Antragder AfD-Fraktion vom 04.02.2020
Entlastung für unsere Grundschulen – VERA-Verfahren absetzen!
I. Ausgangslage
Grundschulen spielen in dem in Jahrzehnten gewachsenen gegliederten Schulsystem, welches Deutschland zu seinem wirtschaftlichen Erfolg verholfen hat, eine Schlüsselrolle. Seit Beginn der Weimarer Republik ist sie die Pflichtschule für alle Kinder und legt damit die Basis für den späteren Schulerfolg. Die gute Heranführung an Bildung und die Vermittlung fundierter Grundfertigkeiten im Rechnen, Schreiben und Lesen ermöglichen den Kleinsten in unserer Gesellschaft vielfältige Entfaltungswege in unserem durchlässigen Schulsystem.
Lange Zeit hieß es, das Fundament des Bildungshauses stehe fest und solide, denn schließlich schnitt Deutschland in den Grundschulvergleichen einst einmal besser ab als im Pisa-Test, welcher die Fähigkeiten von 15-Jährigen misst. Dieses Fundament ist mittlerweile stark beschädigt und bröckelt immer weiter. Am 13. Oktober 2017 wurde der Ergebnisbericht zum IQB-Bildungstrend 2016 vorgestellt. In Deutschland insgesamt haben sich die durchschnittlichen Leistungen der Grundschüler zwischen 2011 und 2016 in den getesteten Kompetenzbereichen Mathematik und Deutsch deutlich verschlechtert. Der Präsident des Deutschen Lehrerverbands reagierte mit folgenden Worten auf die erschreckenden Ergebnisse:
„Ein hochtechnisiertes Industrieland und ein Kulturstaat wie Deutschland darf sich nicht damit abfinden, dass innerhalb von fünf Jahren bei den grundlegenden Kulturtechniken wie Lesen, Zuhören, Schreiben und Rechnen derart massive Leistungsabfälle zu beobachten sind wie dies laut IQB-Bildungstrend 2016 nicht nur in einzelnen Bundesländern, sondern bundesweit der Fall ist.“
Die Forscher der internationalen Iglu-Studie ließen ähnliche Alarmsignale verlautbaren. Grundschüler aus benachteiligten Familien können immer schlechter lesen. „Wer in der Grundschule nicht richtig lesen kann, wird das bis zum Schulabschluss kaum nachholen“, warnt die Kinderbuchautorin Kirsten Boie.1
Die STEP-Studie des Schreibmotorik-Instituts gewährte eine alarmierende Zustandsbeschreibung, die einen weiteren Leistungsabfall erwarten lässt. Die Studie zeigt, dass sich die Handschrift sowohl im Primar- als auch im Sekundarbereich enorm verschlechtert hat. Allein im Primarbereich ist eine Verschlechterung der Handschrift mit einem Negativwert von rund 90 Prozent nachgewiesen. Ähnlich unerfreulich sieht es im Sekundarbereich aus. Auch die Zeitspanne beschwerdefreien Schreibens fällt erschreckend aus. Nur zwei von fünf Schülern können länger als 30 Minuten beschwerdefrei schreiben. Dabei liegt NRW mit gerade einmal 36 Prozent unter dem Bundesschnitt von 40 Prozent.
Eine repräsentative Umfrage des Verbands für Bildung und Erziehung (VBE) zeigt die Verzweiflung der Lehrkräfte.2 89 Prozent der Lehrer geben an, dass sich die erforderlichen Kompetenzen von Grundschülern verschlechtert hätten. Häufig zu beobachten sei insbesondere das unleserliche und langsame Schreiben. „Es geht dabei nicht in erster Linie ums Schönschreiben oder um eine Kulturtechnik, die heute mehr oder weniger verzichtbar erscheint. Handschreiben unterstützt die Rechtschreibung, das Lesen, das Textverständnis, letztlich die schulischen Leistungen insgesamt“, erklärte die Geschäftsführerin des gemeinnützigen Schreibmotorik-Instituts.
Der geschilderte Ist-Zustand ist eine Folge des angestrebten und in erster Linie ideologisch begründeten Systemwechsels im Bildungswesen. In diesem Zusammenhang sind die Margi-nalisierung der Lehrkräfte im Unterrichtsgeschehen, die Auflösung der leistungshomogenen Lerngruppen, Inklusion und die Auflösung der Förderschulen, jahrgangsübergreifende Lerngruppen sowie der Abbau des Leistungsgedankens zu erwähnen. Die zwischen 1992 und 1995 entworfene Utopie einer „neuen“ Schule der Freiwilligkeit und der spielerischen Wissensaneignung hat den heutigen schulpolitischen Scherbenhaufen verursacht. Erlebte Disziplinlosigkeit und mangelnder Respekt seitens der Schüler, wie sie bislang nur aus der Sekundarstufe bekannt waren, sind längst Lebensrealität von Grundschullehrkräften geworden. So überrascht es auch nicht, dass Schulen in sozialen Brennpunkten in dieser Notlage sogar einen privaten Wachdienst engagieren. Ein Beispiel dafür ist die Grundschule in Berlin-Schöne-burg.3 Dort, wo die staatliche Aufsicht im Schulwesen aufgibt, wird die Bildungsapartheid be-schleunigt.4
In ganz Deutschland haben laut IQB mittlerweile 34 Prozent der Grundschüler Migrationshin-tergrund, neun Prozentpunkte mehr als vor fünf Jahren. In NRW zeichnet sich ein konkreteres Bild ab, denn hierzulande sind Migrantenkinder an vielen NRW-Schulen in der Mehrheit. 72 Prozent der nordrhein-westfälischen Grundschulen haben einen Migrantenanteil von über 25 Prozent. 932 Grundschulen sogar zwischen 50-100 Prozent. An jeder dritten Grundschule in NRW hat mindestens die Hälfte der Kinder Migrationshintergrund. An 932 der 2787 Grundschulen hat somit mindestens jeder zweite Schüler Migrationshintergrund. An 56 Grundschulen, die im Ruhrgebiet lokalisiert sind, werden fast ausschließlich Kinder mit Migrationshinter-grund beschult.5
Erst kürzlich beschäftigte sich der nordrhein-westfälische Landtag im Rahmen einer Anhörung zum Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN „Zukunftsplan Grundschule“ (Drs. 17/6739) mit der Schulform Grundschule. Im Rahmen der Anhörung wurden mehrfach die unterrichtsorganisatorischen Anforderungen an die Lehrkräfte und das Erbe eines ideologischen Systemwechsels kritisiert: „Organisatorische und planerische Aufgaben der Schulverwaltung, multiprofessionelle Kooperationen, Unterrichtsplanungen auf mehreren Ebenen der Kompetenzstufen und nun noch zieldifferentes inklusives Arbeiten sowie die Alphabetisierung bildungsferner Zuwandererkinder bringt die Lehrkräfte an den Rand ihrer Leistungsfähigkeit und darüber hinaus.“6
Somit hat es oberste Priorität, Grundschullehrkräfte im schulischen Alltag von Belastungen, die keinen Mehrwert bieten, zu befreien. „Lehrkräfte treffen bei ihrer Arbeit mit Kindern auf unterschiedliche Lernniveaus. Im Rahmen der praktizierten individuellen Förderung, des In-klusionsprozesses, der Zuwanderung von oft bildungsfernen Kindern aus Südosteuropa und den Flüchtlingen aus arabischen Ländern, die oft nicht oder mit arabischen Schriftzeichen alphabetisiert worden sind verbieten sich vergleichende Arbeiten. VERA ist vor diesem Hintergrund kein geeignetes Messinstrument, sondern diskriminiert alle Akteure“, heißt es in der GEW-Zeitung vom 21. Mai 2019.7 Die Landesregierung hingegen befürchtet mit der Abschaffung des VERA-Verfahrens einen Verlust für die Schulen hinsichtlich der Weiterentwicklung des Fachunterrichts und somit ein Hemmnis in der bestmöglichen Förderung der Schüler. Diese Annahme steht der eigenverantwortlichen Schule diametral entgegen!
Die unterrichtsorganisatorischen Anforderungen an Lehrkräfte müssen soweit zurückgefahren werden wie möglich. Der Antwort der Landesregierung auf die Kleine Anfrage des Abgeordneten Seifen „Das Vera-Verfahren: Bereicherung oder nur unnötiger Aufwand?“ mit der Drs. 17/7255 verdeutlichte, dass das VERA-Verfahren offensichtlich nicht als Bereicherung für die nordrhein-westfälischen Schulen angesehen werden kann. So heißt es, dass die zentrale Funktion der Vergleichsarbeiten (VERA) in der Unterstützung der Schulen bei der Unterrichts-und Schulentwicklung liege. Demnach würden die Vergleichsarbeiten für ausgewählte fachliche Schwerpunkte das Leistungsniveau der Schüler zeigen. Die Landesregierung führt weiter aus, dass die kompetenzorientierten Diagnosen und die didaktischen Informationen Lehrkräften in Ergänzung zu ihren unterrichtspraktischen Erfahrungen wertvolle Anhaltspunkte für die weitere Planung pädagogischer Interventionen und Fördermaßnahmen gebe und den Diskurs für eine kooperative Unterrichtsentwicklung im Kollegium unterstütze. Es ist allgegenwärtig bekannt, dass Schulen und Schulaufsicht zur kontinuierlichen Qualitätsentwicklung und Qualitätssicherung verpflichtet sind, dies schließt die gesamte Bildungs- und Erziehungsarbeit der Schule ein (§ 3 Absatz 3 SchulG), weshalb die Bewertung der VERA-Verfahrens seitens der Landesregierung widersprüchlich erscheint.
Das VERA-Verfahren darf zwar nicht als Instrument zur Leistungsbewertung angesehen werden, aber dennoch werden die Schüler hier Prüfungen unterzogen. Dabei entspricht die Konzeption der Prüfung nicht einmal im Ansatz grundschulpädagogischer Standards. Die Auswertung dieser Tests erfolgt auf Basis engstirnig vorgegebener Kriterien, welche aus einer kritischen Haltung heraus betrachtet werden müssen. Der Bewertungsschlüssel lässt lediglich eine Bewertung in den Kategorien richtig oder falsch zu, wonach Punkte für konkrete Teilantworten nicht vergeben werden. Die erhobenen Daten werden an QUA-LiS weitergeleitet, die Auswertung erfolgt jedoch durch ein beauftragtes Institut für empirische Bildungsforschung der Universität Landau. Doch der diagnostische Mehrwert dieses kostspieligen Verfahrens scheint derartig begrenzt zu sein, dass die Einschätzungen der Lehrerschaft teilweise zu widersprüchlichen Bewertungen führen. Ebenso ambivalent erscheint der reale Ertrag für die Lehrkräfte. Angenommen, das VERA-Verfahren böte Lehrkräften als Diagnoseinstrument die Möglichkeit, Kenntnisse darüber zu erlangen, über welche Fähigkeiten und Fertigkeiten die eigenen Klassenkinder verfügen (als sei dies Klassenlehrern nicht ohnehin bekannt), stellt sich dennoch die Frage, welche Verbesserung sich bislang für den Schulalltag ergeben hat. Die Praxis zeigt, dass das VERA-Verfahren für die Kinder und für die Lehrer frustrierend ist und als Belastung für beide Seiten wahrgenommen wird. Die klassenbezogene Veröffentlichung der Resultate innerhalb des Lehrerkollegiums und die Vorstellung der Resultate auf der Schulkonferenz erhöhen den Druck im Schulalltag völlig unnötig. Letztlich werden die pädagogischen Konsequenzen im Nachgang des Verfahrens lediglich für die Schulaufsicht formuliert; denn für den Schulalltag hat das Verfahren keine Bedeutung.
Fakt ist, dass das VERA-Verfahren als Teil eines Bündels von Maßnahmen zur Gewährleistung von Voraussetzungen für eine evidenzbasierte Qualitätsentwicklung und -sicherung auf der Ebene der einzelnen Schule dient. Spätestens seit den Pisa-Erhebungen und den OECD-Quotentabellen verkommt Bildung immer mehr zum Untertanen des Funktionalismus’ und des Empirismus’, wonach Wettbewerbs- und Effizienzkriterien die Zukunft unserer Schulen bestimmen. Die Qualitätsanalyse ist lediglich die politische Reaktion auf einen schon in den siebziger Jahren eingeleiteten Trend. Die Steuerungsmechanismen, wie sie für Wirtschaftsprozesse üblich sind, werden immer mehr für die Steuerung bildungspolitischer Prozesse übernommen. Dies ist eine fatale Entwicklung in anbetracht der Tatsache, dass die Institution Schule mit ihrem Bildungsauftrag nicht nur für die kognitiv-intellektuelle Entwicklung, sondern auch für die Persönlichkeitsentwicklung von jungen Menschen verantwortlich ist. Während in der Wirtschaft unter marktwirtschaftlichen Aspekten der Gewinnmaximierung gehandelt wird, darf die Bildungspolitik auf keinen Fall ausschließlich nach Rentabilitätsaspekten gesteuert werden. Wenn Bildungspolitiker somit von „Qualitätsanalyse“, „Qualitätsmanagement“, „Qualitätsstandards“ oder sogar von einer „Qualitätsoffensive“ an unseren Schulen sprechen, dann trifft ein betriebswirtschaftlicher Optimierungswahn auf politische Hilflosigkeit.
Darüberhinaus gibt es mit dem Instrument der Qualitätsanalyse in der Praxis erhebliche Probleme hinsichtlich des Nutzens und der Effizienz. Dollase fasste seine Kritik wie folgt zusammen: „Sie führt zu einer Aufblähung der Bürokratie, d. h. zu mehr Jobs in einem von der Arbeit weit entfernten Bereich, sie ist zu teuer, sie wird von Leuten gemacht, die nichts von der Sache verstehen, sie verbessert nichts, sie ist unwirksam und sie fördert eine parasitäre Führungs-kultur.“8 Die Unwirksamkeit dieses Instruments lässt sich insbesondere dadurch erklären, dass die Input-Zufuhr als Voraussetzung für die Evaluation keine Rolle spielt, sondern die Qualitätsanalyse sich allein der „reinen Outputsteuerung“9 zuwendet.
Schule braucht keine Inspektion durch Unternehmensberater, sondern ausreichend Ressourcen, eine Entschlackung von den auferlegten Problemen sowie eine Befreiung von der Pisa-Hysterie und von anderweitigen Quotenneurosen. Bildungszuwachs kann nicht mit den Messinstrumenten gemessen oder statistisch ermittelt werden, mit denen man technische oder organisatorische Abläufe messen kann. Werden Lehrkräfte von unnötigen bildungsirrelevanten Aufgaben befreit, kommt dies den Schülern zu Gute.
II. Der Landtag stellt fest:
1. Für Deutschland als Hochtechnologieland ist erstklassige Bildung die wichtigste Voraussetzung für den wirtschaftlichen Wohlstand des Landes und den internationalen wirtschaftlichen Erfolg.
2. Bei einem immer rascheren Wandel unserer Gesellschaft steigt das Interesse an der ökonomischen Verwertbarkeit von Bildung (Bildungsökonomie). Die Bildung gerät somit in Gefahr, zu Humankapital degradiert zu werden.
3. Das Instrument der Qualitätsanalyse ist für die Erfolgsüberprüfung von Unterricht und Erziehung vollkommen unbrauchbar und somit lediglich ein „pädagogisches Pla-cebo“10, das zur Optimierung von pädagogischer Bildungs- und Erziehungsarbeit nichts beitragen kann.
4. Die Institution Schule benötigt keinen Unternehmensberater im Sinne eines „critical friends“11, wie ihn links-grüne Ideologen fordern, sondern eine Entschlackung und eine Entschleunigung von der auferlegten Ideologie. Grundschullehrkräfte müssen von unterrichtsorganisatorischen Anforderungen und dem Erbe des ideologischen Systemwechsels befreit werden, um ihren gewaltigen Aufgaben im Unterricht gerecht zu werden.
5. Der schulische Alltag wird durch zahlreiche Maßnahmen begleitet und evaluiert. Wie eingangs beschrieben gewähren vielfältige und auf unterschiedliche Fachkompetenzen ausgerichtete Studien regelmäßig Einblick in das Leistungsniveau deutscher Schüler.
6. Das hohe Kosten verursachende VERA-Verfahren bietet Lehrkräften keinen diagnostischen Ertrag, sondern führt zu einer unnötigen Belastung des Schulalltages.
III. Der Landtag fordert die Landesregierung auf:
das VERA-Verfahren in der Grundschule temporär einzustellen.
Helmut Seifen
Markus Wagner
Andreas Keith
und Fraktion
1 https://www.zeit.de/2018/23/grundschulen-bildung-lehrer-leistung-probleme (abgerufen am 01.10.2019).
2 https://www.welt.de/wirtschaft/karriere/bildung/article191585215/Handschrift-So-schlecht-sind-deut-sche-Schueler.html (abgerufen am 06.08.2019).
3 https://www.bz-berlin.de/berlin/tempelhof-schoeneberg/spreewald-grundschule-schoeneberg-wach-schutz (02.02.2019).
4 Vgl. https://www.tagesspiegel.de/berlin/soziale-spaltung-berliner-eltern-meiden-grundschulen-im-ei-genen-kiez/25401790.html (abgerufen am 27.01.2020).
5 Vgl. Kleine Anfrage des Abgeordneten Seifen mit der Drs. 17/1847.
6 Stellungnahme 17/2126 S. 4 vom 20. Dezember 2019
7 file:///C:/Users/seli/AppData/Local/Microsoft/Windows/INetCache/Content.Outlook/6N8AXYEC/GEW-167-04-04-2019-Anträge.pdf (abgerufen am 09.11.2019).
8 Vgl. Dollase, Rainer (2012): Sinn und Unsinn des Qualitätsmanagements. In: Deutscher Lehrerverband (Hrsg.): Wozu Bildungsökonomie? Berlin, S.86.
9 Dollase, Rainer (2006): Kritik der Qualitätssicherung – Bürokratische, sinnlose und sinnvolle Wege zu mehr Qualität, S. 10.
10 Kraus, Josef (2017): Wie man eine Bildungsnation an die Wand fährt (S. 138).
11 Antrag der Fraktion der SPD/B90 „Qualitätsanalyse – ein wichtiger Baustein für die Schulqualität (Drs. 16/6121) vom 24.06.2014: S. 3.