Gefährliche Orte: Warum missachtet die Landesregierung das Urteil des Verfassungsgerichtshofs vom 28. Januar 2020?

Kleine Anfrage
vom 20.04.2020

Kleine Anfrage 3490des Abgeordneten Sven W. Tritschler vom 20.04.2020

 

Gefährliche Orte: Warum missachtet die Landesregierung das Urteil des Verfassungsgerichtshofs vom 28. Januar 2020?

Im Rahmen der Großen Anfrage 2 (Drs. 17/1363) fragte ich am 29. November 2017 mit sechs weiteren Kollegen die Landesregierung nach gefährlichen und verrufenen Orten im Sinne des § 12 des Polizeigesetzes des Landes Nordrhein-Westfalen.

Die Landesregierung beantwortete die Anfrage am 2. Mai 2018 (Drs. 17/2517), deutlich nach Ablauf der üblichen Beantwortungsfrist von drei Monaten. Dabei verweigerte sie die unter Ziffer B.I.7 begehrte Aufschlüsselung der genauen Orte und der betroffenen Straßen und Plätze. Zur Begründung führte sie u.a. an:

„Durch die Anonymisierung wird eine Stigmatisierung der Örtlichkeiten verhindert. (…)

Alleine aufgrund der Begrifflichkeit kann es insbesondere in der Öffentlichkeit zu Fehlinterpretationen kommen, wodurch das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung negativ beeinflusst werden könnte“.

Mit Schreiben vom 12. Juni 2018 beanstanden die Fragesteller gegenüber der Landesregierung diese unzureichende Beantwortung der Frage und mahnten unter Fristsetzung bis Ende Juli 2018 eine vollständige Beantwortung an.

Der Minister des Innern reagierte – abermals verspätet – mit Schreiben vom 20. August 2018 und teilte mit, dass er nicht vorhabe, die Frage in der gewünschten Form zu beantworten. Stattdessen bot er an, die Mitglieder des Innenausschusses „in vertraulicher Sitzung“ über die genauen Örtlichkeiten zu unterrichten. Das war für die Fragesteller schon deshalb nicht akzeptabel, weil sechs von ihnen dem Innenausschuss nicht angehören oder -gehörten.

Der weitere Schriftverkehr führte nicht zur Einigung, weshalb die Fragesteller am 31. Oktober 2018 ein Organstreitverfahren beim Verfassungsgerichtshof in Münster einleiteten.

Noch bevor das Verfassungsgericht die Streitparteien am 28. Januar 2020 – nach längeren Schriftwechseln – zur mündlichen Verhandlung vorlud, sandte der Minister am 20. Januar 2020 ein Schreiben an das Gericht, das mit den Worten schloss:

„Ihnen [den Fragestellern] geht es ausschließlich um die Skandalisierung und um die Verhetzung polizeilicher Handlungen und Eingriffsgrundlagen.“

Noch am Tag der mündlichen Verhandlung urteilte der Verfassungsgerichtshof allerdings, dass die Landesregierung den Informationsanspruch der Fragesteller aus Art. 30 Abs. 2 und 3 der Landesverfassung verletzt habe.

In ihrer mündlichen Urteilsbegründung führte die Präsidentin des Verfassungsgerichtshofs Dr. Ricarda Brandts aus, dass die Landesregierung die begehrte Auskunft mit den angeführten Erwägungen für eine Anonymisierung nicht in pauschaler Weise hätte verweigern dürfen. Zwar gehörten die Funktions- und Arbeitsfähigkeit der Polizei zu den Belangen des Staatswohls, die grundsätzlich eine Geheimhaltung der einzelnen Orte rechtfertigen könnten.

Die Landesregierung wäre jedoch verpflichtet gewesen, die Geheimhaltungsbedürftigkeit für jeden der in Rede stehenden Orte zu prüfen und mit der Bedeutung, die dem verfassungsrechtlich gewährleisteten Informationsanspruch der Antragssteller für eine effektive Kontrolle der Landesregierung zukomme, sorgfältig abzuwägen. Soweit im Einzelfall hinreichend gewichtige Geheimhaltungsinteressen bestünden, müsse die Landesregierung zudem eine Unterrichtung der Antragsteller in nichtöffentlicher, vertraulicher oder geheimer Form in Betracht ziehen. Dabei müsse sie die Gründe für ein solches Vorgehen in einer für die Antragsteller nachvollziehbaren Weise darlegen. Auch eine für den Fall des Bekanntwerdens befürchtete Stigmatisierung der Orte bzw. der betroffenen Anwohner oder eine Beeinträchtigung des Sicherheitsgefühls der Bevölkerung rechtfertigten die Geheimhaltung unter den gegebenen Umständen nicht.

Das Urteil wurde am 6. Februar 2020 ausgefertigt und den Parteien zugestellt. Auf Bitten der Landesregierung, die den Eindruck erweckte, sie müsse die Antwort noch vorbereiten, verzichtete die AfD-Fraktion auf eine Beratung der Großen Anfrage im Rahmen der Plenartagung des Landtags im Februar 2020 und stimmte einer Verschiebung auf den 12. März 2020 zu.

Allerdings erfolgte bis zum Zeitpunkt dieser Anfrage keine Antwort der Landesregierung. Auch Innenminister Herbert Reul machte im Rahmen der Plenardebatte im März keinerlei Angaben zu den erfragten Orten.

Mit Schreiben vom 17. März 2020 hat die Fraktion der Alternative für Deutschland dem Ministerpräsidenten mitgeteilt, dass sie bis zum 19. April 2020 auf die Beantwortung sämtlicher Anfragen verzichtet, um die Mitarbeiter der Landesregierung während der Corona-Krise keinem erhöhten Ansteckungsrisiko auszusetzen und gleichzeitig keine Personalressourcen zu binden, die zur Bewältigung der Krise benötigt werden.

Obwohl die Landesregierung längst Gelegenheit gehabt hätte, die Große Anfrage vom 29. November 2017 vollständig und in Einklang mit dem Urteil des Verfassungsgerichtshofs vom 28. Januar 2020 (VerfGH 5/18) zu beantworten, frage ich daher erst heute:

1. Warum wurde die Große Anfrage 2 (Drs. 17/1363) bisher nicht vollständig beantwortet?

2. Welche Schritte wurden wann getroffen, um die Frage in Einklang mit dem Urteil des Verfassungsgerichts zu beantworten?

3. Warum bat die Landesregierung um Verschiebung der Aussprache zum Ergebnis der Großen Anfrage von Februar auf März, wenn sie auch zu diesem Zeitpunkt keine ausführliche Antwort auf die Unterfrage B.I.7 vorlegen konnte oder wollte?

4. Wie lautet die Antwort auf Unterfrage B.I.7 der Großen Anfrage 2 (Drs. 17/1363) unter Berücksichtigung des o.g. Urteils?

5. Welche genauen Örtlichkeiten sind zum Zeitpunkt der Beantwortung dieser Anfrage als gefährlich oder verrufen i.S.d. § 12 PolG NRW eingestuft? (Nennen Sie bitte sämtliche betroffenen Straßen und Plätze!)

Sven W. Tritschler

 

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Nachfolgend die Antwort der Landesregierung, verfasst am 20.05.2020

 

Der Minister des Innern hat die Kleine Anfrage 3490 mit Schreiben vom 20. Mai 2020 namens der Landesregierung beantwortet.

1. Warum wurde die Große Anfrage 2 (Drs. 17/1363) bisher nicht vollständig beantwortet?

2. Welche Schritte wurden wann getroffen, um die Frage in Einklang mit dem Urteil des Verfassungsgerichts zu beantworten?

3. Warum bat die Landesregierung um Verschiebung der Aussprache zum Ergebnis der Großen Anfrage von Februar auf März, wenn sie auch zu diesem Zeitpunkt keine ausführliche Antwort auf die Unterfrage B.I.7 vorlegen konnte oder wollte?

Die Fragen 1 bis 3 werden gemeinsam beantwortet:

Das Schreiben des VerfGH NRW vom 6. Februar 2020, mit dem das Urteil vom 28. Januar 2020 – VerfGH 5/18 – übersandt wurde, ist dem Ministerium des Innern am 12. Februar 2020 zugegangen. Insofern lagen dem Ministerium die schriftlichen Urteilsgründe zum Zeitpunkt der Absetzung des Tagesordnungspunktes für die Plenarsitzung im Februar 2020 noch nicht vor.

Das Ministerium des Innern hat mit Erlass vom 20. Februar 2020 eine Abfrage bei den Kreispolizeibehörden initiiert, welche der zu Frage B.I.7 der Großen Anfrage 2 maßgeblichen Örtlichkeiten nach § 12 Abs. 1 Nr. 2 PolG NRW unter Zugrundelegung des Urteils des VerfGH NRW vom 28. Januar 2020 veröffentlicht werden können. Das durch das Landesamt für Zentrale Polizeiliche Dienste Nordrhein-Westfalen aufbereitete Ergebnis, das sämtliche nach Frage B.I.7 der Großen Anfrage 2 maßgeblichen Örtlichkeiten nach §12 Abs. 1 Nr. 2 PolG NRW umfasst, wurde dem Ministerium am 27. Februar 2020 vorgelegt. Aufgrund der sich anschließenden internen Prüfung war eine Vorlage an den Landtag bis zu den Plenartagen vom 11./12. März 2020 zeitlich nicht möglich.

4. Wie lautet die Antwort auf Unterfrage B.I.7 der Großen Anfrage 2 (Drs. 17/1363) unter Berücksichtigung des o.g. Urteils?

Siehe Anlage 1. In Bezug auf die rechtliche Einordnung und die Aussagekraft der Informationen wird auf die Vorbemerkung der Landesregierung zu der Antwort auf die Große Anfrage 2 verwiesen.

5. Welche genauen Örtlichkeiten sind zum Zeitpunkt der Beantwortung dieser Anfrage als gefährlich oder verrufen i.S.d. § 12 PolG NRW eingestuft? (Nennen Sie bitte sämtliche betroffenen Straßen oder Plätze!)

Siehe Anlage 2. In Bezug auf die rechtliche Einordnung und die Aussagekraft der Informationen wird auf die Vorbemerkung der Landesregierung zu der Antwort auf die Große Anfrage 2 verwiesen.

 

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Beteiligte:
Sven Tritschler