Antrag
der Fraktion der AfD
„Chancen-Aufenthaltsrecht“ stoppen – Ausreisepflicht konsequent umsetzen
I. Ausgangslage
Ein Ausländer ist zur Ausreise verpflichtet, wenn er einen erforderlichen Aufenthaltstitel nicht oder nicht mehr besitzt. Der Ausländer hat das Bundesgebiet unverzüglich oder, wenn ihm eine Ausreisefrist gesetzt ist, bis zum Ablauf der Frist zu verlassen. Eine Duldung ist kein Aufenthaltstitel, sondern eine Bescheinigung über die vorübergehende Aussetzung der Abschiebung. Inhaber einer Duldung bleiben auch nach einem langjährigen Aufenthalt in Deutschland ausreisepflichtig.
Diese grundsätzliche Regelung wurde u.a. ab dem 1. Juli 2011 durch die Einführung einer Bleiberechtsregelung für junge Menschen, die eine Duldung besitzen, die „Aufenthaltsgewährung bei gut integrierten Jugendlichen und Heranwachsenden“, (§ 25a AufenthG) aufgeweicht. Dem folgte am 01. August 2015 eine alters- und stichtagsunabhängige Bleiberechtsregelung für nachhaltig integrierte Ausländer mit unsicherer Bleibeperspektive (§ 25b Auf-enthG).
Zum Stichtag am 31. Dezember 2021 befanden sich 4.643 Personen mit einem Aufenthaltstitel gem. § 25a AufenthG und 3.680 Personen mit einem Aufenthaltstitel gem. § 25b AufenthG in Nordrhein-Westfalen.1 Dem standen zum damaligen Zeitpunkt 73.926 ausreisepflichtige Personen, davon 64.176 Personen mit einer Duldung, gegenüber.2
Um die Voraussetzungen zur Erlangung eines Aufenthaltsrechts gem. § 25b AufenthG zu erleichtern, veröffentlichte das MKFFI am 25. März 2019 entsprechende Anwendungshinweise, die seitdem Anwendung finden.3
Nachhaltige Integrationsleistungen, die trotz des fehlenden rechtmäßigen Aufenthalts von einem Geduldeten erbracht werden, sollen durch die Erteilung eines Aufenthaltstitels gewürdigt werden. Die rechtlich unverbindlichen Anwendungshinweise des Bundes wurden teilweise übernommen bzw. ergänzt und modifiziert. Die Entscheidungsspielräume für die kommunalen Ausländerbehörden wurden konkretisiert.
So kann die eigentlich vorgesehene Voraufenthaltsdauer von 8 Jahren bei sogenannten „besonderen Integrationsleistungen“ um bis zu 2 Jahre reduziert werden. Beim Bekenntnis zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung ist auf den Bildungsstand, die Lebensumstände und die sprachlichen Verständigungsmöglichkeiten Rücksicht zu nehmen. Zum Nachweis der Grundkenntnisse der Rechts- und Gesellschaftsordnung soll der Nachweis des Tests „Leben in Deutschland“ als Abschluss des Orientierungskurses ausreichen. Alternativ reicht bereits ein Gespräch bei der Ausländerbehörde auf dem Sprachniveau A2 (zweitunterste Stufe von sechs Kompetenzstufen gem. „Gemeinsamer Europäischen Referenzrahmen für Sprachen“)4 aus.
Der Lebensunterhalt ist überwiegend durch Erwerbstätigkeit zu sichern, was bereits bei einem Einkommen aus ausgeübter Erwerbstätigkeit in Höhe von 51 Prozent des zu berücksichtigenden Regelsatzes des § 22 SGB II plus Mietkosten der Fall ist. Selbst eine positive Prognose, dass dieses geringe Einkommensniveau „vermutlich“ noch erreicht wird, reicht aus. Selbst der vorübergehende Bezug von Sozialleistungen kann unschädlich sein. Als Regelvoraussetzung für das Vorliegen hinreichender mündlicher Deutschkenntnisse ist ebenfalls bereits das Sprachniveau A2 ausreichend. Liegt kein Sprachzertifikat vor, reicht ein „einfaches Gespräch“ bei der Ausländerbehörde ohne Zuhilfenahme eines Dolmetschers.
Selbst die Passpflicht nach § 3 AufenthG wurde aufgeweicht. Scheitern die Bemühungen, kann ein Reiseausweis oder Passersatz in Deutschland ausgestellt werden, mit dem die Passpflicht dann erfüllt ist. Diese Möglichkeit der „Identitätsklärung nach Ermessen“ birgt die Gefahr, dass dieses Ermessen auf dem Klageweg erstritten wird. Selbst in der Vergangenheit begangene Täuschungshandlungen, z.B. bei der Identitätsfeststellung, können durch „besondere Integrationsleistungen“ kompensiert werden. Auch „eine geringfügige Straffälligkeit“ kann letztendlich unberücksichtigt bleiben.
Worin zusammenfassend bei diesen geringen und teils skurril wirkenden Voraussetzungen die nachhaltige Integration geduldeter Ausländer nach mehreren Jahren des Aufenthalts bestehen soll, bleibt offen. Aufschlussreich ist zudem die geringe Personenzahl mit einem entsprechenden Aufenthaltstitel in NRW, was insbesondere berechtigte Fragen zum Personenkreis der übrigen Geduldeten aufwirft.
Wie aus dem Gesetzentwurf der Bundesregierung zum Chancen-Aufenthaltsrecht5 (§ 104c Auf-enthG) vom 6. Juli 2022 hervorgeht, sollen Menschen, die am 01. Januar 2022 seit 5 Jahren geduldet, gestattet oder mit einer Aufenthaltserlaubnis in Deutschland leben, jetzt ein sogenanntes einjähriges Chancen-Aufenthaltsrecht erhalten, um die oben aufgeführten geringen Anforderungen an ein Bleiberecht im 6. Jahr des Aufenthalts dann endlich doch noch zu erfüllen. Dabei sollen ein bisher ungesicherter Lebensunterhalt, eine ungeklärte Identität und Staatsangehörigkeit sowie eine Nichterfüllung der Passpflicht unschädlich sein.
Somit werden sogar die Zeiten angerechnet, in denen lediglich eine Duldung mit dem Zusatz „für Personen mit ungeklärter Identität“ (§ 60b AufenthG) ausgestellt war, also Fälle, in denen „die Abschiebung aus von der abzuschiebenden Person selbst zu vertretenden Gründen nicht vollzogen werden konnte, weil er das Abschiebungshindernis durch eigene Täuschung über seine Identität oder Staatsangehörigkeit oder durch eigene falsche Angaben selbst herbeiführt hat oder zumutbare Handlungen zur Erfüllung der besonderen Passbeschaffungspflicht nicht vorgenommen wurden“.6 Hiermit soll angeblich der Gedanke des Chancen-Aufenthaltsrechts „konsequent fortentwickelt“ werden, ähnlich wie bei der Tolerierung der „kurzfristigen Unterbrechung“ des Aufenthalts im Bundesgebiet von bis zu 3 Monaten. In Wahrheit sendet man hiermit vielmehr ein falsches, geradezu belohnendes Signal an diejenigen, die sich einer Identitätsklärung bisher verweigert haben, und höhlt die Wirkung des § 60b AufenthG komplett aus.
Viel zu unspezifisch sind die Versagungsgründe gem. § 104c Abs. 1 Nr. 2 AufenthG des Gesetzentwurfs bezüglich bisher vorsätzlich begangener Straftaten. Schlussendlich soll der Ausländer mit Hilfe eines Merkblatts auch noch „nannyhaft“ dazu „motiviert“ werden, Selbstverständliches zu leisten, nämlich die vorgegebenen Anforderungen zu erfüllen.
Eine Nichterfüllung der – ohnehin schon geringen – Anforderungen nach einem Jahr würde dabei allerdings nicht zu einer Abschiebung der geduldet ausreisepflichtigen Person führen, sondern lediglich zu einem Rückfall in den Status der Duldung bzw. Kettenduldung.
Aus „Heranwachsenden“ werden im Gesetzentwurf der Bundesregierung „junge Volljährige“, verbunden mit einer Ausdehnung der erleichterten Regelung nach § 25a AufenthG bis zum 27. statt zuvor bis zum 21. Lebensjahr. Statt der Zielsetzung des § 25a AufenthG folgend „gut integrierte Jugendliche und Heranwachsende“ zu begünstigen, sollen jetzt jüngere Ausländer – mit willkürlich heraufgesetzter Altersgrenze – begünstigt werden, die sich seit längerer Zeit im Bundesgebiet aufhalten. Zudem sollen in diesem Zusammenhang die – zur Erlangung eines Aufenthaltsrechts – erforderlichen Voraufenthaltszeiten bei Jugendlichen um ein Jahr (§ 25a AufenthG) bzw. um zwei Jahre (§ 25b AufenthG) bundesgesetzlich reduziert werden.
Die geringen Anforderungen sollen jetzt also wesentlich schneller erreicht werden, was bei konsequenter Prüfung der Ausländerbehörden unrealistisch erscheint, es sei denn, dass die Bleibe-rechtsregelung zukünftig noch weiter (als eh schon) aufgeweicht wird. Irritierend ist die Einschätzung der Bundesregierung, dass die vorgesehene Regelung angeblich gesamtstaatlich nicht mit weitergehenden Belastungen für die Wirtschaft und die sozialen Sicherungssysteme verbunden sei, obwohl doch bei den vorgegebenen minimalen Voraussetzungen die Diskrepanz zu einer erwünschten qualifizierten Fachkräftezuwanderung nicht größer sein könnte.
Da die Landesregierung NRW das Gesetzgebungsverfahren auf Bundesebene nicht abwarten konnte, erging am 15. Juli über die Bezirksregierungen ein (Vorgriffs-)Erlass an die Ausländerbehörden sowie an die Zentralstelle für Fachkräfteeinwanderung.7 Darin wird im Zusammenhang mit den Neuregelungen zum Chancen-Aufenthaltsrecht den Ausländerbehörden angeraten, bereits jetzt – eigentlich absehbare und vorgesehene – Aufenthaltsbeendigungen rückzupriorisieren. Anders ausgedrückt, es sollen selbst die wenigen Fälle einer möglichen Abschiebung einer ausreis-pflichtigen Person noch verhindert werden. Die Intention des Erlasses bleibt dem rechtstreuen Bürger unergründlich.
Gemeinsames Ziel der Landesregierung sei es, „humanitäre und aufenthaltsrechtliche Möglichkeiten zum Bleiberecht so zu nutzen, dass gut integrierte geduldete Menschen, die seit Jahren bei uns in Nordrhein-Westfalen leben, eine dauerhafte Bleibeperspektive bekommen.“8 Genau diese Voraussetzung, die „gute Integration“, ist aber doch gerade bei der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach dem Chancen-Aufenthaltsrecht nicht vorhanden. Euphemistisch spricht die Landesregierung vom Ziel einer angeblichen „Modernisierung des
Tragen Geduldete nicht zur Klärung ihrer Identität bei, wird der Zeitraum der Duldung nicht für ein Bleiberecht angerechnet.“
Aufenthaltsgesetzes“ in Nordrhein-Westfalen, meint aber doch in Wahrheit das Einreißen aller bisherigen Regeln und Hürden.
Ministerin Josefine Paul sagt: „Wir möchten gerade den Menschen, die seit Jahren – mitunter seit über zwei Jahrzehnten – bei uns leben und sich gut integriert haben, aber dennoch nur einen unsicheren und belastenden Duldungsstatus haben, faire Bleibeperspektiven geben, um dauerhaft bei uns in Nordrhein-Westfalen zu leben und arbeiten zu können. Diese Menschen bereichern Nordrhein-Westfalen, auch weil wir alle Potenziale angesichts des Fachkräftemangels brauchen.“9
Es stellen sich hier die Fragen, warum Menschen, die mitunter seit über zwei Jahrzehnten in Deutschland leben, trotz zahlreicher staatlicher Integrationsangebote die minimalen Voraussetzungen gem. § 25b AufenthG immer noch nicht erfüllen und inwiefern dadurch Potentiale angesichts des Fachkräftemangels gehoben werden sollen. Unabhängig vom Nicht-Nachkommen der Ausreisepflicht scheinen hier doch erhebliche Defizite für eine Einstufung als „qualifizierte Zuwanderer“ zu bestehen. All das wird allerdings – wie bereits unter dem vorherigen nordrhein-westfälischen Integrationsminister Dr. Stamp (FDP) – komplett ignoriert. Die Unterschiede zwischen Schutz auf Zeit und qualifizierter Zuwanderung auf Dauer werden somit immer weiter verwischt.
Wie Bundesinnenministerin Faeser auf WELT-Rückfrage eingestehen musste, bezieht sich die Frist von 5 Jahren auf Geduldete, die seit fünf Jahren im Land leben und nicht auf seit 5 Jahren Geduldete, was ein entscheidender Unterschied ist, da so die Zeit des Asylverfahrens angerechnet wird. So können aktuell geduldete Personen – im Falle eines langwierigen Asylverfahrens – den Duldungsstatus ggf. erst seit 4 Jahren (oder seit noch kürzerer Zeit) besitzen.
Es wird vermutet, dass sich die Statistik der Ausreisepflichtigen mit dem neuen Chancen-Aufenthaltsrecht zumindest vorübergehend, von bundesweit ca. 300.000 auf 200.000 Personen, schönen lässt. Zu Recht stellt man fest, dass mit der Erteilung des einjährigen Aufenthaltstitels die Ausreisepflicht zwar temporär erlischt, aber von einer guten bisherigen Integration der Betroffenen keine Rede sein kann.10
Mit der im Gesetzentwurf vorgesehenen Öffnung der Integrationskurse auch für unerlaubt eingereiste Personen aus Staaten ohne Verfolgung werden weitere, neue und für die Allgemeinheit wenig wertstiftende Jobs geschaffen. Das Personal sollte an anderer Stelle effizienter eingesetzt werden, z.B. bei der sprachlichen Integration qualifizierter Zuwanderer und deren Familien. Außerdem gesteht die Bundesregierung indirekt ein, dass auf eine eigentlich vorübergehende Duldung in der Regel keine Abschiebung folgen soll. Das bisherige Asylverfahren wird damit von der Regierung delegitimiert und quasi überflüssig, da fast jeder, der es irgendwie nach Deutschland schafft, doch in Wahrheit bleiben soll. Daraus ergeben sich Pull-Effekte für eine weitere Migration in unsere Sozialsysteme, die angesichts der wirtschaftlich und sozial schwierigen Lage, unser Zusammenleben zu überfordern droht.
II. Der Landtag stellt fest:
- Das geplante Chancen-Aufenthaltsrecht trägt zur weiteren Verfestigung des Aufenthalts ausreisepflichtiger Personen bei;
- trotz geringer Hürden zur Erlangung eines Aufenthaltstitels hat in der Vergangenheit nur ein geringer Teil der Ausreisepflichtigen einen Aufenthaltstitel als „gut integrierter Ausländer“ gem. § 25a und 25b AufenthG erhalten;
- der aktuell mit einem derartigen Aufenthaltstitel ausgestattete Personenkreis trägt im Regelfall nicht zur Verringerung des Fachkräftemangels bei;
- Personen, die seit vielen Jahren in Deutschland leben und bisher nicht in der Lage waren, die geringen Anforderungen zu erfüllen, werden voraussichtlich auch bei einem weiteren Aufweichen der Bleiberechtsregelungen grundsätzlich nicht zu einer wesentlichen Mehrung des Wohlstands in Deutschland beitragen;
- die Grundintention des Aufenthaltsrechts, nämlich die Steuerung und Begrenzung des Zuzugs von Ausländern in die Bundesrepublik Deutschland11, wird endgültig ad absurdum geführt und ausgehebelt;
- mit dem Chancen-Aufenthaltsrecht wird eine dauerhafte Legalisierung der illegalen Einreise implementiert, verbunden mit weiteren Pull-Effekten;
- die Belastung der Sozialsysteme wird sich weiter deutlich erhöhen.
III. Der Landtag fordert die Landesregierung auf,
- sich auf Bundesebene für eine Rücknahme bzw. Ablehnung des Gesetzentwurfs zum Chancen-Aufenthaltsrecht einzusetzen;
- sich im Rahmen einer Bundesratsinitiative für eine grundlegende Überarbeitung (deutliche Verschärfung der Voraussetzungen) bzw. vollständige Streichung der Bleiberechts-regelungen für „gut integrierte“, aber eben doch ausreisepflichtige Personen gem. § 25a und § 25b AufenthG einzusetzen;
- sich entschieden dafür einzusetzen, dass vollziehbar Ausreisepflichtige bevorzugt freiwillig ausreisen oder bei Weigerung umgehend zurückgeführt werden, und
- sich auf Landes- und Bundesebene für eine wirksame Abschiebeinitiative für ausreisepflichtige Personen einzusetzen.
Enxhi Seli-Zacharias
Christian Loose
Dr. Martin Vincentz
Andreas Keith
und Fraktion
1 Vgl. Lt.-Drucksache 17/16427.
2 Vgl. Lt.-Vorlage 17/6541, Sachstandsbericht staatliches Asylsystem für das 4. Quartal 2021.
3 Vgl. Lt.-Vorlage 17/1879.
4 Vgl. https://europaeischer-referenzrahmen.de/sprachniveau.php. Das vom Europarat verabschiedete Papier kann im englischen Original hier abgerufen werden: https://www.coe.int/en/web/common-euro-pean-framework-reference-languages.
6 Hierbei besteht ein Widerspruch zu § 104c Abs. 1 S. 2 AufenthG (gem. Kabinettentwurf) sowie zum
Koalitionsvertrag der Bundesregierung, S. 138 letzter Absatz: „Die „Duldung light“ schaffen wir ab.
7 Vgl. https://www.mkffi.nrw/system/files/media/document/file/220715_mkjfgfi_bleiberechte.pdf.
9 Ebenda.
11 Vgl. § 1 Abs. 1 AufenthG.