Fachkräfte- und Nachwuchsmangel in der Justiz – Wie oft kommt es an nordrhein-westfälischen Gerichten und Staatsanwaltschaften zu Überlastungsanzeigen?

Kleine Anfrage
vom 28.07.2023

Kleine Anfrage 2207

des Abgeordneten Dr. Hartmut Beucker AfD

Fachkräfte- und Nachwuchsmangel in der Justiz Wie oft kommt es an nordrhein-westfälischen Gerichten und Staatsanwaltschaften zu Überlastungsanzeigen?

Einem Artikel der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 23.07.2023 war zu entnehmen, dass es beim Oberlandesgericht Frankfurt zur Aufhebung von Haftbefehlen gegen fünf mutmaßliche Drogenschmuggler kam. Eine Strafkammer des Landgerichts Frankfurt hatte zuvor angezeigt, den Prozess aus Überlastung nicht vor Januar 2024 terminieren zu können, obwohl vier der Angeklagten seit November 2022 in Untersuchungshaft saßen.1

Laut Mitteilung des Oberlandesgerichts hatte die Staatsanwaltschaft im April 2023 am Frankfurter Landgericht Anklage gegen die Männer erhoben. Der Vorsitzende der großen Strafkammer erklärte daraufhin dem Präsidium des Landgerichts, dass die Kammer überlastet sei, damit das Verfahren auf eine andere Strafkammer übertragen werden könne. Das Präsidium widersprach und stellte keine Überlastung fest. Die U-Haft wurde daraufhin umgewandelt: Die fünf Beschuldigten blieben weiter in U-Haft, nun aber außer Vollzug. Gegen die Haftentlassung legte die Staatsanwaltschaft Beschwerde ein – und das OLG entschied, als es sich wegen dieser Beschwerde erneut mit der U-Haft befassen musste, den Haftbefehl komplett aufzuheben.2

Auch in Nordrhein-Westfalen kam es bereits zu Aufhebungen von Haftbefehlen, die Zweifel an der Beachtung des Beschleunigungsgebots und einer zügigen Verhandlungsführung aufkommen ließen.3

Das Beschleunigungsgebot in Haftsachen verlangt, dass die Strafverfolgungsbehörden und Strafgerichte alle möglichen und zumutbaren Maßnahmen ergreifen, um die notwendigen Ermittlungen mit der gebotenen Schnelligkeit abzuschließen und eine gerichtliche Entscheidung über die einem Beschuldigten vorgeworfenen Taten herbeizuführen.

Die in § 121 Abs. 1 StPO bestimmte Sechs-Monats-Frist stellt dabei nur eine Höchstgrenze dar. Aus dieser Vorschrift kann nicht der Schluss gezogen werden, dass das Strafverfahren bis zu diesem Zeitpunkt nicht gemäß dem Beschleunigungsgebot geführt werden muss. Vielmehr gilt auch vor diesem Zeitpunkt der Grundsatz, dass die Strafverfolgungsbehörden und Strafgerichte alle möglichen zumutbaren Maßnahmen zu ergreifen haben, um die notwendigen Ermittlungen mit der gebotenen Schnelligkeit abzuschließen und eine gerichtliche Entscheidung über die einem Beschuldigten vorgeworfenen Taten herbeizuführen.4

Das Bundesverfassungsgericht hat in seinen Entscheidungen wiederholt betont, dass die Justizverwaltungen die Pflicht trifft, die Gerichte verfassungsgemäß auszustatten. Eine ständige Überlastung eines Gerichts rechtfertige keinesfalls eine rechtsstaatlich unangemessen lange Untersuchungshaft, mahnen die Verfassungsrichter in diesem Zusammenhang.

Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts gehört im Allgemeinen auch zum Grundsatz der Effektivität des Rechtsschutzes, dass rechtzeitig innerhalb angemessener Zeit eine abschließende gerichtliche Entscheidung vorliegen muss. Gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK hat jede Person das Recht, dass über Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen oder über eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird. Der Staat kann sich daher nicht mit dem Hinweis auf eine überlastete Justiz aus der Verantwortung stehlen, da er es in der Hand hat, der Justiz mehr Personal zur Verfügung zu stellen.

Eine überlastete Justiz nehmen nicht nur die Bürger wahr. Auch Richter sowie Staatsanwälte teilen diese Einschätzung, wie das Institut für Demoskopie Allensbach im Auftrag von ROLAND Rechtsschutz ermittelte. Über die Hälfte der Richterinnen und Richter und 72 Prozent der Staatsanwältinnen und Staatsanwälte haben dem eigenen Empfinden nach nicht genügend Zeit für ihre Rechtsfälle.5

Bei der Beurteilung der Frage, ob der Staat seiner Rechtsgewährungsverpflichtung in ausreichendem Maße Rechnung trägt, kommt Überlastungsanzeigen von Richtern und Staatsanwälten eine besondere Bedeutung zu. Sie können die Belastungssituation der Gerichte widerspiegeln.

Ich frage daher die Landesregierung:

  1. Wie viele Überlastungsanzeigen gab es bei den nordrhein-westfälischen Gerichten und Staatsanwaltschaften seit 2021 bis zum 30.06.2023? (Bitte getrennt für die einzelnen Gerichtsbarkeiten bzw. Staatsanwaltschaften nach Jahren aufschlüsseln)
  2. Welche Maßnahmen hat die Landesregierung ergriffen, um überlastete Richter und Staatanwälte zu entlasten?
  3. Wie viele Untersuchungshaftentlassungen aufgrund von Überlastung der zuständigen Gerichte gab es in Nordrhein-Westfalen seit 2021 bis zum 30.06.2023?
  4. Wie oft kam es seit 2021 bis zum 30.06.2023 an den nordrhein-westfälischen Strafgerichten zu Prozessabbrüchen? (Bitte nach Jahr und Gericht aufschlüsseln)
  5. Wie hoch war der Krankenstand der Richter und Staatsanwälte an nordrhein-westfälischen Gerichten bzw. Staatsanwaltschaften seit 2021 bis zum 30.06.2023? (Bitte nach Jahr und Gericht bzw. Staatsanwaltschaft aufschlüsseln)

Dr. Hartmut Beucker

 

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1 https:// www .faz.net/aktuell/rhein-main/frankfurt/oberlandesgericht-frankfurt-hebt-fuenf-haftbefehle-auf-strafkammer-ueberlastet-19053151.html (abgerufen am 26.07.2023).

2 https:// www .hessenschau.de/panorama/landgericht-frankfurt-ueberlastet-fuenf-mutmassliche-drogenschmuggler-wieder-frei-v2,straftaeter-frei-100.html (abgerufen am 26.07.2023).

3 https:// www .focus.de/panorama/welt/kicker-kommt-aus-dem-gefaengnis-frei_id_193699800.html (abgerufen am 26.07.2023).

4 https:// www .bundesverfassungsgericht.de/entscheidungen/rk20060404_2bvr052306.html (abgerufen am 26.07.2023).

5 https:// www .roland-rechtsschutz.de/unternehmen/presse/roland-rechtsreport-2023.html (abgerufen am 26.07.2023).


Der Minister der Justiz hat die Kleine Anfrage 2207 mit Schreiben vom 25. August 2023 namens der Landesregierung beantwortet.

  1. Wie viele Überlastungsanzeigen gab es bei den nordrhein-westfälischen Gerich­ten und Staatsanwaltschaften seit 2021 bis zum 30.06.2023? (Bitte getrennt für die einzelnen Gerichtsbarkeiten bzw. Staatsanwaltschaften nach Jahren aufschlüs­seln)

Für die Beantwortung der Frage nehme ich Bezug auf die beigefügte Tabelle.

Ergänzend merke ich an, dass Überlastungsanzeigen immer von einzelnen Beschäftigten ab­gegeben werden. Dabei kann eine Beschäftigte bzw. ein Beschäftigter auch mehrere Überlas­tungsanzeigen in einem Kalenderjahr abgeben.

Die Gesamtzahl von Planstellen und Stellen für Richterinnen und Richter beträgt im Jahr 2023 5.383 und für Staatsanwältinnen und Staatsanwälte 1.480.

  1. Welche Maßnahmen hat die Landesregierung ergriffen, um überlastete Richter und Staatanwälte zu entlasten?

Es ist ein Kernanliegen der Landesregierung, Rahmenbedingungen zu schaffen, die es den Handelnden in der Justiz ermöglichen, Verfahren in einem angemessenen Zeitrahmen und zugleich mit der gebotenen Sorgfalt zu erledigen. Mit dem Ziel einer personell gut ausgestat­teten Justiz hat die nordrhein-westfälische Landesregierung seit 2018 rund 3.300 neue Plan­stellen und Stellen in der Justiz des Landes Nordrhein-Westfalen geschaffen. Im richterlichen Dienst aller fünf Gerichtsbarkeiten ist aktuell eine auskömmliche Stellenausstattung und Stel­lenbesetzung erreicht worden. Im staatsanwaltlichen Bereich arbeitet die Landesregierung mit Nachdruck daran, die noch etwa 120 offenen Stellen für Staatsanwältinnen und Staatsanwälte mit geeigneten Kandidatinnen und Kandidaten zu besetzen. Zur weiteren personellen Verstär­kung hat das Ministerium der Justiz für den Landeshaushalt 2024 weitere Planstellen und Stel­len für die Staatsanwaltschaften angemeldet. Insgesamt ist festzuhalten, dass die Landesre­gierung die personelle Situation an den Gerichten und Staatsanwaltschaften aufmerksam im Blick behält und ihre Personalplanung – wo dies erforderlich ist – nachjustieren wird.

  1. Wie viele Untersuchungshaftentlassungen aufgrund von Überlastung der zustän­digen Gerichte gab es in Nordrhein-Westfalen seit 2021 bis zum 30.06.2023?

Das Ministerium der Justiz erfasst Entlassungen aus der Untersuchungshaft statistisch nicht gesondert nach dem Entlassungsgrund „Überlastung des zuständigen Gerichts“ bzw. „Über­lastung des zuständigen Spruchkörpers“. Zur Beantwortung der Frage wäre daher eine hän­dische Auswertung sämtlicher Verfahren im Zeitraum vom 01.01.2021 bis zum 30.06.2023 nach dem jeweiligen Grund erforderlich. Dies kann mit vertretbarem Verwaltungsaufwand nicht geleistet werden.

Soweit die Generalstaatsanwälte des Landes dem Ministerium der Justiz über alle Fälle zu berichten haben, in denen ein Oberlandesgericht einen Haftbefehl gemäß §§ 121, 122 StPO aufgehoben hat, weil es entweder im Bereich der Staatsanwaltschaft zur Ermittlungsverzöge­rung gekommen ist oder im gerichtlichen Bereich eine verzögerte Behandlung, insbesondere nicht zeitnahe Terminierung, festgestellt worden ist, kann von dieser Berichterstattung im Ein­zelfall auch eine Haftentlassung wegen Überlastung eines Spruchkörpers umfasst sein.

Wegen der Einzelheiten, insbesondere zu den Gründen der jeweiligen Haftentlassung, wird insoweit auf die LT-Vorlagen 17/6303 (für das Jahr 2021) und 18/707 (für das Jahr 2022) ver­wiesen. Für den Zeitraum vom 01.01.2023 bis zum 30.06.2023 sind dem Ministerium der Justiz keine Haftentlassungen nach §§ 121, 122 StPO berichtet worden.

  1. Wie oft kam es seit 2021 bis zum 30.06.2023 an den nordrhein-westfälischen Straf­gerichten zu Prozessabbrüchen? (Bitte nach Jahr und Gericht aufschlüsseln)

Prozessabbrüche bei Strafgerichten erfasst das Ministerium der Justiz nicht gesondert statis­tisch. Zur Beantwortung der Frage wäre daher die Auswertung sämtlicher Verfahren im erfrag­ten Zeitraum erforderlich. Dies ist mit vertretbarem Verwaltungsaufwand nicht zu leisten.

  1. Wie hoch war der Krankenstand der Richter und Staatsanwälte an nordrhein-west­fälischen Gerichten bzw. Staatsanwaltschaften seit 2021 bis zum 30.06.2023? (Bitte nach Jahr und Gericht bzw. Staatsanwaltschaft aufschlüsseln)

Die Krankentage der Beschäftigten des Landes Nordrhein-Westfalen können dem jährlich ver­öffentlichten Gesundheitsbericht der Landesregierung aufgeschlüsselt nach den einzelnen Laufbahngruppen ressortscharf entnommen werden.

Weitergehende Angaben zu dem Krankenstand der Richterinnen und Richter bzw. Staatsan­wältinnen und Staatsanwälte, insbesondere aufgeschlüsselt nach Jahr und Beschäftigungs­behörde, können aus Gründen des Gesundheitsdatenschutzes der Beschäftigten nicht ge­macht werden.

 

Antwort samt Anlage als PDF