Kleine Anfrage 2727
der Abgeordneten Zacharias Schalley und Carlo Clemens AfD
Etikettenschwindel Inklusion? Unverhältnismäßiger Anstieg der Anzahl von Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf an Regelschulen
In einem Bericht des Fernsehformats Monitor vom 19.01.2023 wurde über die Problematik vermehrter Fehldiagnosen im Kontext von Kindern und Jugendlichen mit sonderpädagogischem Förderbedarf berichtet. Schüler in Regelschulen sollen vermehrt eine Lernbehinderung diagnostiziert bekommen haben, obwohl es dafür keine ausreichende Grundlage gab.1
Der Sozialforscher Marcel Helbig spricht von einem „Etikettenschwindel, der nur darauf zurückzuführen ist, dass wir Personen, die vorher auch schon an der normalen Schule, an der Regelschule, gewesen sind, nun aber etikettieren als lernbehindert, als behindert im Hinblick auf geistige Entwicklung oder dergleichen.“2 Laut Helbig produziere man so „mehr Zahlen, mehr Inklusion auf den ersten Blick. Aber am Ende produzieren wir nur mehr als behinderte Kinder Etikettierte.“3
Laut Statistik sank die Zahl der Kinder und Jugendlichen an Förderschulen deutschlandweit von 2009 bis 2021 um 55.642. 2009 waren noch 387.792 Schüler auf einer Förderschule, 2021 waren es nur noch 332.150.4 Im selben Zeitraum ist allerdings ein überproportionaler Anstieg von Schülern mit Lernbehinderung an Regelschulen von 162.491 zu verzeichnen.5 So gab es dort 2009 lediglich 95.475 Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf, 2021 waren es bereits 257.966.6
Im Monitor-Bericht werden die steigenden Diagnosen an Regelschulen mit zusätzlichen Stellen begründet, welche die Schulen ab einer bestimmten Anzahl an Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf erhalten. Es wird gar eine Kapitalisierung der Kinder unterstellt.7 Auch im Vorschulbereich ist im Zeitraum von 2011 bis 2020 ein Anstieg von 1.845 Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf zu verzeichnen. So stieg die Zahl von 202 im Jahr 2011 auf 2.047 in 2020.8
Dabei ist die Entwicklung der Anzahl an Fehldiagnosen von Lernbehinderungen innerhalb des Landes NRW von öffentlichem Interesse.
Vor diesem Hintergrund fragen wir:
- Wie entwickelte sich die Zahl juristisch festgestellter, fehlerhaft diagnostizierter Fälle mit sonderpädagogischem Förderbedarf bei Kindern an Regelschulen im Primarbereich in den Jahren von 2009 bis 2022 in NRW? (Bitte aufschlüsseln nach Schuljahren, Bezirksregierung und Kommune)
- Wie entwickelte sich die Zahl juristisch festgestellter fehlerhaft diagnostizierter Fälle mit sonderpädagogischem Förderbedarf bei Kindern an Regelschulen der Sekundarstufe I in den Jahren von 2009 bis 2022 in NRW? (Bitte aufschlüsseln nach Schuljahren, Bezirksregierung und Kommune)
- Wie entwickelte sich die Zahl juristisch festgestellter fehlerhaft diagnostizierter Fälle mit sonderpädagogischem Förderbedarf bei Kindern an Regelschulen der Sekundarstufe II in den Jahren von 2009 bis 2022 in NRW? (Bitte aufschlüsseln nach Schuljahren, Bezirksregierung und Kommune)
- Wie hoch schätzt die Landesregierung das Dunkelfeld fehlerhaft diagnostizierter Fälle sonderpädagogischen Förderbedarfs für Zeitraum 2009 bis 2022 in NRW ein?
- Wie erklärt sich die Landesregierung grundsätzlich die stark gestiegene Zahl diagnostizierter Fälle mit sonderpädagogischem Förderbedarf an Schulen in NRW?
Zacharias Schalley
Carlo Clemens
1 Vgl. https://www1.wdr.de/daserste/monitor/sendungen/inklusion-154.html (abgerufen am 26.09.2023).
2 Ebd.
3 Ebd.
4 https://www.datenportal.bmbf.de/portal/de/Tabelle-2.3.13.html.
5 Vgl. ebd.
6 https://www.datenportal.bmbf.de/portal/de/Tabelle-2.3.13.html.
7 Vgl. ebd.
8 Vgl. Kultusministerkonferenz 2022. Sonderpädagogische Förderung in Schulen 2011 bis 2020, S.11.
Die Ministerin für Schule und Bildung hat die Kleine Anfrage 2727 mit Schreiben vom 3. November 2023 namens der Landesregierung beantwortet.
Vorbemerkung der Landesregierung
Die Feststellung des Bedarfs an sonderpädagogischer Unterstützung richtet sich nach § 19 Absatz 5 Schulgesetz NRW sowie den Vorgaben der Verordnung über die sonderpädagogische Förderung, den Hausunterricht und die Klinikschule (Ausbildungsordnung sonderpädagogische Förderung – AO-SF). Die gesetzlichen Anforderungen an das Verfahren schaffen die Voraussetzungen für rechtssichere Entscheidungen durch die zuständige Schulaufsicht, auch wenn fehlerhafte Entscheidungen in konkreten Einzelfällen nicht vollumfänglich ausgeschlossen werden können.
Den Antrag auf Eröffnung eines Verfahrens zur Feststellung des Bedarfs an sonderpädagogischer Förderung stellen in der Regel die Eltern (§ 11 AO-SF). In Ausnahmefällen kann die Schule selbst nach vorheriger Information der Eltern einen solchen Antrag stellen. Ein Verfahren wird in diesen Fällen nur dann eröffnet, wenn die Schule dargelegt hat, dass sie alle ihre Fördermöglichkeiten ausgeschöpft hat und Anhaltspunkte für einen Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung bestehen, § 12 Absatz 2 AO-SF.
Zur Ermittlung des Bedarfs an sonderpädagogischer Unterstützung beauftragt die Schulaufsichtsbehörde eine sonderpädagogische Lehrkraft und eine Lehrkraft der allgemeinen Schule, die – ggf. nach Durchführung einer schulärztlichen Untersuchung – ein gemeinsames Gutachten erstellen, welches der Schulaufsichtsbehörde zur Entscheidung vorzulegen ist. Die Schulaufsichtsbehörde kann, soweit es für die Entscheidung notwendig ist, Gutachten weiterer Fachkräfte oder Fachdienste einholen (§§ 13, 14 AO-SF). Bei der Entscheidung handelt es sich um einen Verwaltungsakt, gegen den Rechtsbehelfe eingelegt werden können.
Gemäß § 17 AO-SF wird mindestens einmal jährlich überprüft, ob der Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung weiterhin besteht. Wird festgestellt, dass der Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung nicht mehr fortbesteht, hebt die Schulaufsichtsbehörde den Feststellungsbescheid auf.
- Wie entwickelte sich die Zahl juristisch festgestellter, fehlerhaft diagnostizierter Fälle mit sonderpädagogischem Förderbedarf bei Kindern an Regelschulen im Primarbereich in den Jahren von 2009 bis 2022 in NRW? (Bitte aufschlüsseln nach Schuljahren, Bezirksregierung und Kommune)
- Wie entwickelte sich die Zahl juristisch festgestellter fehlerhaft diagnostizierter Fälle mit sonderpädagogischem Förderbedarf bei Kindern an Regelschulen der Sekundarstufe I in den Jahren von 2009 bis 2022 in NRW? (Bitte aufschlüsseln nach Schuljahren, Bezirksregierung und Kommune)
- Wie entwickelte sich die Zahl juristisch festgestellter fehlerhaft diagnostizierter Fälle mit sonderpädagogischem Förderbedarf bei Kindern an Regelschulen der Sekundarstufe II in den Jahren von 2009 bis 2022 in NRW? (Bitte aufschlüsseln nach Schuljahren, Bezirksregierung und Kommune)
- Wie hoch schätzt die Landesregierung das Dunkelfeld fehlerhaft diagnostizierter Fälle sonderpädagogischen Förderbedarfs für Zeitraum 2009 bis 2022 in NRW ein?
Die Fragen eins bis vier werden im Zusammenhang beantwortet.
Hierzu liegen dem Ministerium für Schule und Bildung keine Daten vor.
- Wie erklärt sich die Landesregierung grundsätzlich die stark gestiegene Zahl diagnostizierter Fälle mit sonderpädagogischem Förderbedarf an Schulen in NRW?
Der Anteil der Schülerinnen und Schüler mit Bedarf an sonderpädagogischer Förderung an Schulen in Nordrhein-Westfalen hat sich von 4,6 Prozent im Schuljahr 2009/2010 auf 6,4 Prozent im Schuljahr 2022/2023 erhöht (Quelle: Amtliche Schuldaten). Das Ansteigen der Zahl an Schülerinnen und Schülern mit festgestelltem Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung ist seit einigen Jahren – auch bundesweit – zu beobachten. Es handelt sich dabei um eine hochkomplexe Ausgangslage, die nicht monokausal zu erklären ist und einer differenzierten Analyse bedarf. Das Ministerium für Schule und Bildung hat daher bereits einen „Wissenschaftlichen Prüfauftrag zur steigenden Anzahl der Schülerinnen und Schüler mit Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung“ an ein Konsortium von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in Auftrag gegeben.