Kleine Anfrage 915
der Abgeordneten Zacharias Schalley und Markus Wagner vom 21.12.2022
Fehlgeschlagene interne Revision der Jugendämter NRW?
Die Berichte über das achtjährige Mädchen aus Attendorn, welches über Jahre von seiner Mutter und den Großeltern im Haus festgehalten und von der Außenwelt abgeschirmt worden ist, erschütterten vergangenen Monat das ganze Land. Umso erschreckender scheint die Tatsache, dass die Jugendämter und sämtliche weiteren involvierten Behörden in NRW aus dem Missbrauchskomplex Lügde und den gewonnenen Erkenntnissen aus dem Parlamentarischen Untersuchungsausschusses „Kindesmissbrauch“ des Landtags NRW nichts gelernt haben.
So hat der Kreis Olpe erst nach Bekanntwerden des oben genannten Falls, unabhängig von den laufenden Ermittlungsverfahren, eine eigene Projektgruppe eingerichtet, die sich mit den Strukturen, Abläufen und Verfahrensstandards befassen und konkrete Empfehlungen zur weiteren Qualitätsentwicklung der Arbeit des Jugendamtes entwickeln soll. Zudem wurde mit Wirkung zum 16.11.2022 angeordnet, dass die fallführende Fachkraft des Bezirkssozialdienstes Gefährdungseinschätzungen und Inaugenscheinnahmen im Vier-Augen-Prinzip mit einer zweiten Fachkraft durchzuführen hat.1
Diese späte Anpassung der Mindeststandards im Bereich der Gefährdungseinschätzungen, insbesondere beim Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD), überraschen, da sich nach den Missbrauchsfällen rund um Lügde sämtliche Jugendämter in NRW zum Ziel gesetzt hatten, umgehend interne Revisionen durchzuführen und das Vier-Augen-Prinzip standardmäßig einzuführen.
Wir fragen daher die Landesregierung:
- Inwiefern wurden die internen Vorschriften der Jugendämter in NRW bzgl. Kindeswohl-gefährdungen nach dem Missbrauchskomplex Lügde revidiert und resultierend daraus geändert? (Bitte nach Jugendamt und Veränderung der internen Vorschriften aufschlüsseln)
- Inwiefern wurden die Beschäftigten der Jugendämter in NRW, insbesondere die Beschäftigten im ASD, von den neuen Vorschriften und Verfahrensstandards in Kenntnis gesetzt?
- Bei welchen Jugendämtern wurden schriftliche Kooperationsvereinbarungen zwischen den mit dem Kinderschutz befassten Stellen (Jugendamt, Polizei, Kinderärzte, Kinderbetreuungseinrichtungen, Schulen) seit Ende 2019 neu beschlossen oder bestehende überarbeitet?
- Inwiefern fanden im Zeitraum zwischen 2019 und der Aufdeckung des Falles in Attendorn Vernetzungstreffen, Gesprächskreise oder ein anders gelagerter Austausch zwischen den mit dem Kinderschutz befassten Stellen (Jugendamt, Polizei, Kinderärzte, Kinderbetreuungseinrichtungen, Schulen) statt?
- Auf welchem Stand waren die fachlichen Verfahrensstandards zum Kinderschutz des Jugendamtes des Kreises Olpe zum Zeitpunkt der Vorfälle rund um das achtjährige Mädchen aus Attendorn?
Zacharias Schalley
Markus Wagner
1 https://www.landtag.nrw.de/portal/WWW/dokumentenarchiv/Dokument/MMV18-437.pdf
Die Ministerin für Kinder, Jugend, Familie, Gleichstellung, Flucht und Integration hat die Kleine Anfrage 915 mit Schreiben vom 18. Januar 2023 namens der Landesregierung im Einvernehmen mit dem Minister des Innern beantwortet.
- Inwiefern wurden die internen Vorschriften der Jugendämter in NRW bzgl. Kindes-wohlgefährdungen nach dem Missbrauchskomplex Lügde revidiert und resultierend daraus geändert? (Bitte nach Jugendamt und Veränderung der internen Vorschriften aufschlüsseln)
Eine Abfrage bei den Jugendämtern ist in der zur Beantwortung der Kleinen Anfrage zur Verfügung stehenden Zeit nicht möglich.
Mit Inkrafttreten des Landeskinderschutzgesetzes zum 01. Mai 2022 wurden die „Empfehlung Schutzauftrag. Gelingensfaktoren bei der Wahrnehmung des Schutzauftrags gemäß § 8a SGB VIII – Empfehlung für Jugendämter.“ zu Mindeststandards erhoben, die die Jugendämter bei der Wahrnehmung der Aufgaben nach § 8a SGB VIII berücksichtigen sollen. Soweit sich daraus ergibt, dass interne Regelungen in den Jugendämtern angepasst werden müssen, sind Jugendämter gesetzlich verpflichtet, diese Anpassungen vorzunehmen.
- Inwiefern wurden die Beschäftigten der Jugendämter in NRW, insbesondere die Beschäftigten im ASD, von den neuen Vorschriften und Verfahrensstandards in Kenntnis gesetzt?
Eine Abfrage bei den Jugendämtern ist in der zur Beantwortung der Kleinen Anfrage zur Verfügung stehenden Zeit nicht möglich.
Mit Inkrafttreten des Landeskinderschutzgesetzes zum 01. Mai 2022 wurden die „Empfehlung Schutzauftrag. Gelingensfaktoren bei der Wahrnehmung des Schutzauftrags gemäß § 8a SGB VIII – Empfehlung für Jugendämter.“ zu Mindeststandards erhoben, die die Jugendämter bei der Wahrnehmung der Aufgaben nach § 8a SGB VIII berücksichtigen sollen.
Nach Nr. 3.1.3 der Empfehlungen ist die Kenntnis von Beschäftigten im ASD von Vorschriften und Verfahrensstandards sicherzustellen.
- Bei welchen Jugendämtern wurden schriftliche Kooperationsvereinbarungen zwischen den mit dem Kinderschutz befassten Stellen (Jugendamt, Polizei, Kinderärzte, Kinderbetreuungseinrichtungen, Schulen) seit Ende 2019 neu beschlossen oder bestehende überarbeitet?
- Inwiefern fanden im Zeitraum zwischen 2019 und der Aufdeckung des Falles in Attendorn Vernetzungstreffen, Gesprächskreise oder ein anders gelagerter Austausch zwischen den mit dem Kinderschutz befassten Stellen (Jugendamt, Polizei, Kinderärzte, Kinderbetreuungseinrichtungen, Schulen) statt?
Die Frage 3 und 4 werden zusammenhängend beantwortet.
Eine Abfrage bei den Jugendämtern ist in der zur Beantwortung der Kleinen Anfrage zur Verfügung stehenden Zeit nicht möglich.
Mit Inkrafttreten des Landeskinderschutzgesetzes zum 01. Mai 2022 wurden gemäß § 9 Lan-deskinderschutzgesetz NRW die Schaffung von Netzwerken Kinderschutz verbindlich geregelt. Die Anforderung schriftlicher Kooperationsvereinbarungen ist dabei nicht Gegenstand der Regelung. Gemäß § 9 Abs. 2 Nr. 2 soll eine einzurichtende Koordinierungsstelle die Koordinierung von Maßnahmen zur Sicherstellung der Netzwerkstrukturen, insbesondere der Netzwerktreffen sicherstellen. Ein Turnus für die Netzwerktreffen ist nicht vorgegeben.
- Auf welchem Stand waren die fachlichen Verfahrensstandards zum Kinderschutz des Jugendamtes des Kreises Olpe zum Zeitpunkt der Vorfälle rund um das achtjährige Mädchen aus Attendorn?
Das Kreisjugendamt hat zu der Frage wie folgt Stellung genommen:
„Im „Handbuch Jugendhilfe des Kreises Olpe, Fachplan Sozialpädagogische Hilfen“ (Anlage Ziffer 3, S. 34), in Verbindung mit der verwaltungsinternen „Prozesskarte Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung“ (Anlage S. 216 ff.) und im Aktenführungsprogramm SoPart sind die für die Bezirkssozialarbeiter und Bezirkssozialarbeiterinnen des Kreisjugendamtes Olpe vorgegebenen verwaltungsinternen Verfahrensstandards und Arbeitsinstrumente bei Meldungen von Kindeswohlgefährdungen nach §§ 8a, 42 SGB VIII geregelt. Die Verfahrensstandards wurden dem Jugendhilfeausschuss in seiner Sitzung am 17.02.2004 vorgestellt und im Rahmen des internen Prozessmanagements regelmäßig fortgeschrieben. 2010 wurden die Kin-derschutzstandards durch die Gemeindeprüfungsanstalt NRW überprüft (GPA-Bericht 2010, S. 207 ff. der beigefügten Anlage, im GPA-Bericht S. 49 ff.). Die Empfehlung der GPA, Hausbesuche nach § 8 a SGB VIII grundsätzlich im Zusammenwirken von zwei Fachkräften durchzuführen, wurde umgesetzt.
Die Verfahrensstandards sehen vor, dass eingehende Meldungen (Falleingangsphase Prozessschritt 1) mittels des „Meldebogens“ von der zuständigen Fachkraft dokumentiert und mittels des „Erstbewertungsbogens“ hinsichtlich der Gefährdung eingeschätzt werden. Je nach Einstufung der Gefährdung ist die weitere Vorgehensweise vorgegeben: Im Standardprozess 2 liegen keine Hinweise für eine Gefährdung vor, die zuständige Fachkraft macht bei Bedarf innerhalb von zwei Wochen ein schriftliches Beratungsangebot. Der Kinderschutzprozess wird beendet. Im Standardprozess 3 liegen Hinweise für eine Gefährdung vor, die einer weiteren Abklärung durch die zuständige Fachkraft bedürfen. Hierzu führt die Fachkraft innerhalb von zwei Wochen einen Hausbesuch zur Inaugenscheinnahme des Kindes durch und füllt den „Nachbewertungsbogen“ aus. Liegt keine Gefährdung vor wird der Prozess beendet. Im Prozess 4 liegen „gewichtige Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung“ gemäß § 8a SGB VIII vor und die zuständige Fachkraft führt zusammen mit einer zweiten Fachkraft am Tag der Meldung einen Hausbesuch zur Inaugenscheinnahme des Kindes durch und dokumentiert die im Vier-Augen-Prinzip getroffene Gefährdungseinschätzung und die Entscheidung über die Einleitung notwendiger Maßnahmen im „Nachbewertungsbogen“.
Die Verfahrensstandards werden aktuell gemäß den Mindeststandards des Landeskinderschutzgesetzes NRW überarbeitet und angepasst. Im Vorgriff auf diese Änderungen und die personelle Besetzung der vom Kreistag zusätzlich im Stellenplan 2023 bereit gestellten 6 Stellen wurde (mit Wirkung vom 16.11.22) angeordnet, dass jeder Hinweis auf eine Kindeswohlgefährdung dem Vier-Augen-Prinzip unterliegt. Die Fallführende Fachkraft des Bezirkssozialdienstes des Fachdienstes 52 führt ab dem 16.11.2022 die Gefährdungseinschätzungen und Inaugenscheinnahmen mit einer zweiten Fachkraft durch.“