Kleine Anfrage 5979des Abgeordneten Markus Wagner vom 16.09.2021
Antisemtische Straftaten in NRW im ersten Halbjahr 2021. Wird der Aufruf zum Judenmord in Deutschland überhaupt noch bestraft?
Der Nahostkonflikt zwischen Palästinensern und Israel hatte im April und Mai 2021 deutlich an Intensität und Brisanz zugenommen. Die Feindseligkeiten beschränkten sich nicht nur auf diese Region, sondern waren sogar in Deutschland spürbar.
Es kam zu zahlreichen Anti-Israel-Demonstrationen, wobei besonders eine Demonstration am 12. Mai 2021 in Gelsenkirchen hervorzuheben ist. Bei dieser zogen etwa 180 Menschen vor eine Synagoge und skandierten judenfeindliche Parolen.1 Wie Medien berichteten, brüllte die Masse „Sch***-Juden“ und schwenkten dabei gleichzeitig palästinensische und türkische Fahnen. Zudem wurden Israel-Fahnen in Brandt gesetzt.2
Ein Aufgebot der Polizei sicherte währenddessen die Synagoge. Nach Aussagen des Innenministers Reul wurden 47 Sachverhalte von den Sicherheitsbehörden registriert und 31 von 85 Tatverdächtigen identifiziert.3
Vor dem Hintergrund der Kleinen Anfrage 5645 der Abgeordneten Gabriele Walger-Demolsky und Markus Wagner beziehen wir uns auf die Antworten der Landesregierung, insbesondere zu den Fragen 1 und 2, wonach „im ersten Halbjahr 2021 im KPMD-PMK in Nordrhein-Westfalen 206 Straftaten dem Unterbegriff „antisemitisch“ zugeordnet wurden.“ Zudem teilte die Landesregierung mit, dass „im ersten Halbjahr 2021 in Nordrhein-Westfalen keine Festnahmen wegen einer antisemitischen Straftat erfasst wurden.“
Die Jüdische Rundschau stellt zu Recht die Frage, ob der Aufruf zum Judenmord in Deutschland überhaupt noch strafbar sei respektive bestraft werde, und bezieht sich dabei u. a. auf muslimische Demonstranten, die im Mai 2021 zur Vernichtung Israels aufgerufen haben.
Außerdem beklagt die Zeitung eine immer spürbarere strafrechtliche Differenzierung zwischen ethnisch Deutschen und Muslimen bei Straftaten. Demnach findet das deutsche Strafrecht bei Personen mit einem muslimischen Hintergrund immer weniger Anwendung.4
Ich frage die Landesregierung:
- Wie erklärt die Landesregierung den Sachverhalt, dass im ersten Halbjahr 2021 in Nordrhein-Westfalen 206 Straftaten verübt worden sind – insbesondere 90 Sachverhalte in dem Zeitraum vom 10.05.2021 bis 21.05.2021 – aber im gleichen Zeitraum keine einzige Festnahme erfolgte?
- Wie ist der Sachstand der polizeilichen und staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen im Zusammenhang mit der Demonstration in Gelsenkirchen vor der Synagoge am 12. Mai 2021? (Bitte Tatverdächtige, Vorstrafen der Tatverdächtigen, Straftatbestände, Staatsbürgerschaften der Tatverdächtigen, Vornamen deutscher Tatverdächtiger und sonstige polizeilichen Erkenntnisse über die Tatverdächtigen nennen).
- Welche neuen Sachstandserkenntnisse konnten in Bezug auf die in Frage 1 der Kleinen Anfrage 5458 vom 12. Mai 2021 der Abgeordneten Andreas Keith, Markus Wagner und Sven Tritschler geschilderten 84 Sachverhalte, zu denen polizeiliche Ermittlungsverfahren eingeleitet wurden, mittlerweile erzielt werden?
Markus Wagner
1 https://www1.wdr.de/nachrichten/rheinland/antisemitische-demo-gelsenkirchen-100.html
Der Minister des Innern hat die Kleine Anfrage 5979 mit Schreiben vom 25. Oktober 2021 namens der Landesregierung im Einvernehmen mit dem Minister der Justiz beantwortet.
- Wie erklärt die Landesregierung den Sachverhalt, dass im ersten Halbjahr 2021 in Nordrhein-Westfalen 206 Straftaten verübt worden sind – insbesondere 90 Sachverhalte in dem Zeitraum vom 10.05.2021 bis 21.05.2021 – aber im gleichen Zeitraum keine einzige Festnahme erfolgte?
Nach polizeilichen Erkenntnissen wurden bei 40 Tatverdächtigen Haftgründe gem. §§ 112 ff. Strafprozessordnung (StPO) mit negativem Ergebnis geprüft, so dass weder eine vorläufige Festnahme noch eine Anordnung der Untersuchungshaft in Betracht kamen. Im Zuge nachfolgender Ermittlungen wurde in einem Fall ein Unterbringungshaftbefehl erwirkt, welcher am 20.05.2021 erlassen und am 28.05.2021 – und damit außerhalb des angefragten Zeitraums – vollstreckt werden konnte.
- Wie ist der Sachstand der polizeilichen und staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen im Zusammenhang mit der Demonstration in Gelsenkirchen vor der Synagoge am 12. Mai 2021? (Bitte Tatverdächtige, Vorstrafen der Tatverdächtigen, Straftatbestände, Staatsbürgerschaften der Tatverdächtigen, Vornamen deutscher Tatverdächtiger und sonstige polizeilichen Erkenntnisse über die Tatverdächtigen nennen).
Die Leitende Oberstaatsanwältin in Essen hat dem Ministerium der Justiz unter dem 28.09.2021 unter anderem Folgendes berichtet:
„Im Zusammenhang mit der Demonstration in Gelsenkirchen vor der Synagoge am 12.05.2021 sind bei der Staatsanwaltschaft Essen Ermittlungen gegen 15 namentlich bekannte und drei namentlich nicht identifizierte Personen wegen des Verdachts der Beteiligung (Mittäterschaft oder Beihilfe) an Taten der Volksverhetzung und teils auch der Beleidigung eingeleitet worden. Die meisten Ermittlungsverfahren konnten bereits abgeschlossen werden. In zwei Fällen liegen rechtskräftige Verurteilungen vor. Die Einzelheiten ergeben sich aus der nachfolgenden Aufstellung:
Staats-anghörigkeit |
Sachstand | ||||
Beschul-digte | Tatbestände (StGB) | ||||
1 | Ali S. | deutsch | §§ 130, 185 | Anklage | |
2 | Adel A. | deutsch | § 130 | Anklage | |
3 | Z. A. | deutsch und libanesisch | § 130 | Anklage | |
4 | A. M. | syrisch | § 130 | Anklage | |
5 | A. S. | syrisch | § 130 | Die Ermittlungen dauern an. |
6 | H. D. | syrisch | § 130 | Einstellung ge-mäß § 170 Abs. 2 StPO |
7 | Rabije B. | deutsch | § 130 | Die Ermittlungen dauern an. |
8 | M. K. | syrisch | § 130 | Anklage |
9 | I. F. | syrisch | § 185 | Anklage |
10 | A. H. | syrisch | § 130 | Geldstrafe (rechtskräftig) |
11 | A. M. | libanesisch | § 130 | Geldstrafe (rechtskräftig) |
12 | L. A. | jordanisch | § 130 | Anklage |
13 | Z. K. | libanesisch | § 130 | Antrag auf Erlass eines Strafbe- fehls |
14 | M. A. | deutsch und rumänisch | § 130 | Abgabe an Staatsanwalt-schaft Bochum |
15 | Karem R. | deutsch | § 130 | Abgabe an Staatsanwalt-schaft Bochum |
(…)
In Bezug auf die drei namentlich nicht identifizierten Personen liegen Lichtbilder vor; die Öffentlichkeitsfahndung dauert an, verlief aber bisher ergebnislos.“
Die Generalstaatsanwältin in Hamm hat dem Ministerium der Justiz unter dem 29.09.2021 hierzu ergänzend u. a. Folgendes berichtet:
„Die Leitende Oberstaatsanwältin in Bochum hat mir wie folgt berichtet, soweit die Verfahren gegen (…) M. A. und gegen (…) Karem R. von der Staatsanwaltschaft Bochum übernommen worden sind:
,In dem Verfahren (…) gegen den rumänischen Staatsangehörigen (…) M. A., (…), dauern die Ermittlungen an. In dem weiteren Verfahren (…) gegen den deutschen Staatsangehörigen (…) Karem R., (…), wurde wegen Volksverhetzung Anklage erhoben.‘
Ergänzend hat sie mir dazu berichtet, der in Bukarest geborene Besch. (…) M. A. sei nach dem in die Ermittlungsakten gehefteten polizeilichen Personalbogen, der ihrem Bericht zugrunde gelegt worden sei, nur rumänischer Staatsangehöriger. Allerdings enthalte die bei den Akten befindliche Auskunft aus dem Bundeszentralre-gister Hinweise auf Alias-Personalien und darunter auch auf eine deutsche Staatsangehörigkeit.
Soweit die gebotene Kürze der Berichte meine Prüfung zulässt, habe ich gegen die Sachbehandlung keine Bedenken.“
- Welche neuen Sachstandserkenntnisse konnten in Bezug auf die in Frage 1 der Kleinen Anfrage 5458 vom 12. Mai 2021 der Abgeordneten Andreas Keith, Markus Wagner und Sven Tritschler geschilderten 84 Sachverhalte, zu denen polizeiliche Ermittlungsverfahren eingeleitet wurden, mittlerweile erzielt werden?
Die aktuellen Ermittlungsstände der gegenständlichen Sachverhalte liegen dem Landeskriminalamt Nordrhein-Westfalen nicht vor. Zur Beantwortung der Frage wäre es erforderlich, die Sachstände bei 15 Kreispolizeibehörden einzeln anzufragen und diese gesondert auszuwerten. Des Weiteren wäre dann die Zustimmung zur Veröffentlichung der jeweils zuständigen Staatsanwaltschaften einzuholen. Aus diesem Grund ist eine Beantwortung der Frage in der zur Verfügung stehenden Zeit zur Beantwortung der Kleinen Anfrage nicht möglich.
Im Übrigen wird auf die Antwort zur Frage 5 der Kleinen Anfrage 5645 (LT-Drs. 17/14746) verwiesen.