70 Jahre Grundgesetz – ein Glücksfall deutscher Verfassungsgeschichte

Antrag
vom 14.05.2019

Antragder AfD-Fraktion vom 14.05.2019

 

70 Jahre Grundgesetz – ein Glücksfall deutscher Verfassungsgeschichte

I. Ausgangslage

„Der Parlamentarische Rat hat am 23. Mai 1949 in Bonn am Rhein in öffentlicher Sitzung festgestellt, dass das am 8. Mai des Jahres 1949 vom Parlamentarischen Rat beschlossene Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland in der Woche vom 16. bis 22. Mai 1949 durch die Volksvertretungen von mehr als Zweidritteln der beteiligten deutschen Länder angenommen worden ist. Auf Grund dieser Feststellung hat der Parlamentarische Rat, vertreten durch seine Präsidenten, das Grundgesetz ausgefertigt und verkündet. Das Grundgesetz wird hiermit gemäß Artikel 145 Abs. 3 im Bundesgesetzblatt veröffentlicht.“

So nüchtern beginnt in der Eingangsformel das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland. Es stellt, auch wenn der Name ein anderer ist, die Verfassung unseres Staates, die Grundlage unseres politischen Zusammenlebens dar.

Heute wird das Grundgesetz 70 Jahre alt. Das Grundgesetz ist das wichtigste Dokument unseres demokratischen Selbstverständnisses und die freiheitlichste Verfassung, die Deutschland in seiner Geschichte je hatte.1

Die Verfasser des Grundgesetzes orientierten sich dabei in besonderer Weise an den Lehren, die man aus den schrecklichen Erfahrungen der zurückliegenden faschistischen Diktatur ziehen konnte. Die nationalsozialistische Regierung hatte aus eigenen Antrieb heraus einen Weltkrieg entfacht, der nach Millionen von Toten und riesigen Zerstörungen in bedingungsloser Kapitulation endete. Und viele Deutsche hatten sich persönlich mit schwerster Schuld beladen. Resultat dieser vollkommenen Niederlage war die Teilung Deutschlands. Unter diesen problematischen Bedingungen sollte zunächst für das westdeutsche Gemeinwesen eine vorläufige Rechtsgrundlage zur Regelung staatlichen Handelns geschaffen werden. Die Verfasser des Textes sahen das Grundgesetz als Provisorium, das bis zu einer von allen Deutschen angenommenen Verfassung eines wiedervereinigten Deutschlands Bestand haben sollte.

Doch hat dieses Provisorium überdauert. Ein Grund dafür mag auch sein, dass sein Regelungsanspruch zu Beginn deutlich begrenzt war – die Väter und Mütter der Verfassung wollten eine Grundlage für den staatlichen Wiederaufbau Deutschlands schaffen, aber nicht jedes Detail festschreiben. So war die Anpassung an veränderte Rahmenbedingungen deutlich erleichtert. Doch greift es wesentlich zu kurz, den Erfolg des Grundgesetzes lediglich in wichtigen, aber letztlich doch formalen Äußerlichkeiten begründet zu sehen.

Denn es waren und sind die inhaltlichen Grundentscheidungen, die unserer Verfassung die Bewährung im politischen und gesellschaftlichen Alltag, aber auch angesichts der großen Fragen der Zeit sicherten. Sie sicherten sie so sehr, dass geradezu von einer großen Zukunfts-Offenheit des Grundgesetzes gesprochen werden kann.

Die Grundentscheidungen beginnen mit dem klaren Ausgangspunkt des Grundgesetzes: dem Menschen mit seiner Würde als zugleich eigenverantwortlichem und sozial gebundenem Wesen.

Die Verfasser des Grundgesetzes waren weiter gewillt, Deutschland mit liberalen Freiheitsrechten, als Sozialstaat und als Rechtsstaat in die Zivilisation zurückzuführen.

Für die Grundrechte nahmen sie in verfassungskontinuitärer Weise deutliche Anleihen bei der Verfassung, die 1848 die Frankfurter Paulskirchen-Versammlung ausarbeitete. Auch damit bewies man eine glückliche Hand: Die Grundrechte erweisen sich als in sich zukunftsfest, weil sie, wie der gesamte Verfassungstext in deutlich zurückgenommener Sprache formuliert sind, aber auch, weil sie in der Tat die Grundfreiheiten des Menschen im Staate umfassend und ausnahmslos in den Blick nehmen.

Der Sozialstaat hat für eine gerechte Sozialordnung zu sorgen und trägt dabei eine grundsätzliche Verantwortung für den Schutz der sozial Schwachen.

Die Staatsgewalt der Bundesrepublik Deutschland wird also durch die Festlegung auf den Rechtsstaat gebunden. Denn sowohl die Legislative als auch die Verwaltung und Rechtsprechung sind bei ihren Entscheidungen auf die Grundsätze der Verfassung verpflichtet. Diese Grundsätze gehen davon aus und sichern ab, dass staatliche Macht nach den Vorgaben und in den Grenzen des Rechts organisiert ist und ausgeübt wird. Dieser zentrale Teil der rechtlichen Bindung der vom GG verfassten Staatsgewalt ist auch in klarer Absetzung vom NS-Unrechtsregime so formuliert worden. Das führt zu zwei Leitformeln des Grundgesetzes: Es gewährt Freiheit, denn ohne Freiheit kein Recht, und es gewährt Recht, denn ohne Recht kein Staat.

Hinter dem grundgesetzlichen Konzept der Demokratie stand auch die Ablehnung der Verfassungskonzepte einer Volks- oder Rätedemokratie nach dem Vorbild der kommunistischen Staaten des Ostblocks. Zugleich wurden die Grundsätze der Repräsentation sowie der parlamentarischen Verantwortung der Regierung akzeptiert. Zum einen enthält Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG das Prinzip der Volkssouveränität, indem die Herleitung aller Staatsgewalt vom Staatsvolk statuiert wird. Zum anderen hält Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG zwar die Möglichkeit offen, dass das Staatsvolk die von ihm ausgehende Staatsgewalt selbst ausübt, geht aber im Grundsatz von der Ausübung der Staatsgewalt durch demokratisch legitimierte Staatsorgane aus und enthält damit den Grundsatz der mittelbaren bzw. repräsentativen Demokratie. Die Demokratie und die Volkssouveränität, die das Grundgesetz meint, ist demnach demokratische Volkssouveränität in der grundsätzlichen Ausübung durch demokratisch legitimierte Staatsorgane. Gleichwohl ist es aber zur Belebung der Demokratie denkbar, plebiszitären Elementen in der Verfassung mehr Raum zu geben.

Auf diese Weise und schon durch die äußerliche Zusammenfassung in einem Artikel sind in Deutschland Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in untrennbarem Zusammenhang miteinander verschränkt.“

Nicht zu vergessen und weltweit einzigartig ist die Rolle des Verfassungsgerichtes, das die Macht der Politik begrenzen kann, obwohl es nicht demokratisch legitimiert ist. Es bildet eines der vornehmsten Beispiele des wohl austarierten grundgesetzlichen Systems von „checks and balances“.

Alle diese grundgesetzlichen Festlegungen machen die Attraktivität des staatlichen Modells der Bundesrepublik Deutschland mit aus. Diese Attraktivität war es, die im Moment der Wiedervereinigung, als das Provisorium „Grundgesetz“ seine Aufgabe erfüllt hatte, dazu führte, dass es kaum verändert für die Zukunft beibehalten wurde.

Dankbar dürfen wir auf die letzten 70 Jahre der Geltung des Grundgesetzes zurückblicken. Doch wahr ist auch eines: An grundstürzenden Veränderungen der Lebensumstände und großen Stürmen der Geschichte hat das Grundgesetz sich – glücklicherweise – noch nicht bewähren müssen. Sein Erfolg ist auch die Folge einer glückhaften wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung und einer politischen Kultur, welcher existenzielle Grundkonflikte bislang erspart blieben.

An der Schwelle des achten Jahrzehnts der Geltung seiner Verfassung stellen sich im deutschen Staat jedoch ernste Fragen:

  • Welche Geltungskraft kann in einer globalisierten Welt und in einem Europa, das die Tendenz zu einer Vertiefung aufweist, eine nationale Verfassung noch entfalten?
  • Bindet die Verfassung angesichts einer durch Migration noch verstärkten Multikulturalität die Staatsbürger noch in einer Gemeinsamkeit stiftenden Weise?
  • Führen demographischer Wandel und Migration zu einer Überforderung des Sozialstaates?
  • Gelingt es dem Rechtsstaat, die juristischen Voraussetzungen der realen Welt in die digitalisierte virtuelle Welt zu übertragen?

Bei diesen und anderen Problemen wird es nicht nur auf die Krisensicherheit des Verfassungstextes und der staatlichen Institutionen ankommen. Denn: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“2

Dies meint, dass ein Staat nur solange freiheitlich und demokratisch bleiben kann, wie sich die Mehrheit seiner Bürger dies auf Grund der eigenen Weltanschauungen und Wertevorstellungen so wünscht. Zwingen kann der Staat seine Bürger zu einem freiheitlichen und demokratischen Denken und Verhalten aber durch Gesetze und Gebote nicht, dann würde er seine Freiheitlichkeit selbst aufgeben.

Die im Staat notwendige Bindekraft wird also neben der Verfassung durch die Bürger und ihre Grundsätze erzeugt. Insgesamt sind aber im Grundgesetz selbst schon wichtige verfassungsrechtliche Voraussetzungen gelegt, um auch die Konflikte und Probleme der Zukunft angehen zu können.

II. Der Landtag stellt fest:

– Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland bietet seit 70 Jahren den verfassungsrechtlichen Rahmen für das staatliche Zusammenleben der Deutschen.

– Der Verfassungsgeber bewies mit zurückhaltender Sprache und zukunftsoffenen Regelungen sowie mit einem gelungenen Zusammenspiel von Gestaltungsmöglichkeiten und „checks and balances“ vor 70 Jahren wie bei den Änderungen seitdem eine glückliche Hand.

– Globalisierung und Digitalisierung, demographischer Wandel und Migration, Multikulturalität und übernationale Rechtssysteme stellen die Verfassung und den sie tragenden Staat vor Herausforderungen, angesichts derer die Bürger und ihre Wertvorstellungen zur Lösung beitragen müssen.

III. Der Landtag fordert die Landesregierung auf,

– den Einfluss des bevölkerungsreichsten Bundeslandes nicht nur im Bundesrat, sondern auf allen staatlichen Ebenen einzusetzen;

– den langandauernd und vielfach bewährten Regelungsrahmen des Grundgesetzes zu bewahren;

– den in 70 Jahren staatlichen Zusammenlebens erprobten Regelungsgehalt des Grundgesetzes zu stärken und ggf. auch zu regenerieren.

Helmut Seifen
Markus Wagner
Sven Tritschler
Andreas Keith

und Fraktion

 

Antrag als PDF laden

 

1 Alt-Bundestagspräsident Norbert Lammert, Rede am 6. September 2008, https://www.bundestag.de/parlament/praesidium/reden/2008/009-247310

2 Ernst-Wolfgang Böckenförde: Staat, Gesellschaft, Freiheit. 1976, S. 60.