Kleine Anfrage 3690
des Abgeordneten Markus Wagner AfD
Aufarbeitung des Pädophilen-Netzwerks um Helmut Kentler – Wie steht es um NRW?
Die Berliner CDU-Schulsenatorin Katharina Günther-Wünsch stellte am 23. Februar einen neuen Bericht zu den Arbeiten des Psychologen und Sexualforschers Helmut Kentler vor. Dabei untersuchte eine Gruppe von Wissenschaftlern der Universität Heidelberg über mehrere Jahre genau die Arbeit des 2008 verstorbenen Kentler sowie seiner Komplizen. Unter Kentlers weitreichender Beteiligung wurden von den 1970ern bis Anfang der 2000er Jahre Kinder und Jugendliche aus „schwierigen Familienverhältnissen“1 bei Männern in Pflege gegeben, die pädophil veranlagt und teilweise bereits wegen sexuellen Kontakten mit Minderjährigen vorbestraft waren. Die Auswertungen der Akten und Berichte über Gespräche mit Betroffenen beschreiben eine der dunkelsten Zeiten der Kinder- und Jugendpflege. Vor allem diese Taten unter dem Deckmantel eines Experiments laufen zu lassen, sei „zutiefst menschenverachtend“2, wie die Senatorin zu Wort gab.
Kentler hat lange selbst als Psychologe an der Pädagogischen Hochschule in Berlin gearbeitet und sei außerdem Teil der sogenannten Neuen Linken gewesen. Zudem war er starker Verfechter einer „kritisch-emanzipatorischen Sexualpädagogik“3. Sexualerziehung sah Kentler als Teil der politischen Bildung an, wobei darauf abgezielt wurde, „bestehende Normen und Herrschaftsverhältnisse zu verändern“.4
Außerdem versuchte der Sexualpädagoge, der selbst homosexuell war, Kindern und Jugendliche „das Akzeptieren von Begierde und Lust zu ermöglichen“5 und sogar als wesentlichen Bestandteil in die Sexualpädagogik zu integrieren. Auch für eine Legalisierung und gesellschaftliche Akzeptanz von angeblich einvernehmlichen und gewaltfreien sexuellen Beziehungen zwischen Minderjährigen und Erwachsenen setzte sich Kentler ein. Sein Buch „Eltern lernen Sexualerziehung“6 erreichte bis Mitte der 1990er Jahre mehr als 36.000 verkaufte Exemplare. Überdies habe sich Kentler, wie Forscher in diesem Zusammenhang betonen, nicht auf theoretische Szenarien beschränkt, sondern wurde neben der Beihilfe für andere Pädophile auch selbst zum Täter und vergriff sich an Pflegekindern. Dies würde auch auf die Pädagogen Gerold Becker und Herbert Colla-Müller zutreffen, deren Netzwerk bundesweit wirkte und beispielsweise Einrichtungen in Tübingen, Göttingen, Lüneburg und Heppenheim betraf. Dieses kriminelle Vorhaben wurde von Mitarbeitern des Landesjugendamts im damaligen West-Berlin und anderen Pädagogen und Wissenschaftlern mutmaßlich gedeckt. Insbesondere wurde sich dabei bei der Unterbringung von Pflegekindern gegenseitig geholfen.
Durch die nun vorgelegte Studie konnte gezeigt werden, dass durch diese Verstrickung sexualisierte Gewalt an Kindern vertuscht wurde. Fälle, die an die Oberfläche zu gelangen drohten, wurden schnell als Einzelfälle heruntergespielt oder es wurde auf vermeintliche wissenschaftliche Erkenntnisse verwiesen, die es zu gewinnen galt. Wie viele Betroffene es genau gab, konnte nicht ermittelt werden, weshalb der Berliner Senat sowie die Hildesheimer Forscher Betroffene aufforderten, sich zu melden. Bis zu Kentlers Tod im Jahre 2008 wurden die Geschehnisse in keiner Weise aufgearbeitet. Deshalb betonen die Autoren der aktuellen Studie, dass es von großer Bedeutung ist, dass die Fachwissenschaft und auch Verbände wie die Deutsche Gesellschaft für Sexualforschung und die Gesellschaft für Sexualpädagogik das Geschehene aufarbeiten und auch Verantwortung für die damaligen Vorfälle übernehmen.7
Ich frage daher die Landesregierung:
- Wie viele betroffene Kinder und Jugendliche der Experimente Kentlers und seiner Helfer gibt es Schätzungen zufolge in NRW?
- Wie viele Verurteilungen, die in Verbindung zu Pädophilen aus den Netzwerken um Kentler stehen, hat es in NRW gegeben?
- Gab es Verbände oder Vereine aus NRW, die ebenfalls in diese Forschung involviert waren?
- Was gedenkt die Landesregierung zu unternehmen, um die Aufarbeitung der Taten Helmut Kentlers voranzutreiben?
Markus Wagner
2 Ebenda.
3 Ebenda.
4 Ebenda.
5 Ebenda.
6 Ebenda.
7 Ebenda.
Die Ministerin für Kinder, Jugend, Familie, Gleichstellung, Flucht und Integration hat die Kleine Anfrage 3690 mit Schreiben vom 29. Mai 2024 namens der Landesregierung im Einvernehmen mit dem Minister des Innern und dem Minister der Justiz beantwortet.
Vorbemerkung der Landesregierung
Die Arbeitsgemeinschaft der Obersten Landesjugend- und Familienbehörden (AGJF) hatte sich in ihrer Sitzung am 24./25. September 2020 mit dem mündlichen Bericht des Landes Berlin zu den Ergebnissen des ersten Aufarbeitungsberichts „Helmut Kentlers Wirken in der Berliner Kinder- und Jugendhilfe“ der Universität Hildesheim befasst. Die AGJF hatte diesen mündlichen Bericht des Landes Berlin einstimmig zur Kenntnis genommen.
In der nächsten Sitzung der AGJF am 18. März 2021 wurde der weitere Umgang mit den Ergebnissen des Forschungsberichts beraten. In der Folge befasste sich auch die Jugend-und Familienministerkonferenz (JFMK) mit diesem Thema und beschloss im Mai 2021, sowohl die Weiterführung des Aufarbeitungsprozesses mit dem Fokus der Untersuchung von über Berlin hinausgehenden pädophilen Netzwerkstrukturen, die sexuelle Gewalt gegen Kinder sowie pädophile Positionen zu unterstützen und in diesen Aufarbeitungsprozess auch weitere Bundesländer mit einzubeziehen. Die Länder hatten dazu ihre Bereitschaft erklärt. Die Universität Hildesheim war im Zuge des weiteren Aufarbeitungsverfahrens jedoch nicht an das Land Nordrhein-Westfalen herangetreten, sondern hatte ihre Forschungen in Hessen und Niedersachsen durchgeführt. Die Ergebnisse des aktuellen Aufarbeitungsprojektes wurden durch die Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie am 14./15. März 2024 unter TOP 5.17 „Weiterer Umgang mit den Ergebnissen des zweiten Forschungsberichtes zu ‘Helmut Kentlers Wirken in der Berliner Kinder- und Jugendhilfe – Aufarbeitung der organisatorischen Verantwortung des Berliner Landesjugendamtes‘ der Universität Hildesheim“ in die AGJF eingebracht, um eine Fortsetzung der Aufarbeitung in anderen Bundesländern zu empfehlen.
Am 25. April 2024 wurde den Ländern ein Umlaufbeschluss in der AGJF zur Vorlage bei der JFMK zugestellt. Mit diesem wird das Ziel verfolgt, die weitere Aufarbeitung zu befördern.
Das Ergebnis des Umlaufbeschlusses liegt zum Zeitpunkt der Beantwortung der Kleinen Anfrage noch nicht vor.
- Wie viele betroffene Kinder und Jugendliche der Experimente Kentlers und seiner Helfer gibt es Schätzungen zufolge in NRW?
Der Landesregierung liegen hierzu keine Informationen vor.
- Wie viele Verurteilungen, die in Verbindung zu Pädophilen aus den Netzwerken um Kentler stehen, hat es in NRW gegeben?
Der Landesregierung liegen statistische Daten über die Anzahl der Verurteilungen, die in Verbindung zu Pädophilen aus den Netzwerken um Kentler stehen, nicht vor und können auch nicht beschafft werden. Hierzu wäre eine landesweite händische Auswertung aller infrage kommender Verfahrensakten notwendig. Dies ist mit vertretbaren Verwaltungsaufwand nicht leistbar.
- Gab es Verbände oder Vereine aus NRW, die ebenfalls in diese Forschung involviert waren?
Der Landesregierung liegen hierzu keine Informationen vor.
- Was gedenkt die Landesregierung zu unternehmen, um die Aufarbeitung der Taten Helmut Kentlers voranzutreiben?
Es wird auf die Vorbemerkung verwiesen.