Antisemitische Straftaten in NRW im ersten Halbjahr 2021

Kleine Anfrage
vom 30.06.2021

Kleine Anfrage 5645der Abgeordneten Gabriele Walger-Demolsky und Markus Wagner vom 30.06.2021

 

Antisemitische Straftaten in NRW im ersten Halbjahr 2021

Die Kleine Anfrage 4812 zum Themenkomplex „Antisemitische Straftaten“ hat ergeben, dass es im Jahre 2020 in diesem Bereich insgesamt 276 Straftaten gegeben hat. Dabei wurden zwei Personen verletzt.1 Bei der Einordnung in die Phänomenbereiche der politischen Kriminalität ergab sich folgendes Bild:

In den Fällen, in denen ein Tatverdächtiger ermittelt werden konnte, wurden die Straftaten den folgenden Phänomenbereichen zugeordnet:

  • PMK-Rechts: 114 Straftaten
  • PMK-nicht zuzuordnen: 1 Straftat
  • PMK-Links: 1 Straftat
  • PMK-Religiöse Ideologie: 3 Straftaten
  • PMK-Ausländische Ideologie: 4 Straftaten.

In den Fällen, in denen kein Tatverdächtigter ermittelt werden konnte, wurden die Straftaten den folgenden Phänomenbereichen zugeordnet:

  • PMK-Rechts: 142 Straftaten
  • PMK-Nicht zuzuordnen: 4 Straftaten
  • PMK-Links: 3 Straftaten
  • PMK-Religiöse Ideologie: keine Straftat
  • PMK-Ausländische Ideologie: 4 Straftaten.

Wie bereits in den Vorjahren handelte es sich bei den Straftaten überwiegend um Volksverhetzungsdelikte und Verstöße gemäß §§ 86, 86a StGB (Propagandadelikte).

Wie das Innenministerium am 9. Juni 2021 berichtete, wurden für den Zeitraum vom 10. Mai 2021 bis einschließlich 21. Mai 2021 dem LKA NRW insgesamt 90 mutmaßlich antisemitische bzw. antiisraelische „Sachverhalte“ gemeldet.2 Diese standen vorgeblich im Zusammenhang mit dem Nahost-Konflikt, richteten sich aber in Wahrheit gegen die jüdische Bevölkerung in NRW. Die Bilder und Videos, beispielsweise aus Gelsenkirchen, legen nahe, dass die Tatverdächtigen grundsätzlich nicht den Phänomenbereichen PMK-Rechts bzw. PMK-Links zuzuordnen sind. Von daher ist die statistische Auswertung antisemitischer Straftaten insbesondere für den genannten Zeitraum von besonderem Interesse.

Ziel dieser Anfrage ist es, mit den Zahlen für das erste Halbjahr 2021 die Entwicklung auch weiterhin zu beleuchten.

Wir fragen daher die Landesregierung:

  1. Wie viele Straftaten mit antisemitischem Hintergrund wurden in Nordrhein-Westfalen im ersten Halbjahr 2021 und hierbei insbesondere im Rahmen der insgesamt 90 mutmaßlich antisemitischen bzw. antiisraelischen „Sachverhalte“ im Zeitraum vom 10. Mai 2021 bis einschließlich 21. Mai 2021 verübt? (Bitte nach Ort, Straftatbestand und Anzahl der verletzten Personen auflisten)
  2. Bei wievielen der unter Frage 1 erfragten Straftaten konnte ein Täter ermittelt bzw. festgenommen werden? (Bitte einzeln nach Straftatbestand, Nationalität [bei deutschen Tätern bitte zusätzlich den jeweiligen Vornamen angeben], Alter und Geschlecht auflisten)
  3. In welchen Phänomenbereich der politisch motivierten Kriminalität wurden die unter Frage 1 erfragten Straftaten jeweils eingeordnet, insbesondere im Rahmen der insgesamt 90 mutmaßlich antisemitischen bzw. antiisraelischen „Sachverhalte“ im Zeitraum vom 10. Mai 2021 bis einschließlich 21. Mai 2021? (Bitte differenzieren nach a) es konnte ein Tatverdächtiger bzw. Täter ermittelt werden und b) es konnte kein Tatverdächtiger bzw. Täter ermittelt werden; Bitte auflisten nach Anzahl der Fälle, Phänomenbereich und Straftatbestand.)
  4. Wie viele eingeleitete Ermittlungsverfahren, Anklagen, Verurteilungen und Einstellungen von Ermittlungen bzw. von Verfahren (bitte jeweils mit Begründung) gab es im ersten Halbjahr 2021 im Zusammenhang mit antisemitischen Straftaten, hierbei insbesondere im Rahmen der insgesamt 90 mutmaßlich antisemitischen bzw. antiisraelischen „Sachverhalte“ im Zeitraum vom 10. Mai 2021 bis einschließlich 21. Mai 2021?
  5. Das Innenministerium berichtete von 90 mutmaßlich antisemitischen bzw. antiisraelischen „Sachverhalten“ für den Zeitraum vom 10. Mai 2021 bis einschließlich 21. Mai 2021. Um welche „Sachverhalte“ handelte es sich dabei im Einzelnen? (Bitte nach Datum, Ort und der geschätzten Teilnehmerzahl auflisten sowie eine kurze Schilderung des jeweiligen „Sachverhalts“ beifügen)

Gabriele Walger-Demolsky
Markus Wagner

 

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1 Vgl. Lt.-Drucksache 17/12639

2 Vgl. Lt.-Drucksache 17/13806


Der Minister des Innern hat die Kleine Anfrage 5645 mit Schreiben vom 3. August 2021 na­mens der Landesregierung im Einvernehmen mit dem Minister der Justiz beantwortet.

Vorbemerkung der Landesregierung

Die statistische Erfassung „Politisch motivierter Kriminalität“ (PMK) erfolgt bundesweit einheit­lich auf der Grundlage des im Jahr 2001 von der Ständigen Konferenz der Innenminister und -senatoren der Länder beschlossenen Definitionssystems „Politisch motivierte Kriminalität“.

Der PMK werden demnach Straftaten zugeordnet, wenn in Würdigung der Umstände der Tat und/oder der Einstellung des Täters Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass sie

  • den demokratischen Willensbildungsprozess beeinflussen sollen, der Erreichung oder Verhinderung politischer Ziele dienen oder sich gegen die Realisierung politischer Ent­scheidungen richten.
  • sich gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung bzw. eines ihrer Wesensmerk­male, den Bestand und die Sicherheit des Bundes oder eines Landes richten oder eine ungesetzliche Beeinträchtigung der Amtsführung von Mitgliedern der Verfassungsor­gane des Bundes oder eines Landes zum Ziel haben.
  • durch Anwendung von Gewalt oder darauf gerichtete Vorbereitungshandlungen aus­wärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährden.
  • gegen eine Person wegen ihrer politischen Einstellung, Nationalität, Volkszugehörig­keit, Rasse, Hautfarbe, Religion, Weltanschauung, Herkunft oder aufgrund ihres äuße­ren Erscheinungsbildes, ihrer Behinderung, ihrer sexuellen Orientierung oder ihres ge­sellschaftlichen Status gerichtet sind und die Tathandlung damit im Kausalzusammen­hang steht bzw. sich in diesem Zusammenhang gegen eine Institution/Sache oder ein Objekt richtet.

Darüber hinaus gehören Straftaten gemäß §§ 80a-83, 84-86a, 87-91, 94-100a, 102-104a, 105­108e, 109-109h, 129a, 129b, 130, 234a oder 241a StGB als Staatsschutzdelikte zur PMK, selbst wenn im Einzelfall eine politische Motivation nicht festgestellt werden kann.

Politisch motivierte Straftaten werden hinsichtlich des Begründungszusammenhangs (Motiv) einem oder mehreren Themenfeldern zugeordnet.

Datenquelle zur Beantwortung der Fragen ist der „Kriminalpolizeiliche Meldedienst in Fällen der Politisch motivierten Kriminalität“ (KPMD-PMK).

1. Wie viele Straftaten mit antisemitischem Hintergrund wurden in Nordrhein-West­falen im ersten Halbjahr 2021 und hierbei insbesondere im Rahmen der insgesamt 90 mutmaßlich antisemitisch bzw. antiisraelischen „Sachverhalte“ im Zeitraum vom 10. Mai 2021 bis einschließlich 21. Mai 2021 verübt? (Bitte nach Ort, Straftat­bestand und Anzahl der verletzten Personen auflisten)

Im ersten Halbjahr 2021 wurden im KPMD-PMK in Nordrhein-Westfalen 206 Straftaten dem Unterbegriff „antisemitisch“ zugeordnet.

Weitergehende Daten bitte ich der Anlage 1 zu entnehmen.

In Bezug auf die gemeldeten 90 mutmaßlich antisemitischen bzw. antiisraelischen Sachver­halte wird auf die Beantwortung der Frage 5 verwiesen.

2. Bei wievielen der unter Frage 1 erfragten Straftaten konnte ein Täter ermittelt bzw. festgenommen werden? (Bitte einzeln nach Straftatbestand, Nationalität [bei deut­schen Tätern bitte zusätzlich den jeweiligen Vornamen angeben], Alter und Ge­schlecht auflisten)

Im KPMD-PMK werden als Festnahme statistisch alle bekanntgewordenen polizeilichen frei­heitsentziehenden Maßnahmen gemäß der §§ 127, 127b StPO erfasst (z.B. keine Ingewahr-samnahmen nach dem Polizeigesetz NRW).

Insgesamt konnten 81 Tatverdächtige ermittelt werden. Im Rahmen des KPMD-PMK werden die Personendaten anonymisiert. Eine nachträgliche Erhebung der Vornamen von Tätern ist daher nicht möglich.

Im ersten Halbjahr 2021 wurden in Nordrhein-Westfalen keine Festnahmen wegen einer anti­semitischen Straftat erfasst.

Weitere Details bitte ich der Anlage 2 zu entnehmen.

3. In welchen Phänomenbereich der politisch motivierten Kriminalität wurden die un­ter Frage 1 erfragten Straftaten jeweils eingeordnet, insbesondere im Rahmen der insgesamt 90 mutmaßlich antisemitischen bzw. antiisraelischen „Sachverhalte“ im Zeitraum vom 10. Mai 2021 bis einschließlich 21. Mai 2021? (Bitte differenzieren nach a) es konnte ein Tatverdächtiger bzw. Täter ermittelt werden und b) es konnte kein Tatverdächtiger bzw. Täter ermittelt werden; Bitte auflisten nach Anzahl der Fälle, Phänomenbereich und Straftatbestand.)

Von den 206 gemeldeten politisch motivierten Straftaten wurden 70 dem Phänomenbereich PMK-ausländische Ideologie, zwei der PMK-links, 106 der PMK-rechts und 28 der PMK-nicht zuzuordnen zugeordnet. Dem Phänomenbereich PMK-religiöse Ideologie wurde keine Straftat zugeordnet. Weitere Details bitte ich der Anlage 3 zu entnehmen, siehe hier die gesonderten Spalten zu den angefragten Daten a) und b).

4. Wie viele eingeleitete Ermittlungsverfahren, Anklagen, Verurteilungen und Einstel­lungen von Ermittlungen bzw. von Verfahren (bitte jeweils mit Begründung) gab es im ersten Halbjahr 2021 im Zusammenhang mit antisemitischen Straftaten, hier­bei insbesondere im Rahmen der insgesamt 90 mutmaßlich antisemitisch bzw. an­tiisraelischen „Sachverhalte“ im Zeitraum vom 10. Mai 2021 bis einschließlich 21. Mai 2021?

Durch die Polizei des Landes Nordrhein-Westfalen wurde in allen in der Antwort zu Frage 1 aufgezählten Fällen ein Ermittlungsverfahren eingeleitet.

Im ersten Halbjahr 2021 wurden bei nordrhein-westfälischen Staatsanwaltschaften in 488 Fäl­len Ermittlungsverfahren wegen antisemitischer Straftaten eingeleitet. Die Differenz zu den polizeilich eingeleiteten Ermittlungsverfahren erklärt sich durch ein anderes Erfassungssystem der Landesjustiz.

Im ersten Halbjahr 2021 kam es in Nordrhein-Westfalen in 56 Fällen zur Erhebung der öffent­lichen Klage bzw. Beantragung eines Strafbefehls wegen antisemitischer Straftaten, in 16 Fäl­len zu einer Verurteilung und in 297 Fällen zur Einstellung der Ermittlungen.

Grund für die Einstellung des Verfahrens war in 121 Fällen, dass ein Täter nicht ermittelt wer­den konnte.

Entsprechende belastbare landesweite Fallzahlen zu den in der Kleinen Anfrage in Bezug ge­nommenen „Sachverhalten“ im Zeitraum vom 10.05. bis 21.05.2021 liegen dem Ministerium der Justiz nicht vor und können mit einem für die Strafrechtspflege vertretbaren Aufwand nicht erlangt werden. Eine Erhebung der Daten würde eine Einzelauswertung der Akten aller in Be­tracht kommenden Verfahren erfordern und können mit einem für die Strafrechtspflege ver­tretbaren Aufwand innerhalb der für die Beantwortung Kleiner Anfragen zur Verfügung stehen­den Zeit nicht erlangt werden.

5. Das Innenministerium berichtete von 90 mutmaßlich antisemitischen bzw. antiis­raelischen „Sachverhalten“ für den Zeitraum vom 10. Mai 2021 bis einschließlich 21. Mai 2021. Um welche „Sachverhalte“ handelte es sich im Einzelnen? (Bitte nach Datum, Ort und der geschätzten Teilnehmerzahl auflisten sowie eine kurze Schilderung des jeweiligen „Sachverhalts“ beifügen)

Das Ministerium des Innern des Landes Nordrhein-Westfalen veranlasste über das Landeskri­minalamt Nordrhein-Westfalen eine Sondererhebung aller mutmaßlich antisemitischen Vor­fälle ab dem 10.05.2021.

Angesichts der dynamischen Lageentwicklung aufgrund des aktuellen Nahost-Konfliktes, sollte durch diese Sondererhebung ein tagesaktuelles Lagebild in Bezug auf Straftaten mit möglicher antisemitischer Tatmotivation gewährleistet werden. Dies erfolgte insbesondere vor dem Hintergrund, dass eine Meldung über den KPMD-PMK erst verzögert, im Rahmen der weiteren Sachbearbeitung durch die zuständige Ermittlungsdienststelle erfolgt. Die Kreispoli­zeibehörden wurden in diesem Zusammenhang um eine niedrigschwellige Meldung von Sach­verhalten mit möglicher antisemitischer Motivationslage, nach Einschätzung der aufnehmen­den Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten, gebeten, die nicht den Richtlinien des KPMD-PMK unterlagen. Zum Stichtag 21.05.2021 wurden durch die KPB 84 Sachverhalte gemeldet. Sechs Sachverhalte waren bereits unmittelbar an die zuständige Staatsanwaltschaft zur recht­lichen Würdigung übermittelt worden.

Im Rahmen der Ermittlungen zu diesen Sachverhalten konnte bei 60 Verfahren der Verdacht einer antisemitischen Motivationslage erhärtet werden. Es erfolgte im Anschluss eine statisti­sche Erfassung über den KPMD-PMK. Diese Sachverhalte sind somit in der zu Frage 1 be­richteten Anzahl von 206 Straftaten enthalten.

Die Differenz zu den gemeldeten 90 Sachverhalten der Sondererhebung ergibt sich aus un­terschiedlichen Faktoren. So steht zu einzelnen Sachverhalten noch die rechtliche Würdigung der zuständigen Staatsanwaltschaft aus. Darüber hinaus wurden u. a. Sachverhalte aufgrund des Ermittlungsergebnisses bei fehlenden Bezügen zur Politisch motivierten Kriminalität bzw. zu einer antisemitischen/antiisraelischen Motivationslage statistisch nicht erfasst. Eine weitere Bereinigung der Sondererhebung erfolgte aufgrund von Tatorten außerhalb von Nordrhein-Westfalen bei Delikten im Internet sowie aufgrund von Doppelerfassung bzw. tateinheitlichem Handeln.

Weitere Daten bitte ich der Anlage 4 zu entnehmen.

Eine Darstellung der einzelnen Sachverhalte ist unterblieben, um Rückschlüsse auf Einzelper­sonen zu vermeiden. Aufgeführt sind jeweils die verletzten Rechtsnormen. In Bezug auf die angefragten Teilnehmerzahlen, wurde in der Anlage jeweils die Anzahl der Tatverdächtigen aufgeführt. Teilnehmerzahlen zu Versammlungen oder Veranstaltungen werden im Rahmen des KPMD-PMK statistisch nicht erfasst.

 

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