltenteilung, u.a. in Abs. 1 mit Bezug auf plebiszitäre Gesetzgebung oder in Abs. 3 mit dem Verweis auf eine Rechtsprechung durch unabhängige Richter.
Inwiefern ein Kalifat diesen Verfassungsgrundsätzen widerspräche, kann nicht generell beantwortet werden, sondern hängt von der Auslegung im Einzelfall ab. Wird das Kalifat als Staatsform interpretiert, die einem religiösen Führer auch die politische Verantwortung überträgt und sich an einer klassischen Auslegung des islamischen Rechts orientiert, so ist dieses nicht mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung und den dargestellten Verfassungsgrundsätzen vereinbar, die durch Art. 79 Abs. 3 GG geschützt werden.
- Inwiefern gibt es in Nordrhein-Westfalen aktuell Organisationen bzw. Gruppierungen, die die Errichtung eines Kalifats fordern?
Grundsätzlich streben alle islamistischen Gruppierungen in unterschiedlicher Intensität nach einer politischen Vereinigung aller Muslime. Im Bereich des legalistischen Islamismus stehen jedoch meist pragmatischere Lösungen im Vordergrund. Hier besteht zumindest die Bereitschaft zur strategischen Akzeptanz einer demokratischen Ordnung, während ein Kalifat eher als Fernziel avisiert wird.
In der Hizb ut-Tahrir sowie in Teilen des Salafismus, besonders in dessen militanter Ausprägung, bilden hingegen die Forderungen nach einem Kalifat und die damit einhergehende absolute Ablehnung demokratischer Systeme ein zentrales Element der islamistischen Ideologie. So wurden öffentlich Forderungen nach einem Kalifat im Rahmen einer pro-palästinensischen Demonstration von rund 3.000 Personen am 03.11.2023 in Essen erhoben. Hauptredner der Veranstaltung war ein prominenter Aktivist der Hizb ut-tahrir-nahen Gruppierung “Generation Islam“, die allerdings nicht in Nordrhein-Westfalen ansässig ist.
- Wie hat sich das Personenpotenzial, das ein Kalifat in Nordrhein-Westfalen fordert, in den letzten 10 Jahren entwickelt?
Durch die nordrhein-westfälischen Sicherheitsbehörden erfolgt keine statistische Erfassung von Personen, die ein Kalifat fordern.
Die bloßen Forderungen nach einem Kalifat in Nordrhein-Westfalen sind grundsätzlich von der Meinungsfreiheit gedeckt und nicht strafbar. Auch der gesetzliche Beobachtungsauftrag des nordrhein-westfälischen Verfassungsschutzes aus § 3 Abs. 1 Verfassungsschutzgesetz Nordrhein-Westfalen ist bei der Forderung nach einem Kalifat nicht generell gegeben, sondern von der Auslegung im Einzelfall abhängig (vgl. Antwort zu den Fragen 1 bis 3).
Im Übrigen lässt sich das Personenpotenzial, das in Nordrhein-Westfalen ein Kalifat fordert, nicht sicher bestimmen, da der Wunsch nach einem derartigen Ordnungssystem nicht immer in der Öffentlichkeit geäußert wird und häufig eher implizit zum Ausdruck kommt. Mit der Entwicklung der Anhängerzahlen der Hizb ut-Tahrir sowie im Bereich des Salafismus, wie sie in den jährlichen Verfassungsschutzberichten dokumentiert ist, ist insgesamt jedoch über die letzten zehn Jahre auch ein Anstieg jener Personen zu verzeichnen gewesen, die offensiver für ein Kalifat eintreten (vgl. Vorlage 18/2489, S. 26 f. Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen über das Jahr 2023).