Die „Rassismus“-Definition der Landesregierung

Kleine Anfrage
vom 03.11.2021

Kleine Anfrage 6094des Abgeordneten Sven Tritschler vom 03.11.2021

 

Die „Rassismus“-Definition der Landesregierung

Das Land NRW gab im Jahre 2016 ein Handlungskonzept gegen „Rassismus” heraus1 und bekräftigte im Jahre 2020 den Beschluss zu einer Weiterentwicklung2. Zwei Seiten3 des Konzepts behandeln den Begriff Rassismus, wobei zahlreiche wesentliche Fragen offenbleiben. Unklar ist etwa, ob die angedeuteten Tatbestandsmerkmale kumulativ oder alternativ gelten sollen und ob und welche Aussagen sich die Landesregierung zu eigen macht. Die Ausführungen enthalten außerdem jeweils stark wertungsbedürftige Begriffe oder sind so allgemein gehalten, dass einschränkende Ausnahmen bei der Subsumption offensichtlich jeweils nachgeschoben werden würden.

So sei Rassismus nach der im Handlungskonzept zitierten Definition von Rommelspacher eine Praxis „zur Markierung von Unterschieden” zur Abgrenzung, um Handlungen zum Ausschluss anderer von Ressourcen und die eigene Privilegierung zu begründen.4

Demnach handelt es sich bereits beim Konzept des Nationalstaats um Rassismus. Dabei bezeichnen sich Menschen als „Inländer” (Markierung) und erklären damit einen Unterschied zwischen sich und anderen (Abgrenzung). Inländer begründen mit ihrem Status etwa ihr Wahlrecht (politische Handlung) und den Zugriff auf diverse Leistungsrechte und Schutzpflichten des Staates, die qualitativ, quantitativ, räumlich und personell beschränkt sind. So kommen sie in einen größeren oder ausschließlichen Genuss von Ressourcen (Sicherung eines privilegierten Zugangs), während andere (Ausländer) weniger oder keinen Zugriff auf diese erhalten (teilweise oder vollständiger Ausschluss von Ressourcen).

Diese Unterscheidungen sind allerdings die Grundlage eines jedes Staates, von denen auch das Grundgesetz implizit und explizit (u.a. Art. 116, 8, 9, 11, 12, 16, 54, 56 GG) ausgeht.

In Anbetracht dieser Tatsache erscheint es zweifelhaft, ob die Landesregierung die in ihrem Handlungskonzept zitierte Definition als maßgeblich für ihr Handeln verstanden wissen will.

Die weiteren Erläuterungen (7.2.1.a bis d) sind ebenfalls mit großer Unklarheit behaftet: Notwendige Bedingung für Rassismus sei demnach jedenfalls die „Macht einer Gruppe”. Unzählige Unklarheiten bleiben, etwa wie die Mächtigkeit einer Gruppe gemessen werden werden soll, welche Mehrheiten taugliche Gruppen sind, nach welchen Kriterien Personen als Teil einer Gruppe anzusehen sind und wer das letzten Endes entscheidet.

Wegen maximaler begrifflicher Unklarheiten wird auch bisweilen in der Wissenschaft zugegeben, dass keine eindeutige Definition des Begriffs Rassismus existiere. 5, 6, 7, 8, 9, 10, 11

Vor diesem Hintergrund frage ich die Landesregierung:

  1. Welche Definition, die ein eindeutiges Subsumptionsergebnis von Lebenssachverhalten unter den Begriff „Rassismus” zulässt, legt die Landesregierung bei ihren Aktivitäten zugrunde? (Auslegungsbedürftige Begriffe im Definiens bitte ebenfalls definieren)
  2. Gibt es in den verschiedenen Ministerien eine einhellige Definition des Begriffs Rassismus?
  3. Wie ist es mit den Postulaten der Aufklärung (vernünftiges Handeln als Prinzip), deren Ablehnung die Landesregierung berechtigterweise kritisiert12, vereinbar, dass sie – unter Einsatz großer Geldmittel – gegen etwas vorgehen möchte, das sie jedenfalls bis heute offensichtlich nicht klar benennen kann?

Sven Tritschler

 

Anfrage als PDF

 

1 Integriertes Handlungskonzept gegen Rechtsextremismus und Rassismus; Ministerium für Familie, Kinder, Jugend, Kultur und Sport des Landes Nordrhein-Westfalen (Herausgeber), 2016 (Integriertes Handlungskonzept).

2 Schriftlicher Bericht des Ministeriums für Kultur und Wissenschaft an den Hauptausschuss des Landtags zur Weiterentwicklung des „Integrierten Handlungskonzepts gegen Rechtsextremismus und Rassismus des Landes Nordrhein-Westfalen“ (lntHK REX).

3 Integriertes Handlungskonzept, S. 49 f.

4 Ebenda S. 49.

5 “Obgleich es innerhalb der gegenwärtigen Rassismusforschung keine einheitliche Bestimmung von Rassismus gibt […] ” Integriertes Handlungskonzept, S. 49.

6 “Es gibt keine allgemein akzeptierte Definition von Rassismus.” https://www.humanrights.ch/de/ipf/menschenrechte/rassismus/dossier/was-ist-rassismus/ (abgerufen am 1.7.2021).

7 „Es gibt viele Definitionen von Rassismus.“ http://www.gib-rassismus-keine-chance.org/info/was-versteht-man-unter-rassismus.php (abgerufen am 27.1.2015).

8 “Verdeutlichen Sie, dass es keine umfassende Definition von Rassismus gibt” https://www.gew.de/fileadmin/media/publikationen/hv/Schule/Unterrichtseinheiten/IKR_GEW_Unterric htsmaterialien_neu_Webversion.pdf S. 20, (abgerufen am 10.1.2021).

9 “Obwohl zu Rassismus viel geforscht wird, gibt es noch keine allgemein anerkannte Definition des Begriffs «Rassismus».” Landesaktionsplan gegen Rassismus und Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit, Ministerium für Familie, Frauen, Jugend, Integration und Verbraucherschutz Rheinland-Pfalz (Herausgeber), 2020, S. 68.

10 “[Der] Begriff Rassismus [weist] eine große Flexibilität, Wandelbarkeit und Anpassungsfähigkeit [auf].” Zuber, J. (2015). Gegenwärtiger Rassismus in Deutschland (Dissertation) S. 54.

11 “Uns ist bewusst, dass es andere Rassismusbegriffe gibt […]” Zick, Küpper, Berghan; Verlorene Mitte – Feindselige Zustände. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2018/19, S. 59.

12 “Rechtsextreme Ideologien sind durch eine im Kern mythische Weltanschauung geprägt, die sich als fundamentale Opposition zu den universalistischen Postulaten der Aufklärung und der demokratischen Ideen der Französischen Revolution versteht.“ Integriertes Handlungskonzept, S. 43.


Die Ministerin für Kultur und Wissenschaft hat die Kleine Anfrage 6094 mit Schreiben vom 1. Dezember 2021 namens der Landesregierung im Einvernehmen mit dem Ministerpräsiden­ten sowie allen übrigen Mitgliedern der Landesregierung beantwortet.

  1. Welche Definition, die ein eindeutiges Subsumptionsergebnis von Lebenssach­verhalten unter den Begriff „Rassismus” zulässt, legt die Landesregierung bei ih­ren Aktivitäten zugrunde? (Auslegungsbedürftige Begriffe im Definiens bitte eben­falls definieren)
  2. Gibt es in den verschiedenen Ministerien eine einhellige Definition des Begriffs Rassismus?
  3. Wie ist es mit den Postulaten der Aufklärung (vernünftiges Handeln als Prinzip), deren Ablehnung die Landesregierung berechtigterweise kritisiert, vereinbar, dass sie – unter Einsatz großer Geldmittel – gegen etwas vorgehen möchte, das sie jedenfalls bis heute offensichtlich nicht klar benennen kann?

Die Fragen 1 bis 3 werden aufgrund des Sachzusammenhangs gemeinsam beantwortet.

In der Wissenschaft gibt es keine einheitliche Definition von Rassismus. Dies hängt weniger mit einer unzureichenden „Arbeit am Begriff“ zusammen, sondern ist dem Umstand geschul­det, dass sich in den unterschiedlichen begrifflichen Fassungen und Akzentuierungen jeweils unterschiedliche Perspektiven auf das Themenfeld „Rassismus“ manifestieren. So betont z. B. eine sozialpsychologische Perspektive mit dem Fokus auf individuelle kognitive Aneignungs­prozesse rassistischer Stereotype andere Aspekte von „Rassismus“ als eine sozialwissen­schaftliche Perspektive mit ihrem Fokus auf gesamtgesellschaftliche und damit strukturelle und institutionelle Aspekte und Effekte von Rassismus.

Im Kontext der Landesregierung lassen sich zwei begriffliche Fassungen von Rassismus un­terscheiden – eine umfassende sozialwissenschaftlich orientierte Begriffsbestimmung im Rah­men des Integrierten Handlungskonzepts gegen Rechtsextremismus und Rassismus (IntHK REX) sowie eine spezifischere Fassung im Arbeitsbereich des Verfassungsschutzes.

  1. Rassismus-Begriff im Integrierten Handlungskonzept gegen Rechtsextremismus und Rassismus (IntHK REX)

Im IntHK REX sind ressortübergreifend alle präventiven Maßnahmen der Landesregierung in einem einheitlichen Zielsystem zusammengefasst. Beim Rassismus-Begriff wurde dabei be­wusst auf ein Verständnis von Rassismus als gesamtgesellschaftliches Phänomen abgestellt. Damit sollte einerseits der gesellschaftsweiten, schicht- und milieuübergreifenden Verbreitung von Rassismus Rechnung getragen werden. Andererseits sollten damit die strukturell-institu­tionellen Aspekte von Rassismus sowie das weite Feld der nicht-intendierten, impliziten ras­sistischen Praxen in den Blick genommen werden (Integriertes Handlungskonzept, S. 48 ff.).

Im Jahr 2019 wurde das IntHK REX extern evaluiert. Das gewählte Rassismusverständnis wurde – namentlich mit Blick auf den Einbezug des neueren sozialwissenschaftlichen For­schungsstandes – ausdrücklich positiv gewürdigt. Begriffliche Unklarheiten wurden von den Evaluatorinnen und Evaluatoren nicht festgestellt (Bericht zur Evaluation des Handlungskon­zepts, S. 39 f.).

  1. Rassismus-Begriff des Verfassungsschutzes

Im Arbeitsbereich des Verfassungsschutzes wird demgegenüber Rassismus begrifflich deut­lich spezifischer gefasst. Rassismus wird hier – vergleichbar einer sozialpsychologischen Per­spektive – in der interaktionell-individuellen Dimension von „spezifischen Vorurteilen und Kli­schees“ in den Blick genommen (Antwort zur Kleinen Anfrage 670: „Begriffsdefinitionen des Landesamtes für Verfassungsschutz“, LT-Drs. 17/1862). Begründet ist diese im Vergleich zum IntHK REX selektive Perspektive auf Rassismus vor dem Hintergrund des spezifischen Auf­trags des Verfassungsschutzes, Informationen zu extremistischen Bestrebungen von Perso­nen und Organisationen zu beschaffen. Die Bearbeitung/Beobachtung institutioneller und ge­sellschaftsstruktureller Aspekte von Rassismus wie auch das Feld der nicht-intendierten ras­sistischen Praxen gehören ersichtlich nicht zum Arbeitsauftrag des Verfassungsschutzes und werden folgerichtig in der Begriffsdefinition nicht thematisiert.

 

Antwort als PDF

Beteiligte:
Sven Tritschler