Hunderte Polzisten als Verfassungsfeinde unter Verdacht – Wie schaut es in Nordrhein-Westfalen aus?

Kleine Anfrage
vom 17.07.2024

Kleine Anfrage 4175

der Abgeordneten Markus Wagner und Professor Dr. Daniel Zerbin AfD

Hunderte Polzisten als Verfassungsfeinde unter Verdacht Wie schaut es in Nordrhein-Westfalen aus?

Laut den Innenministerien mehrerer Bundesländer sind Disziplinarverfahren oder Ermittlungen gegen mindestens 400 deutsche Polizisten wegen des Verdachts auf eine rechtsextremistische Gesinnung oder das Vertreten von Verschwörungsideologien eingeleitet worden.1

RTL und das Magazin Stern berufen sich dabei auf Angaben aus den 16 Innenministerien der Bundesländer. Der unlängst in Dienst getretene Polizeibeauftragte des Bundes beim Deutschen Bundestag, Uli Grötsch (SPD), der die Gefahr als so groß wie nie zuvor sieht, sagte: „Wir leben in Zeiten, in denen von Rechtsextremen gezielt versucht wird, die Polizeien zu destabilisieren.“2

Auch der nordrhein-westfälische Innenminister Herbert Reul (CDU) meldete sich zu Wort und nannte Polizisten, die nicht auf dem Boden der Verfassung stehen und extremistische Ansichten verfolgen, „eine große Gefahr für die Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit“. Er sagte zudem: „Diese Menschen will ich nicht bei der Polizei haben“.3

Der Bundesvorsitzende der Gewerkschaft der Polizei (GdP), Jochen Kopelke, äußerte sich wie folgt:

„Die Ermittlungen zeigen klar und deutlich, dass in den Reihen der Polizei eine hohe Sensibilität gegenüber extremistischen Umtrieben von Beschäftigten besteht.“4

Beamte, die nachgewiesenermaßen rechtsextremistische Haltungen vertreten oder Verschwörungserzählungen verbreiten, hätten in der Polizei nichts zu suchen. Das Disziplinarrecht müsse daher konsequent angewendet werden. Wichtig sei jedoch ebenso, so Kopelke gegenüber der Deutschen Presse-Agentur, „dass bei falschen Verdächtigungen die volle Rehabilitation der fälschlich Beschuldigten wieder hergestellt wird“.

Angesichts von rund 330.000 Polizeibeschäftigten von Bund und Ländern sei die Zahl jener, gegen die ermittelt werde, sehr gering. Als positives Beispiel hob der GdP-Vorsitzende ein Projekt der Polizei Niedersachsen hervor, bei dem sogenannte Demokratiepaten freiwillig im Einsatz sind. Aufgabe dieser Freiwilligen ist unter anderem, im polizeilichen Umgang mit populistischen und demokratiegefährdenden Erscheinungen beratend zu wirken. Wie WELT.de berichtete, gebe es Ermittlungen wegen möglicher Extremisten in den Reihen der Sicherheitsbehörden von Bund und Ländern seit Jahren immer wieder. Bereits 2022 hatte das Bundesinnenministerium einen Lagebericht dazu veröffentlicht. Damals wurde bekannt, dass binnen drei Jahren 327 Mitarbeiter wegen nachweislicher Bezüge zum Rechtsextremismus oder zur Szene der Reichsbürger aufgefallen waren.5

Wie die Rheinische Post berichtete, sind in den vergangenen vier Jahren 17 Rechtsextremisten aus dem Beamtenverhältnis entfernt worden. Weiter heißt es dazu:

„In 66 Fällen sei eine rechtsextreme Gesinnung anderweitig geahndet worden, teilte das NRW-Innenministerium am Donnerstag auf Anfrage mit. Seit 2017 seien 388 Hinweise auf extremistische Einstellungen verfolgt worden, darunter 370 Hinweise auf rechtsextreme Einstellungen. In 101 Fällen dauere die Prüfung noch an. In 204 Fällen habe sich der Vorwurf nicht erhärtet. Seit 2016 seien acht Polizisten unter Verdacht geraten, der Reichsbürgerbewegung anzugehören. Ein Beamter sei rechtskräftig aus dem Dienst entfernt worden. In den übrigen Fällen gebe es noch keine rechtskräftige Gerichtsentscheidung, zum Teil dauern die Ermittlungen noch an.“6

Wir fragen daher die Landesregierung:

  1. Wie hoch ist der Anteil rechtskräftiger Verfahren gegen Polizeibeamte wegen des Verdachts auf eine rechtsextremistische Gesinnung oder wegen des Vertretens von Verschwörungstheorien in Nordrhein-Westfalen?
  2. Was wird den unter Frage 1 abgefragten Polizeibeamten jeweils einzeln konkret zur Last gelegt?
  3. Inwieweit wurden bei den bisherigen Ermittlungen private Mobiltelefone von Polizeibeamten überwacht?
  4. Ab welchem Sachzusammenhang bewertet die Landesregierung eine Verschwörungserzählung nicht mehr als persönliche Sichtweise, die durch die Meinungsfreiheit geschützt ist?
  5. Wie definiert die Landesregierung den Begriff der „Verschwörungstheorie“?

Markus Wagner

Professor Dr. Daniel Zerbin

 

MMD18-10036

 

1 Vgl. https://www.welt.de/politik/deutschland/article250861722/Rechtsextremismus-Mindestens-400-Polizisten-als-Verfassungsfeinde-unter-Verdacht.html.

2 Ebenda.

3 Ebenda.

4 Ebenda.

5 Ebenda.

6 Vgl. https://rp-online.de/nrw/panorama/rechtsextreme-bei-nrw-polizei-17-beamte-entlassen-weitere-faelle-geahndet_aid-110091471.


Der Minister des Innern hat die Kleine Anfrage 4175 mit Schreiben vom 19. August 2024 namens der Landesregierung beantwortet.

  1. Wie hoch ist der Anteil rechtskräftiger Verfahren gegen Polizeibeamte wegen des Verdachts auf eine rechtsextremistische Gesinnung oder wegen des Vertretens von Verschwörungstheorien in Nordrhein-Westfalen?

In dem Zeitraum zwischen dem 01.01.2017 und dem 30.06.2024 meldeten die Polizeibehör­den insgesamt 394 Hinweise zu extremistischen Verdachtsfällen. Hiervon wurden 376 Hin­weise dem Phänomenbereich Politisch motivierte Kriminalität (PMK) – Rechts, 17 Hinweise dem Bereich PMK-sonstige Zuordnung und ein Hinweis dem Bereich PMK-religiöse Ideologie zugeordnet. Die Zuordnung der Hinweisfälle erfolgt dabei unter Berücksichtigung der Vorga­ben im gemeinsamen System von Bund und den Ländern dem „Kriminalpolizeilichen Melde­dienst Politisch motivierte Kriminalität“ und grundsätzlich zu Beginn des Verfahrens mit der Hinweiserstmeldung. In der weiteren Darstellung der statistischen Erfassung findet jedoch hin­sichtlich der anhängigen und beendeten Verfahren keine erneute Zuordnung zu den Phäno-menbereichen statt. Die Zuordnung der Fälle der sog. Reichsbürgerbewegung und der Ver­schwörungstheorien erfolgt im Bereich der PMK-sonstige Zuordnung.

Von den 95 Hinweisen, die nach abgeschlossener strafrechtlicher und/oder arbeits-/diszipli-nar-/ oder beamtenrechtlicher Prüfung eine Ahndung nach sich zogen, wurde in 21 Fällen das Beamtenverhältnis beendet. Dies entspricht einem Anteil von rund 5,33 Prozent an der Gesamtzahl der Hinweise. Die Hinweiserfassung erfolgt ganz bewusst sehr niedrigschwellig und schließt auch anonyme und vage Hinweise ein. Ein Großteil der erfassten Hinweise lässt sich daher nicht erhärten.

  1. Was wird den unter Frage 1 abgefragten Polizeibeamten jeweils einzeln konkret zur Last gelegt?

Konkrete Sachverhalte werden statistisch nicht erfasst und eine weitergehende Aufschlüsse­lung nach einzelnen „Dienstvergehen“ ist nicht möglich. Zudem werden die Fälle, in denen ein Hinweis auf extremistische Einstellungen vorliegt und das Beamtenverhältnis beendet wurde, zusammen dargestellt. Hierunter fallen die Entfernung aus dem Beamtenverhältnis und die Aberkennung des Ruhegehalts nach Disziplinarklage und sonstige Entlassungen gemäß §§ 22, 23 des Gesetzes zur Regelung des Statusrechts der Beamtinnen und Beamten in den Ländern (BeamtStG). Erfasst werden aber auch atypische Fälle, wie zum Beispiel die Entlas­sung auf Antrag der Beamtin oder des Beamten oder aufgrund endgültigem Nichtbestehens einer Prüfung von Anwärterinnen und Anwärtern, soweit nach einer Würdigung des Einzelfalls davon ausgegangen wird, dass es bei Fortführung des Verfahrens zu einer Entfernung bzw. Entlassung gekommen wäre.

  1. Inwieweit wurden bei den bisherigen Ermittlungen private Mobiltelefone von Poli­zeibeamten überwacht?

Die gesetzlichen Regelungen im Beamten- und Disziplinarrecht sehen eine Telekommunikati-onsüberwachung nicht vor.

  1. Ab welchem Sachzusammenhang bewertet die Landesregierung eine Verschwö­rungserzählung nicht mehr als persönliche Sichtweise, die durch die Meinungs­freiheit geschützt ist?

Die Äußerung von Verschwörungsmythen ist grundsätzlich von der Meinungsfreiheit gedeckt. Je nach Ausprägung und Manifestation kann das Verfolgen von Verschwörungsmythen dem Straf-, Ordnungswidrigkeiten- oder Disziplinarrecht unterfallen.

Maßgebend ist der Begriff des Dienstvergehens als Grundlage disziplinarer Verfolgung. Die Pflichtverletzung ergibt sich dabei aus den im Landesbeamtengesetz und Beamtenstatusge-setz genannten Pflichtentatbeständen.

Die jeder Beamtin und jedem Beamten obliegende Verfassungstreuepflicht stellt dabei eine beamtenrechtliche Kernpflicht dar. Gefordert ist in der verfassungsgerichtlichen Rechtspre­chung ein „Mehr“ als das bloße Haben und Mitteilen einer Überzeugung. Ein Dienstvergehen besteht dabei erst, wenn die Beamtin bzw. der Beamte aus ihrer bzw. seiner Überzeugung Folgerungen für ihre bzw. seine Einstellung und für die Art der Erfüllung ihrer bzw. seiner Dienstpflichten zieht. Die Verpflichtung zur Verfassungstreue verlangt dabei, neben dem Be­kennen und aktiven Eintreten für die freiheitliche demokratische Grundordnung auch, dass Beamtinnen und Beamte sich eindeutig von Gruppen und Bestrebungen distanzieren, die den Staat, seine verfassungsmäßigen Organe und die geltende Verfassungsordnung angreifen, bekämpfen und diffamieren. Zwischen dem „bloßen“ Haben und Mitteilen einer Überzeugung und dem planmäßigen Agieren oder gar Agitieren liegen differenzierungsfähige und erhebliche Abstufungen.

Gehen Verschwörungsmythen darauf aus, Elemente der freiheitlichen demokratischen Grund­ordnung zu beseitigen oder außer Geltung zu setzen, kann auch der Beobachtungsauftrag des Verfassungsschutzes nach § 3 Abs. 1 des Gesetzes über den Verfassungsschutz in Nord­rhein-Westfalen (VSG) aktiviert sein.

  1. Wie definiert die Landesregierung den Begriff der „Verschwörungstheorie“?

Die statistische Erfassung „Politisch motivierter Kriminalität“ (PMK) erfolgt bundesweit einheit­lich auf der Grundlage des im Jahr 2001 von der Ständigen Konferenz der Innenminister und -senatoren der Länder beschlossenen Definitionssystems „Politisch motivierte Kriminalität“. Politisch motivierte Straftaten werden hinsichtlich des Begründungszusammenhangs (Motiv) einem oder mehreren Themenfeldern zugeordnet.

Ein Themenfeld zur Erfassung der politisch motivierten Kriminalität ist das Themenfeld „Ver­schwörungserzählungen“, das wie nachfolgend im Kriminalpolizeilichen Meldedienst – Poli­tisch motivierte Kriminalität (KPMD-PMK) erläutert wird:

Alternative Begriffe, neben Verschwörungserzählung, sind: Verschwörungsideologie oder Ver­schwörungsmythos. Einige Wissenschaftler lehnen den Begriff der Verschwörungstheorie ab, da ein wesentliches Merkmal einer wissenschaftlichen Theorie die Falsifizierbarkeit (Gegen­beweise) der Theorie ist. Theorien können demnach an der empirischen Realität scheitern (vgl. Imhoff, 2020; Pfahl-Traughber, 2002). Gerade Verschwörungen zeichnen sich dadurch aus, dass sie gegen Falsifikationen resistent sind, weshalb einige den Begriff der Verschwö­rungserzählung präferieren (vgl. Decker et al., 2020).

Verschwörungserzählungen überbetonen Planung, Heimlichkeit und Verkettung (Barkun, 2013, zitiert nach Butter, 2021):

Planung: nichts geschieht durch Zufall, alles wurde geplant.

Heimlichkeit: nichts ist so, wie es scheint, daher müsse man hinter die Fassade blicken, um zu erkennen.

Verkettung: Alles ist miteinander verbunden. Es bestehen Verbindungen zwischen Er­eignissen, Personen und Institutionen. Diese vermeintlichen Verbindungen werden durch eine Verschwörung erklärt.

Die Verschwörungserzählungen enthalten stets Argumente für ihre jeweilige Erzählung und auch nur diese werden gesammelt. Hinweise, Erzählungen, Fakten, welcher der Erzählung widersprechen, werden nicht gesucht, nicht gesammelt und ignoriert.

„Verschwörungserzählungen entfalten auf Grund ihrer Struktur – einfache Freund-Feind-Kon­struktionen, Verweise auf verborgene Machenschaften, Unüberprüfbarkeit und damit Unwider­legbarkeit mit Fakten usw. – gerade in gesellschaftlichen Krisenzeiten ein demokratiegefähr­dendes Potential. Sie mobilisieren bereits vorhandene Ressentiments, können Gewalt in den Augen der Verschwörungsgläubigen legitimieren und verschieben den öffentlichen Diskurs hin zu Scheinlösungen und zur Verantwortungszuschreibung an imaginierte Feindgruppen.“ (De-cker et al., 2020).

Viele Verschwörungserzählungen weisen eine Nähe zu antisemitischen Metaphern auf (vgl. Decker et.al., 2020).

 

MMD18-10347