Frühzeitige U-Haft Entlassungen – Wie verfährt Nordrhein-Westfalen?

Kleine Anfrage

Kleine Anfrage 390
der Abgeordneten Markus Wagner und Klaus Esser vom 31.08.2022

 

Frühzeitige U-Haft Entlassungen Wie verfährt Nordrhein-Westfalen?

Die Untersuchungshaft dient u. a. der Sicherung des Strafverfahrens vor negativer Einwirkung durch den Beschuldigten. Daher kann die Untersuchungshaft bei einem dringenden Tatverdacht und dem Vorliegen von Haftgründen angeordnet werden. Allerdings berichten Medien von Fällen, in denen mutmaßliche Straftäter aufgrund von zu langen Verfahren aus der U-Haft entlassen wurden. So berichtet ZEIT ONLINE für das Jahr 2021 von zehn Fällen, bei denen die Untersuchungshaft Tatverdächtiger durch das Oberlandesgericht in Dresden aufgehoben wurde, weil die Verfahren zu lange dauerten oder Fristen nicht eingehalten wurden.1

Aber auch in Hessen hat das Oberlandesgericht Frankfurt erst vor wenigen Wochen die Freilassung von sechs mutmaßlichen Straftätern wegen eines zu langen Verfahrens angeordnet. Bundesweit wurden im vergangenen Jahr mindestens 66 Verdächtige wegen zu langer Verfahren aus der Untersuchungshaft entlassen.2

Wir fragen daher die Landesregierung:

  1. Wie hat sich die Gesamtzahl der Untersuchungshäftlinge seit dem 1. Januar 2020 bis heute entwickelt? (Bitte nach Geschlecht, Alter, Herkunft, Staatsangehörigkeit, Haftdauer sowie Haftgründen aufschlüsseln.)
  2. In wie vielen Fällen der Anordnung der Untersuchungshaft gab es eine Verurteilung seit dem 1. Januar 2020? (Bitte nach Geschlecht, Alter, Herkunft, Staatsangehörigkeit sowie der Art und Dauer der verhängten Sanktion aufschlüsseln.)
  3. Wie viele Tatverdächtige wurden seit 2015 vorzeitig aus der Untersuchungshaft entlassen, weil die Verfahren zu lange dauerten oder Fristen nicht eingehalten wurden? (Bitte nach Geschlecht, Alter, Herkunft, Staatsangehörigkeit, zuständigen Gerichten, Haftdauer sowie Haftgründen aufschlüsseln.)
  4. Welche Maßnahmen verfolgt die Landesregierung im Rahmen ihrer Zuständigkeit, um eine frühzeitige Entlassung aus der Untersuchungshaft, die auf ein zu langes Verfahren oder Nichteinhaltung von Fristen zurückzuführen ist, zukünftig zu verhindern?

Markus Wagner
Klaus Esser

 

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1 Vgl. https://www.zeit.de/news/2022-08/22/oberlandesgericht-hebt-u-haft-wegen-zu-langer-verfahren-auf.

2 Vgl. https://www.faz.net/aktuell/rhein-main/wie-hessen-ueberlange-verfahren-in-der-justiz-verhindern-will-18264997.html.


Der Minister der Justiz hat die Kleine Anfrage 390 mit Schreiben vom 19. Oktober 2022 namens der Landesregierung beantwortet.

  1. Wie hat sich die Gesamtzahl der Untersuchungshäftlinge seit dem 1. Januar 2020 bis heute entwickelt? (Bitte nach Geschlecht, Alter, Herkunft, Staatsangehörigkeit, Haftdauer sowie Haftgründen aufschlüsseln.)

Haftdauer und Haftgründe werden statistisch nicht erfasst. Insoweit wäre für die in dem Klam­merzusatz der Frage 1 erbetene Aufschlüsselung eine händische Auswertung aller einschlä­gigen Vorgänge notwendig, die mit vertretbarem Verwaltungsaufwand nicht zu leisten ist. Im Übrigen wird auf die beigefügten Anlagen 1 bis 4 Bezug genommen.

  1. In wie vielen Fällen der Anordnung der Untersuchungshaft gab es eine Verurtei­lung seit dem 1. Januar 2020? (Bitte nach Geschlecht, Alter, Herkunft, Staatsangehörigkeit sowie der Art und Dauer der verhängten Sanktion aufschlüsseln.)

Einzelheiten ergeben sich aus der nachfolgenden Tabelle:*

Sanktionen und Maßregeln nach Untersuchungshaft 2020 2021
  gesamtweiblich männlich gesamt weiblich männlich
Freiheitsstrafe 4.371 301 4.070 4.122 305 3.817
davon mit Strafaussetzung 1.583 145 1.438 1.521 151 1.370
Jugendstrafe 253 8 245 177 12 165
davon mit Strafaussetzung 118 2 116 78 3 75
Geldstrafe 474 53 421 394 38 356
Strafarrest
Zuchtmittel 88 9 79 72 13 59
Erziehungsmaßregeln 1 1
Verwarnung mit Strafvorbehalt 7 7 3 1 2
Verhängung der Jugendstrafe ausgesetzt (§ 27 JGG) 13 2 11 7 1 6
Maßregeln (ohne Strafe oder Maßnahme) 138 13 125 130 5 125
Gesamt 5.344 386 4.958 4.906 375 4.531

*Angaben zu divers-geschlechtlichen Personen liegen für den Zeitraum nicht vor.

Weitere Daten im Sinne des Klammerzusatzes der Frage 2 werden statistisch nicht erfasst. Für ihre Erhebung wäre eine händische Auswertung der einschlägigen Vorgänge notwendig, die mit vertretbarem Verwaltungsaufwand nicht zu leisten ist. Gleiches gilt für das Jahr 2022, weil insoweit noch keine statistischen Werte vorliegen.

  1. Wie viele Tatverdächtige wurden seit 2015 vorzeitig aus der Untersuchungshaft entlassen, weil die Verfahren zu lange dauerten oder Fristen nicht eingehalten wurden? (Bitte nach Geschlecht, Alter, Herkunft, Staatsangehörigkeit, zuständi­gen Gerichten, Haftdauer sowie Haftgründen aufschlüsseln.)

In dem erfragten Zeitraum haben die Generalstaatsanwältin und Generalstaatsanwälte des Landes dem Ministerium der Justiz über 32 Strafverfahren berichtet, in denen die Oberlandes­gerichte im Rahmen der besonderen Haftprüfung gemäß §§ 121, 122 Strafprozessordnung eine Verletzung des Beschleunigungsgrundsatzes angenommen haben.

Soweit das Ministerium der Justiz hierzu eine statistische Erfassung vorgenommen hat, ergibt sich folgendes Bild:

Jahr Verfahren Gesamt OLG Düsseldorf OLG
Hamm
OLG
Köln
entlassene Personen
2015 4 0 1 3 6
2016 4 2 1 1 5
2017 2 1 0 1 2
2018 7 1* 0 6 7
2019 6 2 1 3 7
2020 3 0 3 0 3
2021 3 1 2 0 4
2022 3 2 1 0 4
Gesamt 32 9 9 14 38

 

* In diesem Verfahren erfolgte keine Haftentlassung, weil für eine andere Sache Überhaft no­tiert war.

Für die in dem Klammerzusatz der Frage 3 erbetene Aufschlüsselung wäre eine händische Auswertung der einschlägigen Vorgänge notwendig, die in der für die Beantwortung einer Klei­nen Anfrage zur Verfügung stehenden Zeit mit vertretbarem Verwaltungsaufwand nicht zu leis­ten ist. Wegen weiterer Einzelheiten kann aber auf die Darstellungen in den LT-Vorlagen 16/3234 (betreffend die Jahre 2013 bis 2015), 17/1570 (betreffend das Jahr 2018), 17/4536 (betreffend das Jahr 2020) und 17/6303 (betreffend das Jahr 2021) Bezug genommen werden.

  1. Welche Maßnahmen verfolgt die Landesregierung im Rahmen ihrer Zuständigkeit, um eine frühzeitige Entlassung aus der Untersuchungshaft, die auf ein zu langes Verfahren oder Nichteinhaltung von Fristen zurückzuführen ist, zukünftig zu ver­hindern?)

Für die Bearbeitung von Strafsachen sind im Geschäftsbereich des Ministeriums der Justiz ausschließlich die Staatsanwaltschaften und Gerichte zuständig. Letztere sind im Hinblick auf die richterliche Unabhängigkeit (Artikel 97 Grundgesetz) dem Zugriff der Exekutive vollständig entzogen. Auch die Staatsanwältinnen und Staatsanwälte des Landes sind inhaltlich unabhän­gig. Ihnen und nicht der Landesregierung obliegt die Entscheidungshoheit über die Ermittlun­gen. Sie bearbeiten Haftsachen wegen des verfassungsrechtlichen Beschleunigungsgebots mit höchster Priorität und erfassen sie in so genannten Haftlisten, die der regelmäßigen Kon­trolle durch die Abteilungsleitungen unterliegen. Die Behördenleitungen sind gehalten, die Haftlisten mit ihren Abteilungsleiterinnen und Abteilungsleitern mindestens einmal im Monat in Form von Fallkonferenzen durchzugehen, kritische Vorgänge zu erörtern und das ggf. Erfor­derliche zu veranlassen. Zu Maßnahmen der Landesregierung besteht vor diesem Hintergrund kein Anlass.

 

Antrag samt Anlage als PDF