Fachkräftewende schaffen: Offensive für Berufliche Bildung

Antrag

Antrag
der Fraktion der AfD

Fachkräftewende schaffen: Offensive für Berufliche Bildung

I. Ausgangslage

Die Krise der beruflichen Bildung geht dem allgemein beklagten Fachkräftemangel voraus. Politische Weichenstellungen, aber auch ein gesellschaftliches Klima haben zur faktischen Abwertung der Berufsausbildung und einer unverhältnismäßigen Aufwertung akademischer Bildungswege geführt. Das deutsche Bildungswesen leidet unter dieser Schieflage und hat die Orientierung am Bedarf des Arbeitsmarktes verloren. Die Folge ist ein erheblicher Fachkräfte­mangel bei gleichzeitigen Rekord-Immatrikulationszahlen und einer ungebremsten Ausdiffe­renzierung von Nischen-Studiengängen an Universitäten.

In ihrem letzten Fachkräftereport 2019 beziffert die IHK NRW den landesweiten Fachkräf­teengpass auf 447.000 Stellen.1 Der Fachkräftemangel geht quer durch alle Berufszweige, trifft aber insbesondere die MINT-Branchen, den Dienstleistungssektor, aber auch die Berei­che Erziehung und Pflege sowie das Ausbildungswesen selbst. Der Bedarf an zu besetzenden Stellen in der Pflege wurde seitens des Gesundheitsministeriums zuletzt auf 23.700 beziffert.2 Im Handwerk lag die Fachkräftelücke im Vorjahr bei über 12.000 nicht besetzten Stellen, was einer durchschnittlichen Stellenüberhangsquote von 31,8 Prozent entsprach.3 In einzelnen Handwerkssparten wie der Bauelektrik, dem Innenausbau sowie dem Sanitär- und Heizungs­bau fällt diese Diskrepanz noch erheblich größer aus.4

Die besondere Brisanz des Fachkräftemangels liegt in der Dynamik seiner Entfaltung. Für 2030 prognostiziert die IHK NRW eine Verschärfung der Fachkräfte-Unterversorgung der NRW-Wirtschaft von gegenwärtig 447.000 auf 735.000.5 Dabei spielt die Demografie eine be­deutende Rolle: Im Handwerk sind 36 Prozent der Beschäftigten über 50 Jahre alt.6 Das ab­sehbare Ausscheiden der „Babyboomer“ aus dem Arbeitsmarkt verstärkt die bestehende Ten­denz.

Die Situation des Fachkräftemangels sowie ihre negativen Auswirkungen auf Wirtschaft, Wohl­stand, Innovationskraft und internationale Wettbewerbsfähigkeit finden inzwischen auf politi­scher Ebene späte Resonanz.7 Den verantwortlichen Parteien wird dabei allmählich bewusst, dass auch die von ihnen angestrebte energetische Transformation ohne einen leistungsstar­ken Handwerkssektor nicht zu bewältigen ist. Dabei ist auffallend, dass das Defizit an Auszu­bildenden, das dem Fachkräftemangel vorangeht, kaum mit der überbordenden Akademisie-rungsquote in Beziehung gesetzt wird. Die etablierte Politik hat die Hochschulbildung bis in die jüngste Zeit faktisch zum entscheidenden Maßstab für Bildungserfolg gesetzt; das berufliche Ausbildungswesen schien seinem akademischen Pendant untergeordnet. Dieses Ungleichge­wicht spiegeln die Zahlen des Ausbildungs- und Hochschulnachwuchses.

Laut DIHK konnten im Jahr 2021 42 Prozent aller Ausbildungsbetriebe nicht alle angebotenen Ausbildungsplätze besetzen, was einem Anstieg um 10 Prozent im Vergleich zu 2018 und einem Negativrekord entspricht.8 Die Zahl der Vertragsneuabschlüsse lag im Vorjahr bei 466.176 und damit um 17,4 Prozent niedriger als vor zehn Jahren. Die Zahl der Auszubilden­den ist im selben Zeitraum um 12 Prozent zurückgegangen.9 Die Nachwuchssorgen bei der Berufsausbildung stehen in direktem Zusammenhang mit der künstlich hochgetriebenen Stu-dierneigung junger Menschen. So begannen im Jahr 2020 erstmals mehr Menschen ein Hoch­schulstudium als eine Berufsausbildung.10 Gegenwärtig sind knapp 3 Millionen Studenten an deutschen Universitäten eingeschrieben, was einer Zunahme von 30 Prozent seit 2007/2008 und einem Allzeithoch entspricht.11 Dies korreliert mit einer immer kleinteiligeren und exoti­scheren Ausdifferenzierung des Studierangebots auf inzwischen über 20.000 immer weniger am Marktbedarf orientierten Studiengängen.

Die Überakademisierung untergräbt de facto die Idee des mehrgliedrigen Schulsystems. Fol­gen sind die Abwertung sogenannter mittlerer Bildungsabschlüsse und die auf Quantität fi­xierte Abitur-Inflation. Diese hat proportional zum Zulauf an Hochschulen keine hinreichende Anhebung der allgemeinen Studierfähigkeit bewirkt, was sich an hohen Studienfachwechsel-und Studienabbruchquoten zeigt. Die Abbruchquote im Bachelorstudium liegt inzwischen bei ca. einem Drittel, im Master bei einem Fünftel.12 Allein für den Bachelor-Jahrgang 2016 rechnet das Deutsche Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DHZW) mit 106.000 Stu-dienabbrechern.13 Auf mehrere Jahre gesehen wird an deutschen Universitäten das Potenzial hunderttausender junger Menschen vergeudet. Nach Jahren erfolglosen Studiums führt der Weg häufig verspätet zurück zum Ausbildungsmarkt. Bereits ein halbes Jahr nach Exmatriku­lation haben über 40 Prozent der Studienabbrecher eine Berufsausbildung aufgenommen14 – ein Umweg, der der Wirtschaft, dem Rentensystem und nicht zuletzt den jungen Menschen selbst schadet.

Eine hohe Akademisierungsquote allein garantiert keineswegs einen wohlstandsfördernden Effekt in der Gesellschaft. Wenn diese mit der Entwertung höherer Bildungszertifikate und ei­ner Beschleunigung des Fachkräftemangels in essenziellen nicht-akademischen Berufszwei­gen verbunden ist, wie im Falle Deutschlands, trifft sogar das Gegenteil zu.

Voraussetzung für eine Fachkräftewende ist daher der Abschied vom Paradigma des Studi­ums als der vermeintlich prestigeträchtigeren Bildungsform und die Herstellung einer echten Gleichwertigkeit zwischen Ausbildung und Studium. Die duale Ausbildung ist das Fundament des Mittelstandes, der die Achse des deutschen Wohlstandes ist. Nachwuchsmangel, aber auch unterbrochene Lieferketten, steigende Energiepreise und überbordende Bürokratie brin­gen diese Achse an die Grenze ihrer Belastbarkeit: Nur noch 10 Prozent der Handwerksbe­triebe erwarten laut dem aktuellen Konjunkturbericht des Zentralverbands des Handwerks (ZDH) eine bessere Geschäftsentwicklung in den nächsten Monaten, während beinahe vier­mal so viele von einer Verschlechterung ausgehen (39 Prozent).15

II. Der Landtag stellt fest:

  • Der Fachkräftemangel steht in direktem Zusammenhang mit der übermäßigen Stu-dierneigung junger Menschen. Die Überakademisierung gräbt der dualen Berufsausbil­dung den Nachwuchs ab und geht am Bedarf der Wirtschaft vorbei.
  • Politische Maßnahmen zur Behebung des Fachkräftemangels haben diesem Missver­hältnis Rechnung zu tragen und eine vollumfängliche Gleichrangigkeit zwischen Studium und Ausbildung auf allen Ebenen herbeizuführen.
  • Das duale Ausbildungssystem ist das Fundament des Mittelstandes. Der Mittelstand ist die Achse der Wirtschaft. Die Stärkung der Berufsausbildung ist Voraussetzung für die Zukunftsfähigkeit der nordrhein-westfälischen Wirtschaft und Wohlfahrt.

III. Der Landtag fordert die Landesregierung auf,

  • die elementare Bedeutung des ausbildenden Mittelstandes als Rückgrat der nordrhein-westfälischen Wirtschaft und Wohlfahrt in Artikel 28 der Landesverfassung explizit zu verankern;
  • sich zum besonderen Wert der Realschule und Mittlerer Schulabschlüsse als tragende Pfeiler der vorberuflichen Bildung zu bekennen;
  • öffentlichkeitswirksame Maßnahmen zu ergreifen, um die Attraktivität der dualen Berufs­ausbildung in der gesellschaftlichen Wahrnehmung zu steigern;
  • das Informationsangebot zu beruflicher Bildung in der Sekundarstufe I an allen Schulfor­men sowie in der gymnasialen Oberstufe umfassend auszuweiten und dies mit Berufs­verbänden, Handwerkskammern, Ausbildungsbetrieben und Fachhochschulen zu ver­zahnen;
  • die Dauer der Pflichtpraktika in der Sekundarstufe I an allen Schulformen zu erhöhen und eine einwöchige „Handwerksmesse“ zu implementieren, in der sich diverse Hand­werksberufe in den Schulen vorstellen können;
  • vermehrt praxisnahe Potenzialanalysen in Sekundarstufe I und gymnasialer Oberstufe einzuführen, um gezielt Interessen und Stärken der Schüler für spezifische Ausbildungs­berufe zu ermitteln;
  • öffentlichkeitswirksame Maßnahmen zu ergreifen, um Schüler zu Ferienpraktika zu mo­tivieren;
  • auf Bundesebene die Dringlichkeit einer Strategie zur Ausbildung und Anwerbung von Lehrkräften und Seiteneinsteigern für das Berufskolleg mit bundesweit einheitlichen Standards zu kommunizieren;
  • finanzielle Anreize zu schaffen, um Lehrer an der Grenze zum Pensionsalter länger zu halten, Teilzeitkräfte zur Aufstockung ihres Stundenkontingents zu motivieren sowie ver­mehrt Seiten-, Quer- und Direkteinsteiger aus der freien Wirtschaft anzuwerben;
  • hinreichend Personal bereitzustellen, um eine maximale Bearbeitungsfrist von zwei Ka­lendermonaten für das Aufstiegs-BAföG zu gewährleisten;
  • eine Meisterprämie i. H. v. 3.000 Euro einzuführen, die nicht nur auf das Handwerk, sondern auf sämtliche Abschlüsse auf Meisterebene abzielt;
  • Bauprojekte zur Schaffung von Wohnraum für Auszubildende äquivalent zur öffentlichen Förderung von Studentenwohnheimen in gleichem Maße fördern;
  • auf gleiche Vergünstigungen für Auszubildende im Kulturbereich hinzuwirken, wie sie für Studenten bereits bestehen;
  • die Bedingungen für die Aufnahme einer Berufsausbildung für Über-30-Jährige attrakti­ver zu gestalten, um den Ausbildungsbereich bedarfsgerecht zu flexibilisieren (z. B. als Alternative zu einer Umschulung);
  • bereits bestehende modulare Weiterbildungsangebote (z. B. IHK-Teilqualifizierungen) praxisnäher und für Bildungsträger einfacher umsetzbar zu gestalten, damit finanzielle Aspekte oder Mindestteilnehmerzahlen einer modularen Weiterbildung nicht im Wege stehen und um die Vervollständigung im Ausland erlangter Qualifikationen zu einem voll­wertigen Berufsabschluss in Deutschland zu erleichtern.

Carlo Clemens
Dr. Hartmut Beucker
Dr. Martin Vincentz
Andreas Keith

und Fraktion

 

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1 Vgl. IHK NRW: Fachkräftereport 2019, S. 4. Online unter: htt ps:// w w w . i h k – n r w . d e / b l u e p r i n t / s e r v l et/resource/blob/5189090/dd7dc1942a06e738405dc5b5bd49c466/2019-ihk-nrw-fach-kraeftereport-data.pdf.

2 Landesberichterstattung Gesundheitsberufe Nordrhein-Westfalen 2019: Situation der Ausbildung und Beschäftigung, S. 85.

3 Vgl. KOFA-Studie 2/2022: Fachkräftemangel im Handwerk in NRW. Risiken und Optionen für die Fachkräftesicherung, S. 12.

4 Vgl. ebd., S. 16.

5 Vgl. IHK NRW: Fachkräftereport 2019, S. 4

6 Vgl. KOFA-Studie 2/2022, S. 5.

7 Bspw. Drucksache 18/1353 oder „Aachener Erklärung“ der CDU.

8 Vgl. DIHK-Ausbildungsumfrage 2022: Duale Ausbildung vor großen Herausforderungen. Online un­ter: htt ps:// w w w . d i h k . d e / d e / t h e m e n – u n d – p o s it i o n en /fachkraefte/aus-und-wei-terbildung/ausbildung/ausbildungsumfrage-22.

9 Vgl. Statistisches Bundesamt: Duale Berufsausbildung: Zahl neuer Ausbildungsverträge 2021 weiter auf historisch niedrigem Niveau. Online unter: htt ps:// w w w . d e s t a t i s . d e /D E / P r e s s e /Pressemitteilungen/2022/08/PD22_363_212 . h tml.

10 Demografieportal. Abrufbar: htt ps:// w w w . d e m o g r a f i e – p o r t a l . d e / D E / F akten/aus-bildung-studium-anfaenger.html.

11 Vgl. Statistisches Bundesamt: Bildung, Forschung, Kultur. Hochschulen. Online unter: htt ps:// w w w . d e s t a t i s . d e / D E / T h e m e n /Gesellschaft-Umwelt/Bildung-Forschung-Kultur/Hochschu-len/_inhalt.html.

12 Vgl. DZHW-Brief: Die Entwicklung der Studienabbruchquoten in Deutschland (DZHW Brief 05/2022). S. 5, 9. Online unter: htt ps:// w w w . d z h w . e u / p u b l i k a t io-nen/pub_show?pub_id=7922&pub_type=kbr.

13 Vgl. ebd., S. 4 f.

14 Vgl. DZHW-Forum Hochschule. Zwischen Studienerwartungen und Studienwirklichkeit, S. 217. On­line unter: htt ps:// w w w . d z h w . e u / p d f / p u b _fh/fh-201701.pdf.

15 Vgl. ZDH-Konjunkturbericht 2/2022. Online unter: htt p s : / / w w w . z d h . d e / u e b e r – u n s /fachbereich-wirtschaft-energie-umwelt/konjunkturberichte/zdh-konjunkturbericht-2/2022/.