Angriffe auf und Diskriminierung von russischstämmigen Mitbürgern in NRW, in Folge des Kriegs in der Ukraine

Kleine Anfrage
vom 14.03.2022

Kleine Anfrage 6478der Abgeordneten Andreas Keith und Markus Wagner vom 14.03.2022

 

Angriffe auf und Diskriminierung von russischstämmigen Mitbürgern in NRW, in Folge des Kriegs in der Ukraine

Vor dem Krieg lebten nach Angaben des Statistischen Bundesamts gut 235.000 russische und 135.000 ukrainische Staatsbürger in der Bundesrepublik. Daneben gab es im Jahre 2020 laut Statistik 298.000 deutsch-russische Doppelstaatler; 24.000 Menschen hatten zugleich die deutsche und die ukrainische Staatsbürgerschaft. Die Zahl der russischsprachigen Zuwanderer ist aber viel höher: Migrationsexperten schätzen sie auf etwa 2,2 Millionen. Viele Migranten mit russischen Wurzeln kamen als Spätaussiedler oder als jüdische Kontingentflüchtlinge, andere zum Arbeiten.1

Für den verachtenswerten russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine und die dortigen Kriegshandlungen sind die in NRW lebenden Spätaussiedler, russischstämmigen Deutschen oder die in NRW lebenden russischen Staatsbürger in keiner Weise verantwortlich.

Von daher ist es zum einen unangemessen, wenn nun allen russischstämmigen Menschen eine explizite Distanzierung von Russland und von der russischen Regierung abverlangt wird und sie damit implizit für das Vorgehen Putins in Mithaftung genommen werden sollen.

Insbesondere ist es aber unangemessen, wenn es – Medienberichten folgend – vermehrt zu emotional aufgeheizten Situationen, verbunden mit Ausgrenzungen, Anfeindungen bis hin zu körperlichen Angriffen oder Sachbeschädigungen kommt. Diese Diskriminierungen und Angriffe gegen Spätaussiedler und Russen in NRW sind inakzeptabel und aufs Schärfste zu verurteilen.

Dieser gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit, dieser aufgezwungenen Kollektivhaftung, ist umgehend Einhalt zu gebieten, da dieses inakzeptable Vorgehen nicht Putin bzw. die russische Regierung trifft, sondern diejenigen Menschen, die in Frieden und Sicherheit in NRW leben möchten.

So gab es seit Kriegsbeginn beispielhaft folgende Vorfälle:

  • Auf eine deutsch-russische Schule in Berlin wurde ein Brandanschlag verübt. Die Täter sind von mehreren Überwachungskameras erfasst worden, als sie ein Feuer im Eingangsbereich der Privatschule gelegt haben. Der Tagesspiegel meldet: „Wir gehen von einer Vorsatztat und einem Zusammenhang zum Krieg in der Ukraine aus“.2
  • In Oberhausen gab es einen Angriff auf einen polnisch-russischen Supermarkt. Unbekannte haben nachts eine Fensterscheibe zerschlagen und die Fassade mit weißer Farbe beschmiert. Wie die WAZ weiter berichtet, gab es dort bereits in der Vorwoche Farbschmierereien. Dabei wurde „Freie Ukraine“ und „Putin Mörder“ in großen Lettern auf das Glas gesprüht.3
  • Der russische Botschafter schickte bereits eine Note an das Auswärtige Amt, in der er eine angebliche Diskriminierung russischer Landsleute in Deutschland kritisierte. Er schilderte einen starken Anstieg von Fällen gegenüber russischsprachigen Bürgern. So habe es binnen dreier Tage hunderte Beschwerden von Landsleuten in Deutschland gegeben, die sich über Drohungen und Hassbriefe beklagt hätten. Es gehe dabei unter anderem um Beschädigung von Autos mit russischen Kennzeichen, Beschimpfungen, Hassbriefen, körperlichen Übergriffen und Mobbing unter Schülern.4

Wie die Tagesschau berichtet, kursiert in sozialen Netzwerken das Foto eines vermeintlich aktuellen Drohbriefs mit den Worten „Russen****, haut endlich hier aus Deutschland ab“. 5

Wie auf Web.de berichtet wird, vermeiden es Russen bereits, in der Öffentlichkeit Russisch zu sprechen. Eine ältere Frau wird wie folgt zitiert: „Meine Familie und ich haben schon Angst. Meine Tochter hat zu mir gesagt, ich soll in der Bahn lieber kein Russisch sprechen.“6

Besonders hart trifft es russische LKW-Fahrer, die auf Grund gesperrter Kreditkarten in Deutschland stranden, nicht mehr tanken können und überall unerwünscht sind. In Plettenberg stecken vier russische Lkw-Fahrer fest und harren – zu ihrer Sicherheit – mit Genehmigung eines Firmeninhabers auf dem Firmenparkplatz aus.7

Eine als jüdischer Kontingentflüchtling eingewanderte Frau, die sich für Flüchtlinge aus der Ukraine engagiert, berichtet, dass ihr und ihrer Familie die Bankkonten eingeschränkt wurden, nur weil sie immer noch russische Staatsbürger sind, obwohl sie seit Jahren in Deutschland leben.8

Gaststätten haben auf ihre Türen geschrieben, dass sie keine „Russen“ bedienen würden. Es kam auch schon vor, dass eine Familie aus dem ukrainischen Charkiw in einem Restaurant nicht bedient wurde, weil sie untereinander Russisch sprach.9

Wir fragen daher die Landesregierung:

  1. Wie viele Gewaltdelikte oder Sachbeschädigungen gegen in NRW lebende Spätaussiedler, russischstämmige Deutsche oder in NRW lebende russische Staatsbürger im Zuge der Ukraine-Krise sind der Landesregierung bekannt? (Vorfälle bitte auflisten)
  2. Wie viele Menschen kamen dabei bisher zu Schaden?
  3. Was unternimmt die Landesregierung im Zuge dieser Diskriminierung gegen Hass und Hetze im Internet gegenüber russisch-stämmigen Mitbürgern?
  4. Welche besonderen Schutzmaßnahmen wurden bzw. werden für russische Einrichtungen in NRW getroffen? (z.B. Konsulate, Kultureinrichtungen, Vereine, Geschäfte etc.)
  5. Mit welchen Maßnahmen bekämpft die Landesregierung diese Übergriffe in Form einer gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit, verbunden mit einer offensichtlichen Kollektivhaftung?

Andreas Keith
Markus Wagner

 

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1 Vgl. https://web.de/magazine/politik/russland-krieg-ukraine/russen-deutschland-krieg-ukraine-erleben-36668946

2 Vgl. https://reitschuster.de/post/naechtlicher-brandanschlag-auf-deutsch-russische-schule-in-berlin/?fbclid=IwAR3ffBjiD2qQDV6nMqYOL3cl-4WEK_0ST71FMEf0rKmzcA8Ka-rlnbPrIN4

3 Vgl. https://www.waz.de/politik/landespolitik/russen-in-nrw-befuerchten-angriffe-und-bedrohungen-id234730913.html

4 Vgl. https://www.dw.com/de/zunehmende-anfeindungen-gegen-russen-in-deutschland/a-61030651

5 Vgl. https://www.tagesschau.de/investigativ/report-mainz/ukraine-russland-auswirkungen-101.html

6 Vgl. https://web.de/magazine/politik/russland-krieg-ukraine/russen-deutschland-krieg-ukraine-erleben-36668946

7 Vgl. https://ansage.org/entrussifizierung-laeuft-festgesetzte-lkw-fahrer-mobbing-in-schulen-entlassungen/

8 Vgl. https://www.cicero.de/innenpolitik/sanktionen-gegen-russische-burger-die-situation-hat-mich-sehr-erschuttert

9 Ebenda


Der Minister des Innern hat die Kleine Anfrage 6478 mit Schreiben vom 19. April 2022 na­mens der Landesregierung im Einvernehmen mit dem Minister für Bundes- und Europaange­legenheiten sowie Internationales beantwortet.

1. Wie viele Gewaltdelikte oder Sachbeschädigungen gegen in NRW lebende Spät­aussiedler, russischstämmige Deutsche oder in NRW lebende russische Staats­bürger im Zuge der Ukraine-Krise sind der Landesregierung bekannt? (Vorfälle bitte auflisten)

2. Wie viele Menschen kamen dabei bisher zu Schaden?

Die Fragen 1 und 2 werden aufgrund des Sachzusammenhangs gemeinsam beantwortet.

Um die Kriminalitätslage in Nordrhein-Westfalen (NRW) im Zusammenhang mit dem russi­schen Angriffskrieg gegen die Ukraine tagesaktuell abbilden zu können, sind alle Kreispolizei­behörden des Landes NRW im Rahmen einer Sondererhebung aufgefordert, Sachverhalte, die einen Anfangsverdacht strafbarer Handlungen begründen, täglich an das Landeskriminal­amt NRW (LKA NRW) zu melden. Es handelt sich hierbei um Verdachtsfälle, resultierend aus ersten polizeilichen Erkenntnissen. Die nachfolgend dargestellten Fallzahlen stellen daher zu­nächst einen noch nicht validierten Ist-Stand dar, der sich im Zuge der weiteren kriminalpoli­zeilichen Sachbearbeitung und Erfassung im Kriminalpolizeilichen Meldedienst – Politisch mo­tivierte Kriminalität bzw. in der Polizeilichen Kriminalstatistik ändern kann. In der Sondererhe­bung werden Geschädigte mit ihrer Staatsangehörigkeit erfasst, sofern diese bekannt ist und eindeutig zugeordnet werden kann. Angaben zu verletzten Geschädigten werden nicht erfasst.

Seit Beginn der Erhebung (25.02.2022) sind mit Stand 24.03.2022 14 Sachbeschädigungen und vier Gewaltdelikte gegen in NRW lebende Spätaussiedler, russischstämmige Deutsche oder in NRW lebende russische Staatsbürger erfasst worden, die sich auf folgende Kreispoli­zeibehörden (KPB) verteilen:

KPB Anzahl Straftaten
Bielefeld

2

Dortmund

1

Düsseldorf

1

Kleve

1

Köln

2

Krefeld

1

Märkischer Kreis

1

Minden-Lübbecke

1

Münster

2

Oberhausen

2

Rheinisch-Bergi- scher Kreis

1

Warendorf

2

Wuppertal

1

 

3. Was unternimmt die Landesregierung im Zuge dieser Diskriminierung gegen Hass und Hetze im Internet gegenüber russisch-stämmigen Mitbürgern?

Die Landesregierung initiiert und unterstützt Programme und Projekte, die u.a. die Zielrichtung verfolgen, Hasspostings im Internet zu verfolgen. Beispielhaft kann die Initiative „Verfolgen statt nur Löschen“ angeführt werden. Geleitet wird diese Initiative von der „Zentral- und An-sprechstelle Cybercrime Nordrhein-Westfalen“ (ZAC NRW) der Staatsanwaltschaft Köln. In dieser Initiative arbeiten unter anderem das Landeskriminalamt NRW sowie eine mittlerweile zweistellige Zahl von Medienpartnern wie z. B. Medienhäuser der Mediengruppe RTL Deutschland, die Rheinische Post, der Westdeutsche Rundfunk und die Landesanstalt für Me­dien. Potentiell strafrechtlich relevant bewertete Medieninhalte im Internet werden der ZAC NRW mit dem Ziel einer justiziellen Bewertung zugeleitet. Nach rechtlicher Würdigung der potentiellen Strafbarkeit werden die Verfahren unmittelbar dem LKA NRW übermittelt, das alle zur Verfügung stehenden Mittel zur Identifizierung der Urheberschaft und mögliche weitere Ermittlungsansätze ausschöpft. Die ZAC NRW ist ferner zentral für herausragende Verfahren politisch motivierter Hasspostings in Internetforen zuständig.

4. Welche besonderen Schutzmaßnahmen wurden bzw. werden für russische Ein­richtungen in NRW getroffen? (z.B. Konsulate, Kultureinrichtungen, Vereine, Ge­schäfte etc.)

Im Zusammenhang mit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine erheben die Sicherheits­behörden des Landes NRW fortwährend sicherheitsrelevante Erkenntnisse. Diese sind Grund­lage der Beurteilung der Gefährdungslage und darauf basierender Schutzmaßnahmen für eventuell gefährdete Objekte. Die Beurteilung der Gefährdungslage wird von den Kreispolizei­behörden vorgenommen. Hierin fließt neben den Erkenntnissen der Sicherheitsbehörden der Länder und des Bundes auch die regionale Sicherheitslage ein. Polizeiliche Maßnahmen des Objektschutzes werden auf Grundlage der bundeseinheitlichen Regelungen und als Ver­schlusssache – NUR FÜR DEN DIENSTGEBRAUCH – eingestuften Polizeidienstvorschrift „Personen- und Objektschutz“ PDV 129 (VS-NfD) durchgeführt. Danach umfasst der Objekt­schutz alle Maßnahmen, die zur Verhinderung oder Abwehr von Angriffen gegen gefährdete Objekte getroffen werden.

Seit Beginn des russischen Angriffskrieges werden verschiedene Einrichtungen, die im Zu­sammenhang mit der Russischen Föderation stehen, durch entsprechende Objektschutzmaß­nahmen geschützt. Über die Art und Intensität dieser Maßnahmen kann aus Gründen des o. a. Geheimschutzes keine Auskunft gegeben werden.

5. Mit welchen Maßnahmen bekämpft die Landesregierung diese Übergriffe in Form einer gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit, verbunden mit einer offensicht­lichen Kollektivhaftung?

Eine im Fragekontext angeführte, sogenannte „Kollektivhaftung“ kann seitens der Landesre­gierung nicht bestätigt werden. Ein derartiges Konstrukt stünde zudem im Widerspruch zu den rechtsstaatlichen Prinzipien der Bundesrepublik Deutschland und der freiheitlich-demokrati­schen Grundordnung.

Die Landesregierung setzt sich konsequent gegen jede Form von Diskriminierung, gruppen­bezogener Menschenfeindlichkeit und Hass ein. Hierzu existieren in NRW Präventionsprojekte (primär, sekundär, tertiär), in denen, zum Teil unter Beteiligung der Polizei NRW, zivilgesellschaftliche Initiativen sowie staatliche und nichtstaatliche Organisationen und freie Träger aktiv sind, um diesen Phänomenen präventiv entgegenzuwirken.

In diesem Zusammenhang sind insbesondere der innerhalb weniger Monate vollzogene Aus­bau (Ende 2020 bis Anfang 2021) der Servicestellen für Antidiskriminierungsarbeit von 13 auf nunmehr 42 Standorte in Nordrhein-Westfalen sowie das neue Meldestellensystem für grup­penbezogene Menschenfeindlichkeit anzuführen. Letzteres eröffnet den Bürgerinnen und Bür­gern die Möglichkeit der Meldung entsprechender Vorfälle, auch unterhalb der Strafbarkeits-grenze. Hierdurch wird darüber hinaus ein Beitrag zur Erhellung eines eventuell vorhandenen Dunkelfeldes geleistet.

 

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