Welcher Stellenwert wird der Begabtenförderung in NRW beigemessen?

Kleine Anfrage
vom 29.07.2019

Kleine Anfrage 2802des Abgeordneten Helmut Seifen vom 22.07.2019

 

Welcher Stellenwert wird der Begabtenförderung in NRW beigemessen?

Seit Pisa gerät das deutsche Bildungssystem immer wieder die Kritik. Das sogenannte Bildungsdesaster sollte mit diversen Initiativen abgefangen werden. So richtete sich der pädagogische Blick zunehmend auf den individualisierten Unterricht und auf individualisierte Förderkonzepte. Auch die Etablierung breiter Angebote für lernschwache Kinder oder solche aus sozial benachteiligten Familien wurde und wird stark betont und vorangetrieben. Bei all den begrüßenswerten Bestrebungen seitens der Politik für dieses wichtige Thema wurde jedoch eine Gruppe von Kindern in Teilen zumindest teilweise unbeabsichtigt aus den Augen verloren.

Denn während die mediale Aufmerksamkeit den leistungsschwachen Kindern galt und gilt, wurde und wird die erbrachte Leistung begabter Kinder kaum einmal erwähnt. Dabei sitzen in vielen Schulklassen unentdeckte Talente, die eine Würdigung und auch eine ihrer Begabungen angemessene Förderung verdienen. Die Schule steht in der Verantwortung, diesen Schülern mit herausragenden Talenten die besten Entwicklungsmöglichkeiten anzubieten. Das ist ebenfalls eine Frage der Chancengerechtigkeit.

Die damalige Vizepräsidentin der Kultusministerkonferenz, Stefanie Hubig, hat die Bedeutung potenziell besonders leistungsfähiger Schülerinnen und Schüler in den Kontext der komplexen Lebensrealität gesetzt und ihre Bedeutung positiv betont. Dies galt in ihrer Ansprache explizit auch als Signal gegen die bisherige Wahrnehmung, Deutschland würde sich nur um leistungsschwache Schüler kümmern.

Die gemeinsame Bund-Länder-Initiative „Leistung macht Schule“ ist zur Förderung leistungsstarker Schülerinnen und Schüler etabliert worden. Diese Initiative dient der Förderung „leistungsstarker und potenziell besonders leistungsfähiger“1 Schülerinnen und Schüler und kostet den Fiskus lediglich 125 Millionen Euro. An den bislang 300 Projektschulen werden Projekte zur besseren Förderung von Kindern mit besonderen Begabungen durchgeführt. Diese Projekte dauern jeweils fünf Jahre an und werden wissenschaftlich begleitet. Die entsprechenden Schulen erhalten zusätzliche Lehrerstellen.

Das Ziel dieses Projektes wird durchweg positiv aufgenommen, der Weg zur Erreichung dieses Ziels wird jedoch kritisch betrachtet. So erklärt zum Beispiel der Vorsitzende des Deutschen Lehrerverbands, Heinz-Peter Meidinger: „Aber um Kinder nach ihren Begabungen zu fördern, brauchen wir eigentlich keinen Modellversuch.“ Er plädiert dafür, stattdessen in die Ausstattung der Schulen zu investieren.

Ich frage daher die Landesregierung:

1. Welche nordrhein-westfälischen Schulen nehmen an der Bund-Länder-Initiative teil? (Gebeten wird um eine Auflistung nach Bezirk, Schultyp und mit Kennzeichnung der teilnehmenden Schulstufen)

2. Nach welchen Kriterien werden Schulen auserwählt, sodass sie dann in den Genuss einer zusätzlichen Förderung kommen?

3. Welche finanziellen, personellen und materiellen Zuwendungen stehen den nordrhein-westfälischen Schülern seitens dieser Initiative zur Verfügung? (Gebeten wird um eine Auflistung nach Schule und den jeweils angegebenen Kriterien)

4. Nach welchen Maßstäben bezeichnet die Landesregierung einen Schüler als leistungsstark bzw. besonders leistungsfähig bzw. wie soll diese Identifizierung an den teilnehmenden Schulen gehandhabt werden?

5. Plant die Landesregierung die Lehrerausbildung in Bezug auf die Begabtenförderung zu verändern?

Helmut Seifen

 

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1 https://www.leistung-macht-schule.de/ (Abgerufen am 02.05.0219)


Nachfolgend die Antwort der Landesregierung, verfasst am 22.08.2019

 

Die Ministerin für Schule und Bildung hat die Kleine Anfrage 2802 mit Schreiben vom 22. August 2019 namens der Landesregierung im Einvernehmen mit der Ministerin für Kultur und Wissenschaft beantwortet.

Vorbemerkung der Landesregierung

Die zehnjährige Bund-Länder-Initiative „Leistung macht Schule“ besteht aus zwei Phasen (jeweils 5 Jahre). Ziel der ersten Phase ist es, schulische Strategien, Konzepte und Maßnahmen zur Förderung leistungsstarker und potenziell besonders leistungsfähiger Schülerinnen und Schüler zu entwickeln bzw. weiterzuentwickeln. Die Erarbeitung der Konzepte erfolgt in schulformübergreifenden Netzwerken. Die Arbeit innerhalb der Kernmodule wird wissenschaftlich unterstützt und begleitet. Kern der zweiten Phase der Initiative ist der Transfer der Ergebnisse mit den teilnehmenden Schulen als Multiplikatoren. Bei der Initiative „Leistung macht Schule“ handelt es sich nicht um einen Modellversuch. Erfreulicherweise hat der Landtag neben den bereits bestehenden Projekten darüber hinaus mit dem Haushalt 2019 weitere 500.000€ beschlossen, die der Begabungsförderung zugutekommen.

1. Welche nordrhein-westfälischen Schulen nehmen an der Bund-Länder-Initiative teil? (Gebeten wird um eine Auflistung nach Bezirk, Schultyp und mit Kennzeichnung der teilnehmenden Schulstufen)

Die im Folgenden aufgeführten Schulen nehmen an der Bund-Länder-Initiative teil. Dabei sind die Schulen hervorgehoben (fett markiert), die gemäß der Vorgabe der Kultusministerkonferenz aus einer bestehenden Struktur in die Initiative aufgenommen wurden. Hierbei handelt es sich um insgesamt 23 Schulen aus dem Projekt „Zentren Begabtenförderung“.

Regierungsbezirk Arnsberg: (15)

Grundschulen
Albert-Schweitzer-Schule Schwerte
Karl-Ernst-Osthaus-Schule Hagen
GGS Fröndenberg Fröndenberg
GGS Robert-Bonnermann-Schule Herdecke
GGS Werner-Richard Herdecke
Westricher Grundschule Dortmund
Städt. GGS Boloh Hagen
Overbergschule Hagen
Gymnasien
Märkisches-Gymnasium Iserlohn
Schiller-Schule Bochum
Immanuel-Kant-Gymnasium Dortmund
Fichtegymnasium Hagen
Geschwister-Scholl-Gymnasium Lüdenscheid
Gesamtschule
Gesamtschule Hagen-Eilpe Hagen
Realschule
Marie-Reinders-Realschule Dortmund

 

Regierungsbezirk Detmold (10):

Grundschulen
Alme-Grundschule Paderborn
Kapellenschule Gütersloh
Grundschule Vilsendorf Bielefeld
Kath. Grundschule der Stadt Nieheim Nieheim
GGS Amshausen Steinhagen
Gymnasien
Ratsgymnasium Minden Minden
Ev. Gymnasium Werther Werther
Einstein-Gymnasium Rheda-Wiedenbrück
Realschule
Luisenschule Bielefeld
Gemeinschaftsschule Sek.I
Gemeinschaftsschule Langenberg Langenberg

 

Regierungsbezirk Düsseldorf (12):

Grundschulen
GGS Bergheimer Straße Duisburg
GS Am Lönsberg Essen
Sternenschule Duisburg
Grundschule Buscher Holzweg Krefeld
Elsa-Brandström-Schule Düsseldorf
Gymnasien
Städt. Landfermann-Gymnasium Duisburg
Carl-Fuhlrott-Gymnasium Wuppertal
Konrad-Adenauer-Gymnasium Langenfeld
Städt. Math.-Nat. Gymnasium Mönchengladbach
Leibniz-Montessori-Gymnasium Düsseldorf
Gesamtschulen
Gesamtschule Mittelkreis Goch
Janusz-Korczak-Gesamtschule Neuss

 

Regierungsbezirk Köln (17):

Grundschulen
GGS Rösrath Rösrath
GGS Biesfeld Kürten
Matthias-Claudius-Schule Bonn
Kath. Grundschule am Domhof Mehlem Bonn
GGS Lindlar Ost Lindlar
GGS Grundschule Wiedenest Bergneustadt
St. Franziskus-Grundschule Brühl
St. Franziskus-Grundschule Erkelenz
Gemeinschaftsgrundschule Waldschule Lohmar
Gymnasien
Freiherr-vom-Stein-Schule Rösrath
Anno-Gymnasium Siegburg
Gymnasium Alsdorf Alsdorf
Emil-Fischer-Gymnasium Euskirchen
Gesamtschulen
Gesamtschule Weilerswist Weilerswist
Maria-Montessori-Gesamtschule Aachen
Realschule
Ernst-Simons-Realschule Köln
Förderschule
Anna-Freud-Schule Köln

 

Regierungsbezirk Münster (9):

Grundschulen
Ludgerusschule Hiltrup Münster
Gemeinschaftsgrundschule Sickingmühle Marl
Gymnasien
Gymnasium Petrinum Recklinghausen
Annette-von-Droste-Hülshoff- Gymnasium Dülmen
Albert Schweitzer/Geschwister Scholl Gymnasium Marl
Wilhelm-Hittorf-Gymnasium Münster
Gesamtschulen
Gesamtschule Gescher Gescher
Gesamtschule Münster Mitte Münster
Realschule
Werner-von-Siemens-Realschule Gladbeck

 

Eine Zuteilung nach Schulstufen ist aufgrund der Struktur der Initiative mit den Angeboten von Modulen nicht gegeben.

2. Nach welchen Kriterien werden Schulen auserwählt, sodass sie dann in den Genuss einer zusätzlichen Förderung kommen?

Es galten die Vorgaben der Kultusministerkonferenz (KMK):

  • Aufnahme bestehender Strukturen
  • Aufnahme von Schulen aus verschiedenen Schulformen
  • Berücksichtigung aller Landesteile

Nach Königsteiner Schlüssel nehmen 63 Schulen aus NRW teil. Für alle sich bewerbenden Schulen, die nicht aufgenommen werden konnten, wurden Angebote zur Weiterentwicklung ihrer Konzepte zur Begabungsförderung bspw. über die Beratung der Bezirksregierungen und die Unterstützung über das Netzwerk Zukunftsschulen NRW gemacht.

Auswahlkriterien:

  • Vorliegender „Letter of Intent“
  • Etabliertes Gremium zur Steuerung der schulischen Entwicklungsprozesse sowie implementierte belastbare Teamstrukturen
  • Erfahrungen in konzeptioneller Unterrichts- und Schulentwicklung
  • Erfolgte Rücksprache mit der für die Schule zuständigen Schulaufsicht vor ihrer Bewerbung
  • Erfolgtes Erstgespräch mit der Elternvertretung, ggf. bereits erfolgte Zustimmung der Schulkonferenz für die Teilnahme an dem Projekt (konnte auch nachgereicht werden)
  • Bereitschaft zur Teilnahme an einem 10-jährigen Projekt zur Förderung leistungsstarker und potenziell besonders leistungsfähiger Schülerinnen und Schüler (2×5 Jahre: nach 5 Jahren Zertifizierung, anschließend 5 Jahre Evaluation und Transfer)
  • Bereitschaft zur Zusammenarbeit in regionalen Netzwerken aus mehreren Schulen
  • Bereitschaft, differenzierte Förderung mittels evidenzbasierter Konzepte auf diagnostischer Basis als Grundlage für Unterrichtsentwicklung zu realisieren
  • Bereitschaft, wissenschaftsbasierte Konzepte umzusetzen und im Rahmen einer Evaluation Beobachtungen, Befragungen und Messungen zur Prüfung der Wirksamkeit der Konzepte durchführen zu lassen
  • Verteilung auf die Bezirke und die Schulformen

3. Welche finanziellen, personellen und materiellen Zuwendungen stehen den nordrhein-westfälischen Schülern seitens dieser Initiative zur Verfügung? (Gebeten wird um eine Auflistung nach Schule und den jeweils angegebenen Kriterien)

Jede an der Initiative „Leistung macht Schule – LemaS“ teilnehmende Schule erhält 6 Entlastungsstunden zur Unterstützung der schulischen Arbeitsprozesse.

Darüber hinaus werden für die teilnehmenden Schulen Veranstaltungen und Fachtage in Landesverantwortung durchgeführt, die wissenschaftliche Impulse für die Schul- und Unterrichtsentwicklung geben und die Vernetzung der Schulen untereinander stärken.

4. Nach welchen Maßstäben bezeichnet die Landesregierung einen Schüler als leistungsstark bzw. besonders leistungsfähig bzw. wie soll diese Identifizierung an den teilnehmenden Schulen gehandhabt werden?

Im Forschungsverbund LemaS wird ein mehrdimensionaler, entwicklungsbezogener Leistungsbegriff zugrunde gelegt. Demnach wird Leistung einerseits als schulbezogene Leistung betrachtet, sie schließt aber andererseits auch die Persönlichkeitsentwicklung und gesellschaftliche Verantwortung mit ein.

Dieser mehrdimensionale Leistungsbegriff bezieht sich auf verschiedene inhaltliche Domänen, in denen Leistung erbracht werden kann (z. B. Schulfächer wie Mathematik, Naturwissenschaften, Sprachen, Musik, Kunst und Sport), aber auch auf den sozial-emotionalen, den ethisch-philosophischen und den kreativen Bereich. Innerhalb dieser Domänen werden Fähigkeiten (‚can do‘) und Persönlichkeitsmerkmale (‚will do‘) unterschieden und es werden verschiedene Aspekte differenziert, die Leistung und Leistungspotenzial – bis hin zur Leistungsexzellenz und Expertise – ausmachen.

Das Ziel des Projekts gilt vor allem dem Erkennen und der Förderung leistungsstarker und potenziell besonders leistungsfähiger Schülerinnen und Schüler, also der Begabtenförderung. Voraussetzung der Begabtenförderung ist das Erkennen von Potenzialen und Begabungen. Dieses ist ohne Begabungsförderung als prinzipielle Förderung der Begabungen aller Kinder und Jugendlichen nicht möglich. Das Heranführen aller Kinder an unterschiedliche Domänen erlaubt erst das Entdecken von besonderen Potenzialen. Hieraus ergibt sich konsequenterweise eine vielschichtige prozessbezogene Diagnostik und individuelle Förderung. Theoretische Basis ist hierfür der oben genannte mehrdimensionale Leistungsbegriff.

Die Entwicklung von Diagnosekonzepten und adaptiven Formaten des diagnosebasierten Forderns und Förderns sind Teile der angebotenen Module.

5. Plant die Landesregierung die Lehrerausbildung in Bezug auf die Begabtenförderung zu verändern?

Die Landesregierung hat es sich nach dem Koalitionsvertrag zum Ziel gesetzt, neben verstärkter Fortbildung an mindestens zwei Universitäten in Nordrhein-Westfalen nach dem Vorbild anderer europäischer Länder einen Masterstudiengang zu etablieren, in dem begleitend zum fachbezogenen Lehramtsstudium ein Schwerpunkt auf die Begabungs- und Hochbegabtenförderung gelegt wird. Die Arbeitsprozesse hierzu sind angelaufen. Zu gegebener Zeit wird darüber informiert werden, in welcher konzeptionellen Form eine Umsetzung erfolgen wird.

 

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Beteiligte:
Helmut Seifen