Kleine Anfrage 4994der Abgeordneten Markus Wagner und Andreas Keith vom 12.02.2021
(Gewalt-)Straftaten gegen Menschen mit Behinderung
Sexueller Missbrauch, physische und psychische Übergriffe: Menschen mit Beeinträchtigungen sind zwei- bis viermal häufiger von Gewalt betroffen als der Bevölkerungsdurchschnitt. Die Dunkelziffer wird in diesen Fällen als extrem hoch eingeschätzt. Und oft kommen die Täter aus dem engeren Umfeld: Sie sind Mitbewohner, Kollegen oder auch Betreuer und Familienmitglieder.1
Im Januar 2021 sind laut Aussagen der Polizei Minden-Lübbecke und der Staatsanwaltschaft Bielefeld Ermittlungen gegen 145 Beschuldigte eingeleitet worden, die in einer Behinderteneinrichtung in Bad Oeynhausen Bewohner misshandelt haben sollen. Zu den Beschuldigten zählen unter anderem der ehemalige Leiter des zuständigen Geschäftsbereichs, Ärzte, verantwortliche Betreuer und Angehörige des Pflegepersonals. Sie sollen Bewohner mit Behinderungen gefesselt, eingesperrt und geschlagen haben.2
Dieser Vorfall in Bad Oeynhausen ist nur einer von vielen.
Wir fragen die Landesregierung:
- Wie viele Menschen mit Behinderung sind in den Jahren 2015 bis 2020 Opfer von (Gewalt-)Straftaten geworden, bzw. wie viele Opfer von Straftaten wiesen in den Jahren von 2015 bis 2020 das Merkmal der Opferspezifik „Mensch mit Behinderung“ oder ähnliches auf?
- Welche formalen Opfer-Tatverdächtigen-Beziehungen konnten bei den unter Ziffer 1 erfragten Straftaten ermittelt werden?
- Wie viele Anzeigen wurden aufgrund von Gewalt gegen Menschen mit Behinderungen in Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen nach Kenntnis der Landesregierung in den Jahren von 2015 bis 2020 erstattet? (Bitte aufschlüsseln nach Jahren, Geschlecht, und Art der Gewalt)
- Welche Maßnahmen hat die Landesregierung seit dem Jahre 2017 initiiert, um Gewalt gegen Menschen mit Behinderungen vorzubeugen?
- Welche Maßnahmen hat die Landesregierung im Zuge der Corona-Pandemie ergriffen, um Menschen mit Behinderungen, die zu den Corona-Risikogruppen gehören und sich daher noch stärker isolieren müssen, vor Gewalt zu schützen?
Markus Wagner
Andreas Keith
1 https://www.swr.de/swr2/wissen/gewalt-gegen-menschen-mit-behinderung-100.html
2 https://www1.wdr.de/nachrichten/westfalen-lippe/vorwurf-freiheitsberaubung-behinderte-100.html
Der Minister des Innern hat die Kleine Anfrage 4994 mit Schreiben vom 16. März 2021 namens der Landesregierung im Einvernehmen mit dem Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales und dem Minister der Justiz beantwortet.
Vorbemerkung der Landesregierung
Die Beantwortung der Fragen zur Kriminalitätsentwicklung basiert auf der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS). Die PKS unterscheidet zwischen Geschädigten und Opfern. Opfer im Sinne der PKS sind Personen, gegen die sich eine mit Strafe bedrohte Handlung unmittelbar richtet. Dabei handelt es sich um Straftaten gegen höchstpersönliche Rechtsgüter (Leben, Freiheit, körperliche Unversehrtheit, etc.).
Die Erfassung von Merkmalen zur Opferspezifik erfolgt unter der Voraussetzung, dass die Tatmotivation in den personen-, berufs- bzw. verhaltensbezogenen Merkmalen des Opfers begründet ist oder in Beziehung dazu steht (sachlicher Zusammenhang). Zur Beantwortung der Fragen wurde die Opferspezifik „Behinderung (körperlich/geistig)“ zugrunde gelegt.
Bei den Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung ist zu berücksichtigen, dass es infolge des 50. Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches vom 10.11.2016 auch zu Änderungen der statistischen Erfassung in der PKS gekommen ist. Ab 2017 sind die Daten insofern nur eingeschränkt mit den Vorjahren vergleichbar.
- Wie viele Menschen mit Behinderung sind in den Jahren 2015 bis 2020 Opfer von (Gewalt-)Straftaten geworden, bzw. wie viele Opfer von Straftaten wiesen in den Jahren von 2015 bis 2020 das Merkmal der Opferspezifik „Mensch mit Behinderung“ oder ähnliches auf?
Die Anzahl der Opfer, die in der PKS mit der Opferspezifik „Behinderung (körperlich/geistig)“ für die Jahre 2015 bis 2020 erfasst wurden, ist der nachfolgenden Tabelle zu entnehmen.
Jahr |
Anzahl der Opfer mit Opferspezifik |
||
insgesamt |
________davon________ |
||
männlich |
weiblich |
||
2015 |
1.053 |
510 |
543 |
2016 |
1.077 |
526 |
551 |
2017 |
1.110 |
577 |
533 |
2018 |
1.342 |
753 |
589 |
2019 |
997 |
503 |
494 |
2020 |
639 |
308 |
331 |
Die Anlage 1 beinhaltet die Aufschlüsselung nach Delikten. Dabei wird nicht zwischen vollendeten und versuchten Delikten unterschieden.
- Welche formalen Opfer-Tatverdächtigen-Beziehungen konnten bei den unter Ziffer
1 erfragten Straftaten ermittelt werden?
Die formalen Opfer-Täterbeziehungen zu den in der Frage 1 genannten Straftaten sind der Anlage 2 zu entnehmen.
- Wie viele Anzeigen wurden aufgrund von Gewalt gegen Menschen mit Behinderungen in Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen nach Kenntnis der Landesregierung in den Jahren von 2015 bis 2020 erstattet? (Bitte aufschlüsseln nach Jahren, Geschlecht, und Art der Gewalt)
Die Anzahl von Anzeigen aufgrund von Gewalt gegen Menschen mit Behinderungen in Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen wird in der PKS nicht erfasst.
- Welche Maßnahmen hat die Landesregierung seit dem Jahre 2017 initiiert, um Gewalt gegen Menschen mit Behinderungen vorzubeugen?
- Welche Maßnahmen hat die Landesregierung im Zuge der Corona-Pandemie ergriffen, um Menschen mit Behinderungen, die zu den Corona-Risikogruppen gehören und sich daher noch stärker isolieren müssen, vor Gewalt zu schützen?
Die Fragen 4 und 5 werden aufgrund des Sachzusammenhangs gemeinsam beantwortet:
Bereits seit Jahren unterstützt die Landesregierung eine Vielzahl von Aktivitäten, um Gewalt gegen Menschen mit Behinderungen vorzubeugen.
Die Landesregierung betont, dass Präventionsmaßnahmen durch eine opferfreundliche Gestaltung von Ermittlungs- und Gerichtsverfahren flankiert werden müssen, um geschädigte Menschen zu ermutigen, sich den Ermittlungsbehörden anzuvertrauen. Die Landesregierung verweist auf folgende Beratungsangebote spezifisch für Menschen mit Behinderungen:
Das Justizportal Nordrhein-Westfalen enthält Informationen unter anderem zu Zeugenrechten und zur psychosozialen Prozessbegleitung in leichter Sprache.
Die Beauftragte für den Opferschutz des Landes Nordrhein-Westfalen hält eine Liste von Psychotherapeutinnen und -therapeuten vor, die auf die Arbeit mit geistig behinderten Menschen spezialisiert sind. Opfer von Straftaten können sich an die Beauftragte wenden, die sie sodann bei der Suche nach einer Therapeutin oder einem Therapeuten unterstützt.
20 psychosoziale Prozessbegleiterinnen und -begleiteter mit den Tätigkeitsschwerpunkten „Begleitung von Personen mit Behinderung oder psychischer Beeinträchtigung“ sind in Nordrhein-Westfalen anerkannt. Auch ein Angebot für die besonders sensible Opfergruppe der Personen mit geistiger Behinderung und Mehrfachbehinderungen ist vorhanden.
Ergänzend ist auf die vielfältigen Aktivitäten der vom Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales geförderten Kompetenzzentren Selbstbestimmt Leben (KSL) hinzuweisen.
Weitere Beispiele sind das vom Ministerium für Heimat, Kommunales, Bau und Gleichstellung geförderte Projekt „Mädchen, sicher, inklusiv“ sowie die Aktivitäten des Netzwerks Frauen und Mädchen mit Behinderung/chronischer Erkrankung NRW. Diese und eine Vielzahl anderer Projekte und Initiativen helfen Menschen mit Behinderungen in Fällen aller Formen von Gewalt – und das auch in Zeiten der Corona-Pandemie.
Zur Beantwortung der Kleinen Anfrage wurde in den Kreispolizeibehörden (KPB) eine Abfrage zu Maßnahmen der Gewaltprävention, die sich insbesondere auch an die Zielgruppe Menschen mit Behinderung richten, durchgeführt. Die KPB berichteten über eine Vielzahl unterschiedlicher Präventionsmaßnahmen, welche die Kriminalkommissariate Kriminalprävention/Opferschutz (KK KP/O) auf Anfrage von Trägern, Vereinen und Institutionen z.B. an Förderschulen, in Behinderteneinrichtungen bzw. Behindertenwerkstätten durchführen. Vermittelt werden dabei u.a. Themen wie sexuelle Übergriffe/Missbrauch, Sexting, Cybergrooming, Körperverletzung, Deeskalation und Zivilcourage, Cybermobbing sowie Schutz vor Diebstahl und Trickbetrügereien.