Ansteigende Radikalisierung jugendlicher Islamisten in Nordrhein-Westfalen

Kleine Anfrage
vom 21.02.2022

Kleine Anfrage 6441der Abgeordneten Markus Wagner und Andreas Keith vom 21.02.2022

 

Ansteigende Radikalisierung jugendlicher Islamisten in Nordrhein-Westfalen

Ministerpräsident Wüst erklärte auf t-online, der „Rechtsextremismus bedrohe die Grundfeste von Freiheit und Demokratie“.1 Am 13. Februar 2022 ging Bundesinnenministerin Faeser noch weiter und erklärte, dass „im Moment der Rechtsextremismus die größte Gefahr für die Demokratie“ sei.2

Im „Evaluationsbericht zur Speicherung personenbezogener Daten von Minderjährigen (14-bis 15-Jährige) gemäß § 33 Abs. 2 VSG NRW“ aus dem Dezember 2021 wird ausgeführt, dass durch den Verfassungsschutz insgesamt 54 Datensätze von Jugendlichen im Alter von 14 bis 15 Jahren gespeichert worden sind.3

Hiervon sind 32 Fälle dem Islamismus, 8 Fälle dem Rechtsextremismus, 11 Fälle dem Linksextremismus sowie dem auslandsbezogenen Extremismus und 3 Fälle dem Jihadismus zuzurechnen.4

Es zeigt sich deutlich, dass der islamistische Extremismus mit über 60 Prozent die meisten Anhänger unter den genannten radikalen Jugendlichen hat und eine fortgeschrittene Radikalisierung mit Islamismusbezug in dieser Altersgruppe existiert, wie es auch im Bericht benannt wird.5

Wir fragen die Landesregierung:

  1. Wie hat sich die Anzahl von jugendlichen Islamisten (bis 18 Jahre) bzw. Heranwachsenden (bis 21 Jahre) seit dem Jahre 2017 bis heute entwickelt? (Bitte nach Jahr, Alter, Staatsbürgerschaft und Vornamen aufschlüsseln)
  2. Durch welche Gruppierungen werden die Jugendlichen angeworben?
  3. Was bewegt die Jugendlichen dazu, sich islamistisch zu radikalisieren?
  4. Welche präventiven Maßnahmen unternimmt die Landesregierung, um Kinder und Jugendliche über die Gefahren, die von radikalen Islamisten ausgehen, zu warnen und darüber aufzuklären?
  5. Wieso wird der Linksextremismus mit dem auslandsbezogenen Extremismus in dem Bericht kombiniert?

Markus Wagner
Andreas Keith

 

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1 https://www.t-online.de/region/duesseldorf/news/id_91089484/wuest-mahnt-kampf-gegen-rechtsextremismus-an.html

2 https://www.zeit.de/politik/deutschland/2022-02/terror-rechtsextremismus-gedenktag-nancy-faeser

3 file:///C:/Users/paulw/Downloads/MMV17-6239.pdf; Seite 116

4 Vgl. ebd., Seite 57

5Vgl. ebd.; Seite 60


Der Minister des Innern hat die Kleine Anfrage 6441 mit Schreiben vom 24. März 2022 na­mens der Landesregierung im Einvernehmen mit dem Minister für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration, der Ministerin für Schule und Bildung und der Ministerin für Kultur und Wis­senschaft beantwortet.

  1. Wie hat sich die Anzahl von jugendlichen Islamisten (bis 18 Jahre) bzw. Heran­wachsenden (bis 21 Jahre) seit dem Jahre 2017 bis heute entwickelt? (Bitte nach Jahr, Alter, Staatsbürgerschaft und Vornamen aufschlüsseln)

Mit dem Sechsten Gesetz zur Änderung des Verfassungsschutzgesetzes Nordrhein-Westfa­len, das am 27. September 2016 in Kraft getreten ist, hat der Verfassungsschutz erstmals die Befugnis erhalten, die personenbezogenen Daten Minderjähriger zwischen 14 und 16 Jahren zu speichern, sofern diese verfassungsfeindliche Bestrebungen mit einem Gewaltbezug ver­folgen. Seit dem Jahr 2018 werden die Zahlen der dem Verfassungsschutz bekannten unter 18-jährigen Personen, die dem Phänomenbereich des Islamismus zugerechnet werden, re­gelmäßig erhoben.

Diese stellen sich wie folgt dar:

2018: 61 Personen 2019: 52 Personen 2020: 43 Personen 2021: Die Auswertung dauert derzeit an.

Gesonderte Zahlen zu Heranwachsenden liegen nicht vor, da der Heranwachsendenstatus zwar eine strafrechtliche, aber keine verfassungsschutzrechtlich relevante Kategorie darstellt. Die Angabe zum Jahr 2018 enthält auch Daten aus den Jahren 2016 und 2017. Diese können im Nachhinein nicht mehr den einzelnen Kalenderjahren zugewiesen werden.

  1. Durch welche Gruppierungen werden die Jugendlichen angeworben?

Kontaktaufnahmen erfolgen primär durch Einzelakteure und Interessensgemeinschaften aus dem islamistischen/salafistischen Umfeld. Dabei werden Jugendliche von allen islamistischen Szenen, die der nordrhein-westfälische Verfassungsschutz beobachtet, angesprochen.

  1. Was bewegt die Jugendlichen dazu, sich islamistisch zu radikalisieren?

Die Gründe für eine Radikalisierung sind vielfältig und individuell. Gerade die jugendphasen-typische Ablösung und Neuorientierung spielt eine relevante Rolle für die islamistische Radi­kalisierung. Bestimmte Risikofaktoren lassen eine Radikalisierung deutlich wahrscheinlicher werden. Dazu zählen starke psychosoziale Belastungen in den jeweiligen Familien, belas­tende familiäre Traditionen und nicht zuletzt Erfahrungen von sozialer Desintegration. Als Ant­wort auf eine – insbesondere für Jugendliche – hiermit verbundene Sinnsuche bieten islamisti­sche Szenen einfache Botschaften für komplexe Problemstrukturen. Halt und klare Alltags­strukturen werden geboten. Die islamistische Ideologie weist feste Strukturen mit sehr klaren sozialen Vorschriften auf. Die propagierten Narrative bieten jungen Muslimen und Konvertiten in der muslimischen Diaspora Anknüpfungspunkte für kollektive Identitätszuschreibungen. Die islamistische Radikalisierung Jugendlicher hat dennoch zumeist keinen vorrangig religiösen Ausgangspunkt, entsprechend sind die Betreffenden theologisch oftmals nicht versiert. Auch dies macht sie potentiell empfänglich für radikale Auslegungen in Predigten. Verfassungsfeind­liche politische Inhalte hinter der religiösen Fassade werden deshalb oftmals verkannt. Zudem ist es durch die breit gestreute Benutzung sozialer Medien extremistischen und jihadistischen Gruppierungen möglich, insbesondere junge Menschen unmittelbar anzusprechen, die diese Medien täglich nutzen.

Im Übrigen wird auf den Bericht der Landesregierung vom 23. Januar 2020 „Lagebild Salafis-mus Nordrhein-Westfalen (Vorlage 17/2954)“ – und hier im Besonderen auf die Ausführungen unter Ziffer 5 (Salafistische Narrative und Radikalisierungsprozesse) und Ziffer 6 (Kinder und Jugendliche) – verwiesen.

  1. Welche präventiven Maßnahmen unternimmt die Landesregierung, um Kinder und Jugendliche über die Gefahren, die von radikalen Islamisten ausgehen, zu warnen und darüber aufzuklären?

Die Landesregierung setzt auf eine intensive Extremismusprävention, diese umfasst auch das Themenfeld des Islamismus. Dabei wird das Ziel verfolgt, Radikalisierungstendenzen bereits im Entstehungsprozess zu verhindern.

Für die Präventionsarbeit des Landes Nordrhein-Westfalen sind verschiedene Ressorts mit ihren besonderen Kompetenzen in den jeweiligen Zuständigkeitsbereichen verantwortlich. Zur Vernetzung der Ressorts wurde bereits im Jahr 2016 die unbefristete Interministerielle Arbeits­gruppe (IMAG) zum Thema „Salafismusprävention als gesamtgesellschaftliche Aufgabe“ ge­gründet. Die IMAG hat ihre Tätigkeit nach der Landtagswahl im Jahr 2017 fortgesetzt.

Seitdem haben unter der Federführung des Ministeriums für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration und des Ministeriums des Innern zahlreiche Landesressorts das ganzheitliche Handlungskonzept zur Bekämpfung des gewaltbereiten, verfassungsfeindlichen Salafismus fortentwickelt. In diesem Rahmen wurden zahlreiche konkrete Maßnahmen zum Thema Prä­vention initiiert, die sowohl primär-, als auch sekundärpräventive Ansätze verfolgen und zudem den gesamten Phänomenbereich des Islamismus in ihre Arbeit einbeziehen (vgl. zuletzt Vor­lage 17/1517 v. 18. Dezember 2018, Teilhabe, Prävention und Deradikalisierung – Zweiter Bericht der Interministeriellen Arbeitsgruppe „Salafismusprävention“ und Vorlage 17/6388 v. 02. Februar 2022 „Teilhabe, Prävention und Deradikalisierung“ – Aktueller Stand zu den Maß­nahmen des ganzheitlichen Handlungskonzepts zur Bekämpfung des gewaltbereiten verfas­sungsfeindlichen Salafismus).

Zudem finanziert und koordiniert das Ministerium des Innern das Landespräventionsprogramm „Wegweiser – Gemeinsam gegen Islamismus“, welches sich an vorwiegend junge Menschen, die in den Islamismus abzurutschen drohen, sowie deren Umfeld richtet. Die 25 zivilgesell­schaftlichen oder kommunalen Wegweiser-Beratungsstellen vor Ort behandeln im Rahmen von Sensibilisierungsveranstaltungen und Workshops insbesondere für Schülerinnen und Schüler sowie für Multiplikatorinnen und Multiplikatoren (z.B. Lehrkräfte, Erzieherinnen und Erzieher) die Gefahren und Methoden des Islamismus und bieten auch im Einzelfall Hand­lungsunterstützung an. Seit Start des Programms wurden bereits über 28.500 Anfragen be­handelt und fast 5.500 Sensibilisierungsveranstaltungen und Workshops durchgeführt. Ab 2014 wurden ca. 1.190 direkt Betroffene beraten. Noch in diesem Jahr soll das Programm durch eine Online-Beratung ergänzt werden. Ergänzt wird der neue Webauftritt durch Social Media und neue Schulmodule für Schüler, Lehrer und Eltern zum Thema „Medienkompetenz“.

Für Lehrkräfte an Schulen sowie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Jugendarbeit bietet der nordrhein-westfälische Verfassungsschutz seit 2017 kostenfreie Schulmodule an. Bisher wurden in über 250 Veranstaltungen mehr als 20.000 Schülerinnen und Schüler unmittelbar erreicht. Mit dem Video- und Social-Media-Projekt „Jihadi fool“ und „hinter.gründlich“ lädt der Verfassungsschutz NRW seit August 2019 vor allem Jugendliche und junge Erwachsene zur kritischen Auseinandersetzung mit salafistischer Internetpropaganda und Extremismus ein. In dem Projekt Prisma berichten Aussteigerinnen und Aussteigerin in Begleitung mit einer erfahrenen Moderation sehr persönlich über ihre Lebenswege, ihre Einstiegsmotivationen, Er­fahrungen in der Szene und andere einschneidende Erlebnisse.

Weitere Informationen finden sich im Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-West­falen über das Jahr 2020 ab S. 335 (Vorlage 17/5372) sowie auf der Internetseite des Minis­teriums des Innern unter https://www.im.nrw/themen/verfassungsschutz/praeventionsarbeit-und-aussteigerprogramme.

Die Landesregierung setzt auf das frühzeitige Einüben demokratischer Kompetenzen und eine fundierte Auseinandersetzung mit antidemokratischen Konzepten.

Zur Extremismusprävention sind zudem insgesamt 54 Stellen mit erfahrenen sozialpädagogi­schen Fachkräften oder Beratungslehrkräften besetzt worden. Die Aufgabe der „Fachkräfte für Systemische Extremismusprävention“ („SystEx“) ist, die Arbeit der Schulpsychologischen Be­ratungseinrichtungen bei Fragen zur Prävention von Radikalisierung, Extremismus und Gewalt (Mobbing, sexuelle Gewalt) zu unterstützen.

Religionsunterricht ist keine Präventionsmaßnahme, beinhaltet aber eine Auseinandersetzung mit religiösem Extremismus und befähigt die Schülerinnen und Schüler zur kritischen Reflek-tion. Die Lehrpläne für den islamischen Religionsunterricht, wie auch die für den Unterricht anderer religiöser Bekenntnisse, sind nach modernen religionspädagogischen Standards ent­worfen und beinhalten sowohl interreligiöse Aspekte als auch die Stärkung der Toleranz-, Dis­kurs- und Demokratiekompetenz.

Die Auseinandersetzung mit extremistischen Positionen ist verpflichtender Lehrplaninhalt, ins­besondere auch der historisch-politischen Bildung.

Schließlich sei noch auf das sehr erfolgreiche Programm „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“ als weiterer Baustein der Extremismusprävention verwiesen. Am Programm neh­men zurzeit 1.060 Schulen in Nordrhein-Westfalen teil. Die gesamte Schulgemeinschaft setzt sich hierbei für eine Rassismus-freie Schule ein und macht mit Themen z.B. gegen Alltagsras­sismus, Ausgrenzung, Extremismus oder Antisemitismus auf demokratiefeindliche Verhaltens­weisen aufmerksam und fordert zur Diskussion auf.

Auch die Landeszentrale für politische Bildung hält verschiedene Angebote zur Prävention des Islamismus vor. Dazu zählen folgende Projekte:

Mit dem Projekt „Plan P. – Jugend stark machen gegen salafistische Radikalisierung“ wird die Weiterbildungsreihe von Multiplikatorinnen und Multiplikatoren wie Lehrkräften oder Personen aus der Schulsozialarbeit und Jugendhilfe zur Vermittlung von Wissen über salafistische Ra­dikalisierung gefördert. Die Zielgruppen des Projektes finden auch Unterstützung zur Imple­mentierung lokaler Präventionsprogramme und präventiver Netzwerke. Das Projekt wurde im Jahr 2021 evaluiert und wird auf Basis dieser Evaluation im Jahr 2022 gestärkt und fortentwi­ckelt.

Mit „ExPO-NRW.Dok“ wird ab 2022 ein neues Projekt gefördert. Es wird sich insbesondere mit phänomenübergreifenden Wirkungsweisen und Zusammenhängen zwischen Islamismus, Rassismus und Antisemitismus beschäftigen. Ziel des Projekts ist die Erstellung digitaler Ma­terialien zum Wissenstransfer in die Trägerlandschaft in Nordrhein-Westfalen.

Das Informationsportal www.gegen-gewaltbereiten-salafismus.nrw informiert Bürgerinnen und Bürger über die vielfältigen Angebote der Landesregierung zum Thema Salafismusprävention sowie zu thematischen Hintergründen. Darüber hinaus bietet die Landeszentrale hierzu ver­schiedene Publikationen an, die über die Internetseite der Landeszentrale erhältlich sind.

  1. Wieso wird der Linksextremismus mit dem auslandsbezogenen Extremismus in dem Bericht kombiniert?

Der „Gemeinsame Evaluationsbericht gemäß § 33 Absatz 2 Gesetz über den Verfassungs­schutz in Nordrhein-Westfalen (VSG NRW) des Ministeriums des Innern des Landes Nord­rhein-Westfalen und des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen e.V.“ (Vorlage 17/6239) erfüllt einen gesetzlichen Auftrag des Verfassungsschutzgesetzes Nordrhein-West­falen. Die Gliederung des Berichtes orientiert sich deshalb an der Organisationsstruktur der Verfassungsschutzbehörde. Innerhalb dieser werden die Phänomenbereiche Linksextremis­mus und auslandsbezogener Extremismus in einem Referat bearbeitet. Der Bericht differen­ziert jedoch klar zwischen den beiden Phänomenbereichen, dies wird z.B. auf Seite 64 des Berichts deutlich.

 

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