Kleine Anfrage 6445der Abgeordneten Sven W. Tritschler und Andreas Keith vom 22.02.2022
Demonstrationen und Spaziergänge gegen staatliche Corona-Maßnahmen – Welche Rechte haben die Versammlungsleiter?
In der Debatte zu TOP 5 (Antrag der AfD-Fraktion „Demonstranten und Spaziergänger nicht gängeln und verteufeln, sondern ernst nehmen. – Versammlungsfreiheit achten!“ – Drs. 17/16474) erklärte der Minister des Innern, dass an verschiedenen Demonstrationen und Spaziergängen, die sich gegen die staatlichen Corona-Maßnahmen richten, „Verfassungsfeinde“ beteiligt seien:
„Die Damen und Herren, die da reden – nicht alle, aber einige – und diejenigen, die dabei sind, sind ja bekannt, nicht bei jeder Demonstration und nicht alle – das hat auch nie einer behauptet -, aber sie sind dabei.“
In seiner anschließenden Kurzintervention fragte der Abgeordnete Tritschler, welche Möglichkeiten die jeweiligen Versammlungsleiter haben, gegen „Verfassungsfeinde“ vorzugehen, die sich ihren Demonstrationen und Kundgebungen anschließen.
Der Abgeordnete erklärte, dass ein Ausschluss solcher Personen nach seiner Kenntnis „gar nicht ohne weiteres möglich“ sei.
Darauf entgegnete der Minister: „Jeder Versammlungsleiter hat das Recht und die Möglichkeiten, einzugreifen.“
Tatsächlich heißt es in § 6 Abs. 4 des nordrhein-westfälischen Versammlungsgesetzes:
„Die Versammlungsleitung darf Personen, welche die Ordnung der Versammlung erheblich stören, ausschließen. Bei Versammlungen unter freiem Himmel darf dies nur mit Zustimmung der zuständigen Behörde erfolgen. […]“
Dem Wortlaut nach können Personen also nur dann vom Versammlungsleiter ausgeschlossen werden, wenn sie die Versammlung „erheblich stören“; überdies benötigt der Versammlungsleiter bei Versammlungen unter freiem Himmel eine behördliche Zustimmung.
Wir fragen daher die Landesregierung:
- Welche Möglichkeiten hat der Leiter einer Versammlung, die vom Minister so bezeichneten „Verfassungsfeinde“ unter den Teilnehmern zu erkennen?
- Werden den Leitern solcher Versammlungen im Vorfeld entsprechende Informationen zur Verfügung gestellt?
- Welche Möglichkeiten hat der Versammlungsleiter, Personen, deren Anwesenheit er nicht wünscht (z.B. vermeintliche oder tatsächliche Verfassungsfeinde) von seiner Versammlung auszuschließen, wenn diese den Ablauf der Versammlung nicht stören?
- Unter welchen Umständen stimmen die Polizeibehörden des Landes NRW einem Ausschluss nach § 6 Abs. 4 S. 2 VersG NRW zu?
- Stimmen die Polizeibehörden des Landes NRW dem Ausschluss von Personen nach § 6 Abs. 4 S. 2 VersG NRW zu, nur weil es sich bei diesen Personen um „Verfassungsfeinde“ (nach Definition des Innenministers) handelt?
Sven W. Tritschler
Andreas Keith
Der Minister des Innern hat die Kleine Anfrage 6445 mit Schreiben vom 24. März 2022 namens der Landesregierung beantwortet.
- Welche Möglichkeiten hat der Leiter einer Versammlung, die vom Minister so bezeichneten „Verfassungsfeinde“ unter den Teilnehmern zu erkennen?
Die Rückschau auf die vergangenen Monate zeigt, dass unter den Teilnehmern an den Protestveranstaltungen gegen staatliche Corona-Beschränkungsmaßnahmen immer wieder auch Anhänger der Querdenken-Bewegung oder von Verschwörungsmythen sowie Rechtsextremisten, „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ vertreten sind. In der Öffentlichkeit wird seit dem Jahr 2020 durchgängig über die Erkenntnisse der Sicherheitsbehörden berichtet, wonach Verfassungsfeinde an Versammlungen gegen die Corona-Schutzmaßnahmen teilnehmen und versuchen, die Versammlungen für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. Dies wird von den Medien breit aufgegriffen. Die Landesregierung und zivilgesellschaftliche Organisationen in Nordrhein-Westfalen haben die Narrative und Symbole der Verfassungsfeinde in Publikationen dargestellt – so zum Beispiel im Sonderbericht des Ministeriums des Innern des Landes Nordrhein-Westfalen zu Verschwörungsmythen und „Corona-Leugnern“ aus Mai 2021 (Vorlage 17/5372). Diese Informationen stehen allen Bürgerinnen und Bürgern und damit auch den für einen ordnungsgemäßen Ablauf verantwortlichen Leitern einer Versammlung zur Verfügung. Offenkundig wird eine verfassungsfeindliche Gesinnung insbesondere beim Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen (§ 86a StGB) oder durch Volksverhetzungen (§ 130 StGB). Extremisten bedienen sich zudem einer Vielzahl weiterer Zeichen und Symbole unterhalb der Schwelle der Strafbarkeit, deren Verwendung für Außenstehende als Ausdruck ihrer Gesinnung dient.
- Werden den Leitern solcher Versammlungen im Vorfeld entsprechende Informationen zur Verfügung gestellt?
Unter Berücksichtigung des Einzelfalles, insbesondere wenn ein Leiter darum bittet, kann die zuständige Behörde Personen, die eine Versammlung veranstalten oder leiten, Informationen nach Maßgabe des § 3 des nordrhein-westfälischen Versammlungsgesetzes (VersG NRW) zur Verfügung stellen. Im Übrigen wird auf die Antwort zu Frage 1 verwiesen.
- Welche Möglichkeiten hat der Versammlungsleiter, Personen, deren Anwesenheit er nicht wünscht (z.B. vermeintliche oder tatsächliche Verfassungsfeinde) von seiner Versammlung auszuschließen, wenn diese den Ablauf der Versammlung nicht stören?
Die Rechtsgrundlage für den Ausschluss von Teilnehmern von Versammlungen unter freiem Himmel durch die Versammlungsleitung findet sich in § 6 Abs. 4 VersG NRW. Danach darf die Versammlungsleitung Personen, welche die Ordnung der Versammlung erheblich stören, ausschließen. Um mögliche Eskalationen aus einem von der Versammlungsleitung verfügten Ausschluss gar nicht erst entstehen zu lassen, sieht das Gesetz ferner vor, dass die Polizei einem vorgesehenen Ausschluss von Teilnehmern zuvor zustimmen muss. Meinungsäußerungen, die inhaltlich von der Auffassung der Mehrheit der Versammlungsteilnehmer abweichen, sind im Rahmen einer der Erörterung dienenden Versammlung keine Störung. Soweit eine erhebliche Störung von Teilnehmern der Versammlung nicht gegeben ist, darf weder die Versammlungsleitung noch die Polizei Teilnehmer aus Versammlungen einseitig ausschließen. Dies folgt aus der hohen verfassungsrechtlichen Bedeutung der Versammlungsfreiheit des Art. 8 Grundgesetz (GG). Ist eine im Bereich einer Versammlung befindliche Person nicht Teilnehmer der Versammlung im Rechtssinne, kommt mangels Grundrechtsschutz nach Art. 8 GG ein Platzverweis durch die Polizei nach dem Polizeigesetz in Betracht, soweit die Voraussetzungen dieser Eingriffsgrundlage im Einzelfall gegeben sind.
- Unter welchen Umständen stimmen die Polizeibehörden des Landes NRW einem Ausschluss nach § 6 Abs. 4 S. 2 VersG NRW zu?
Nach § 6 Abs. 4 S. 2 VersG NRW darf ein Ausschluss durch die Versammlungsleitung nur mit vorheriger Zustimmung der Polizei ausgesprochen werden. In der amtlichen Begründung zu der Vorschrift ist dazu Folgendes festgehalten: „Ein derartiger Ausschluss kann indes erhebliches Konflikt- und Eskalationspotential bergen; die daraus entstehenden Gefahren können wesentlich gravierender sein als das Belassen der Person in der Versammlung. Diese Gefahrenanalyse kann in sachgerechter Form nur die Polizei vornehmen, nicht die Versammlungsleitung. Deshalb darf bei Versammlungen unter freiem Himmel der Ausschluss nur verfügt werden, wenn die Polizei zuvor ausdrücklich zugestimmt hat.“ (Amtl. Begr. zit. nach Schönen-broicher, Versammlungsgesetz Nordrhein-Westfalen, 2022, S. 65). Die Polizei hat daher erstens zu prüfen, ob die tatbestandlichen Voraussetzungen eines Ausschlusses (erhebliche Störung) gegeben sind; zweitens, ob die Zustimmung bzw. eine eigene Ausschlussentscheidung – einschließlich der möglichen Durchsetzung im Wege unmittelbaren Zwangs bei Nichtbefol-gen – einsatzfachlich unter den genannten Erwägungen verantwortbar wäre.
- Stimmen die Polizeibehörden des Landes NRW dem Ausschluss von Personen nach § 6 Abs. 4 S. 2 VersG NRW zu, nur weil es sich bei diesen Personen um „Verfassungsfeinde“ (nach Definition des Innenministers) handelt?
Die Polizei als Versammlungsbehörde in Nordrhein-Westfalen handelt bei allen Versammlungen im Land strikt rechtsstaatlich, neutral und verhältnismäßig. Sie hat die vom Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung betonte hohe Bedeutung der Versammlungsfreiheit nach Art. 8 GG stets vor Augen und bezieht diese als verfassungsrechtlichen Belang in jede Erwägung über jedwede anstehende Eingriffsmaßnahme zur Beschränkung des Grundrechts vollumfänglich ein. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts steht auch den „Feinden der Freiheit“ das Grundrecht aus Art. 8 GG zu, solange nicht gegen § 130 StGB oder einen sonstigen Straftatbestand verstoßen wird, der abgestufte und verhältnismäßige Eingriffsmaßnahmen auslösen kann
(BVerfGE 124, 300). Die freiheitliche verfassungsrechtliche Ordnung in Deutschland lässt ablehnende und negierende geistige Äußerungen zu, bis daraus ein Verhalten wird, das zu Rechtsgutsverletzungen führt oder diese heraufbeschwört. Anders gesagt: Wenn aus Worten Taten werden (Horst Dreier, Grundrechte als Gefahr? – Die Risiken einer freiheitlichen Verfassung, in: FAZ vom 26. August 2021, S. 6). Das Grundgesetz erzwingt keine Werteloyalität, auch und gerade nicht bei Demonstrationen: Das „wichtigste Heilmittel für Gefahren, die von Meinungsäußerungen ausgehen, ist für die Verfassung die freie öffentliche Diskussion selbst, also mehr Rede, nicht erzwungene Stille“ (Hong, in: Ridder/Breitbach/Deiseroth (Hg.), Versammlungsrecht des Bundes und der Länder, 2. Aufl. 2020, § 15 Rn. 444). Die Polizei als Garantin der Versammlungsfreiheit trifft eine strikte Neutralitätspflicht zu Versammlungsinhalten, die nicht strafbar sind, auch solchen, die als extremistisch oder radikal – aber nicht strafbar – zu klassifizieren sind. Diese verfassungsrechtlichen Vorgaben werden von der Polizei in den täglichen anspruchsvollen Einsatzlagen bei Versammlungen ausnahmslos und strikt beachtet und eingehalten.
Eine andere Frage ist, welche Haltung in der Bürgerschaft selbst zu extremistischem oder radikalem Gedankengut bei einzelnen Versammlungen eingenommen wird. Aus einer bürger-schaftlichen und Werten verpflichteten Sicht ist es politisch sicherlich zu begrüßen, wenn Leiter und Teilnehmer von Versammlungen extremistisches oder radikales Gedankengut brandmarken und sich argumentativ dagegen wenden. Nach den Berichten der Polizei zu den Pandemie-Versammlungen in den letzten Monaten ist dies auch durchaus bei manchen Versammlungen geschehen, bei denen einzelne Personen radikales oder extremistisches Gedankengut verbreiten wollten. Die verfassungsrechtlich gebundene Neutralität des Staates und seiner Eingriffsorgane einerseits und die bürgerschaftlich-weltanschauliche Haltung andererseits sind insoweit indes stets strikt zu trennen, um der Freiheitsgarantie des Art. 8 GG zu entsprechen.