Kleine Anfrage 4493der Abgeordneten Markus Wagner und Nic Vogel vom 01.10.2020
Immer wieder „Tumultlagen“ in Nordrhein-Westfalen: Was sind die Ursachen?
Sogenannte „Tumultlagen“ werden in Nordrhein-Westfalen erst seit dem 1. Januar 2018 systematisch erfasst. Aufgrund einer immer noch fehlenden Definition in den bundesweit gültigen Polizeidienstvorschriften ist der Begriff zuvor im Rahmen eines Erlasses vom 25. September 2017 wie folgt einsatzfachlich definiert worden1:
„Eine Tumultlage aus polizeifachlicher Sicht ist eine polizeiliche Einsatzlage, die durch oder aus einer aggressiv auftretenden Personengruppe hervorgerufen wird, bei der die Anzahl der Personen, ihre Rolle bzw. der Status einzelner Personen, beim ersten Einschreiten nicht sofort zu bestimmen ist. Dabei kann strafrechtlich relevantes Verhalten untereinander auftreten, sich gegen andere Gruppen bzw. Personen oder gegen die einschreitenden Beamtinnen/Beamten richten. Hierzu gehören in der Regel zumindest Landfriedensbuchsdelikte, Beleidigungs-, Körperverletzungs-, Sachbeschädigungs- und/oder Widerstandsdelikte.“2
Die Landesregierung begründet ihr damaliges Vorgehen damit, dass man die „Besonderheiten und Gefahren, die mit Tumultlagen für die Bürgerinnen und Bürger sowie die Einsatzkräfte einhergehen, bereits frühzeitig erkannt“3 habe. Über eine Gesamtschau auf landesweite Entwicklungen hinaus ziele die Erfassung auch darauf ab, dass die Kreispolizeibehörden auf einer solchen statistischen Grundlage befähigt werden, zielgerichtete Maßnahmen, wie Präsenzkonzeptionen, zu ergreifen.4
Nach Auskunft der Landesregierung obliegt eine Bewertung, ob es sich um eine Tumultlage handelt, der örtlich zuständigen Polizeibehörde in Abstimmung mit der Landesleitstelle.5
Da eine standardisierte Erfassung der Staatsbürgerschaft der an Tumultlagen Beteiligten nicht erfolgt, kann die Herkunft von Tatverdächtigen derzeit lediglich über eine händische Einzelfallauswertung der im Zusammenhang mit den Tumultlagen gefertigten Strafanzeigen ermittelt werden. Demgegenüber werden erkennbare Bezüge zur Clankriminalität erfasst6, um die Erkenntnisse über kriminelle Clanmitglieder zu verdichten7, und da „sich das Auftreten krimineller Mitglieder von Familienclans u. a. durch die offensive Beanspruchung regionaler und/oder krimineller Aktionsräume charakterisiert und bei zurückliegenden Tumultlagen bereits Erkenntnisse dazu gewonnen werden konnten, dass Tumultlagen wiederkehrend im Bezug zur Clankriminalität standen“.8
Obgleich diese vorgelegte Begründung schlüssig ist und eine Verdichtung der Erkenntnislage über das Kriminalitätsphänomen der Clankriminalität notwendig erscheint, lassen sich Bezüge zur Clankriminalität im Abfragezeitraum des 2. Halbjahres 2018 in bloß 6 von insgesamt 77 Lagen nachweisen (1. Halbjahr 2019: Lediglich 7 von 52 Lagen; 2. Halbjahr 2019: 5 von 41 Lagen).9 Der Großteil der Tumultlagen der vergangenen Jahre scheint demnach mit Gruppendynamiken und anderen Einflussgrößen jenseits des Gebarens, der Prägungen und der Bestrebungen von schwerkriminellen Clanstrukturen verbunden zu sein.
Zwar betont die Landesregierung, dass das Phänomen der Tumultlagen ein multikausales sei, allerdings ist die tatsächliche kriminologische bzw. kriminalistische Durchdringung jener „Besonderheiten und Gefahren, die mit Tumultlagen für die Bürgerinnen und Bürger sowie die Einsatzkräfte einhergehen“, nicht weit fortgeschritten: Die Datengrundlage sei noch zu schwach, spezifische Erkenntnisse lägen noch nicht vor.10
Aufschluss über weitere „erkennbare Bezüge“, die jedoch derzeit nicht standardisiert als Parameter miterfasst werden, hat eine kritische Anfrage der AfD-Landtagsfraktion Ende Juni 2020 gegeben: Die AfD-Fraktion erfragte zum einen die Staatsangehörigkeit der im ersten Halbjahr 2020 polizeilich erfassten Beteiligten an „Tumultlagen“ und zum anderen die Vornamen der im ersten Halbjahr 2020 polizeilich erfassten Beteiligten an „Tumultlagen“ mit deutscher Staatsangehörigkeit. Daraus ergab sich zunächst, dass die deutschen Staatsbürger, gefolgt von den Türken und Syrern, mit insgesamt 87 Beteiligten die größte Teilmenge darstellten. Die Gesamtzahl von insgesamt 109 beteiligten Ausländern, Doppelstaatlern oder Personen mit ungeklärter Herkunft überstieg die Zahl der Einheimischen allerdings. 55,61 Prozent der insgesamt 196 erfassten Beteiligten waren Nicht-Deutsche oder besaßen neben der deutschen eine weitere Staatsbürgerschaft. Darüber hinaus trugen 37 der insgesamt 87 Beteiligten mit deutschem Pass (42,53 Prozent dieser Teilmenge) einen Vornamen, der aus dem Türkischen, dem Albanischen, dem arabischen oder afrikanischen Raum stammt, was 18,88 Prozent der Gesamtpersonenzahl entspricht. Summa summarum waren insgesamt 146 der 196, also 74,49 Prozent, der im ersten Halbjahr 2020 polizeilich erfassten Beteiligten an Tumultlagen Ausländer, insbesondere aus der Türkei und aus Syrien, weiterhin Personen mit einer weiteren nicht-deutschen Staatsbürgerschaft sowie Personen mit einem türkischen, arabischen, afrikanischen oder albanischen Vornamen.11
Diese behelfsmäßige Methode ist selbstverständlich in Teilen nicht vor Verzerrungen gefeit und liefert noch keine hinreichende kriminologische Erklärung für das hochgradig sicherheitsrelevante soziale Phänomen der Tumultlagen. Nichtsdestotrotz legt diese Datengrundlage eine mit zu berücksichtigende Korrelation bzw. einen denkbaren Kausalzusammenhang zwischen einer bestimmten nicht oder unzureichend gesteuerten Zuwanderung und dem Auftreten jener kollektiven und unsere öffentliche Ordnung verachtenden Verhaltensmuster nahe. Es erscheint daher unverständlich und im Gegensatz zu einem echten Erkenntnisinteresse, dass Staatsbürgerschaften sowie Migrationshintergründe (analog zum Mikrozensus) und damit unter Umständen möglicherweise verbundene Prägungen nicht Teil der standardisierten Erfassung und der amtlichen Auseinandersetzung sind.
Jene im Zusammenhang mit Tumultlagen erfassten Parameter sind im Juni 2020 zumindest dahingehend erweitert worden, dass fortan auch erhoben wird, ob im Rahmen des Einsatzverlaufes Einsatzkräfte Ziel der Angriffe waren.12
Wir fragen daher die Landesregierung:
- Wie hat sich der nach eigenen Angaben „frühzeitige“ Erkenntnisprozess der Landesregierung, der dazu führte, „Tumultlagen“ 2017 einsatzfachlich zu definieren und ab 2018 systematisch zu erfassen, im Detail gestaltet? (Bitte in diesem Sinne z.B. angeben, welche informativen Eingaben aus den Kreispolizeibehörden, der Bevölkerung oder auch der Wissenschaft, in welcher zeitlichen Abfolge, die Landesregierung veranlasst haben, dieses Phänomen auf einem bestimmten Wege mit spezifischen zu messenden Parametern zu erfassen.)
- Welche Parameter werden im Einzelnen im Zusammenhang mit Tumultlagen gegenwärtig erfasst? (Bitte nachvollziehbar und vollumfänglich darstellen.)
- Wie bewertet die Landesregierung den außerordentlich hohen Anteil der Ausländer und mutmaßlichen Personen mit Migrationshintergrund an der Gesamtzahl der im ersten Halbjahr 2020 polizeilich erfassten Beteiligten an Tumultlagen und den ebenfalls deutlich überproportionalen Anteil der Ausländer und mutmaßlichen Personen mit Migrationshintergrund von insgesamt 45,91 Prozent an der Gesamtzahl der im zweiten Halbjahr 201913 polizeilich erfassten Beteiligten an Tumultlagen?
- Warum erfasst die Landesregierung die Staatsbürgerschaft (und den Migrationshintergrund analog zum Mikrozensus) der Beteiligten bisher nicht als Parameter im Zusammenhang mit Tumultlagen?
- Welche konkreten Anstrengungen unternimmt die Landesregierung beziehungsweise das Landeskriminalamt, um das Phänomen der Tumultlagen kriminologisch bzw. kriminalistisch beschreiben, erklären und prognostizieren zu können?
Markus Wagner
Nic Vogel
1 Vgl. Drucksache 17/10488, S. 3.
2 Vorlage 17/3507 A09, S. 5.
3 Vgl. Vorlage 17/3718 A09, S. 2.
4 Vgl. Vorlage 17/3718 A09, S. 2.
5 Vgl. 17/3507 A09., S. 6.
6 Vgl. 17/3507 A09, S. 6.
7 Vgl. Vorlage 17/3718 A09, S. 3.
8 Ebd..
9 Vgl. 17/3507 A09., S. 6.
10 Vgl. Drucksache 17/10488, S. 3.
11 Eigene Berechnungen auf der Grundlage der Anlagen 1 und 2 der Drucksache 17/10488.
12 Vgl. Vorlage 17/3718 A09, S. 4.
13 Eigene Berechnungen auf der Grundlage der Vorlage 17/3718, S. 4ff..
Der Minister des Innern hat die Kleine Anfrage 4493 mit Schreiben vom 3. November 2020 namens der Landesregierung im Einvernehmen mit dem Minister für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration beantwortet.
- Wie hat sich der nach eigenen Angaben „frühzeitige“ Erkenntnisprozess der Landesregierung, der dazu führte, „Tumultlagen“ 2017 einsatzfachlich zu definieren und ab 2018 systematisch zu erfassen, im Detail gestaltet? (Bitte in diesem Sinne z.B. angeben, welche informativen Eingaben aus den Kreispolizeibehörden, der Bevölkerung oder auch der Wissenschaft, in welcher zeitlichen Abfolge, die Landesregierung veranlasst haben, dieses Phänomen auf einem bestimmten Wege mit spezifischen zu messenden Parametern zu erfassen.)
Grundlage für das Erfordernis, „Tumultlagen“ zu definieren und systematisch zu erfassen, bildeten insbesondere Informationen und Meldungen aus den Polizeibehörden sowie Medienberichte, die eine nicht unerhebliche Zahl an gruppendynamischen Einsatzsituationen mit einhergehenden Besonderheiten und Gefahren für Bürgerinnen und Bürger sowie die Einsatzkräfte erkennen ließen. Auf Basis dieser Einsatzlagen wurden 2017 eine systematische Erfassung solcher Lagen initiiert und die einsatzfachliche Definition für den Begriff „Tumultlage“ entwickelt.
Eine recherchefähige, chronologische Dokumentation über den Eingang der eingegangenen Meldungen erfolgte dabei nicht.
- Welche Parameter werden im Einzelnen im Zusammenhang mit Tumultlagen gegenwärtig erfasst? (Bitte nachvollziehbar und vollumfänglich darstellen.)
Im Rahmen der durch das Landesamt für Zentrale Polizeiliche Dienste des Landes NRW durchgeführten Erhebung werden gegenwärtig folgende Parameter im Zusammenhang mit „Tumultlagen“ erfasst:
- Betroffene Kreispolizeibehörde
- Einsatzzeit
- Einsatzanlass
- Örtlichkeit
- Eingesetzte Kräfte
- Anzahl Verletzte und Schwere der Verletzung
- Durch die Polizei getroffene Maßnahmen
- Bezug zur Clankriminalität erkennbar (Auswahlfeld Ja/Nein)
- Angriffe zielten auf einschreitende Einsatzkräfte (Polizei, Rettungskräfte etc.) ab (Auswahlfeld Ja/Nein)
- Wie bewertet die Landesregierung den außerordentlich hohen Anteil der Ausländer und mutmaßlichen Personen mit Migrationshintergrund an der Gesamtzahl der im ersten Halbjahr 2020 polizeilich erfassten Beteiligten an Tumultlagen und den ebenfalls deutlich überproportionalen Anteil der Ausländer und mutmaßlichen Personen mit Migrationshintergrund von insgesamt 45,91 Prozent an der Gesamtzahl der im zweiten Halbjahr 201913 polizeilich erfassten Beteiligten an Tumultlagen?
- Warum erfasst die Landesregierung die Staatsbürgerschaft (und den Migrationshintergrund analog zum Mikrozensus) der Beteiligten bisher nicht als Parameter im Zusammenhang mit Tumultlagen?
- Welche konkreten Anstrengungen unternimmt die Landesregierung beziehungsweise das Landeskriminalamt, um das Phänomen der Tumultlagen kriminologisch bzw. kriminalistisch beschreiben, erklären und prognostizieren zu können?
Die Fragen 3 – 5 werden aufgrund des Sachzusammenhangs gemeinsam beantwortet.
„Tumultlagen“ sind aus kriminologischer bzw. kriminalistischer Sicht nicht auf eine alleinige Ursache zurückzuführen. Insoweit ist eine pauschale Beschreibung oder Erklärung hinsichtlich des Ursprungs, der personellen Zusammensetzung und deren Beteiligung in diesen stark divergierenden Einsatzlagen nicht möglich. Auch wenn „Tumultlagen“ meist durch kriminalitätsbegünstigende gruppendynamische Prozesse beeinflusst werden, ist eine monokausale Erklärung nicht sachgerecht.
Die seit dem 01.01.2018 landesweit eingeführte systematische Erfassung der „Tumultlagen“ erfolgte mit dem Ziel, die Erkenntnislage über entsprechende polizeiliche Einsatzlagen zu verbessern. Die Erkenntnisse werden durch die zuständigen Kreispolizeibehörden genutzt, um im Rahmen der örtlichen Sicherheitslage mit zielgerichteten Maßnahmenkonzepten auf erkannte Kriminalitätsphänomene zu reagieren bzw. diese präventiv zu beeinflussen. Dies geschieht beispielsweise durch den zielgerichteten Einsatz von Polizeibeamtinnen und – beamten im Rahmen von Präsenzkonzeptionen.
Mit Ausnahme von ausländerrechtlichen Verstößen orientieren sich polizeiliche Maßnahmen generell nicht an der Nationalität der Betroffenen. Polizeiliches Handeln basiert im Eingriffsfall ausschließlich auf der bestehenden Rechtsordnung unter Berücksichtigung der Grundsätze der Verhältnismäßigkeit.
Die polizeilichen Maßnahmenkonzepte orientieren sich an der lokalen Sicherheitslage. Sofern hierbei bestimmte Kriminalitätsphänomene hervorstechen, ist diesen mit den rechtlich zur Verfügung stehenden Mitteln entgegenzutreten. Hierbei richten sich polizeiliche Maßnahmen ausdrücklich nicht gegen bestimmte Nationalitäten, sondern gegen die zu bekämpfenden Kriminalitätsphänomene.
Gleichwohl werden jedwede Verstöße und Straftaten im Zusammenhang mit „Tumultlagen“ im Rahmen der „Null-Toleranz-Strategie“ konsequent verfolgt.
Im Rahmen der Beantwortung der Kleinen Anfrage 3956 (Drucksache 17/10020) sowie der Vorlage des schriftlichen Berichtes zum TOP „Datenerhebung bei Tumultlagen“ (Vorlage 17/3718) für die Innenausschusssitzung am 20.08.2020 erfolgten zusätzliche händische Auswertungen der „Tumultlagen“. Als Ergebnis wurde bereits mitgeteilt, dass eine Vielzahl der beteiligten Personen einen Migrationshintergrund aufgewiesen haben.
Darüber hinaus wurde im Rahmen der bisherigen Befassung mit Tumultlagen festgestellt, dass vermutlich über soziale Medien oder Messengerdienste innerhalb kürzester Zeit eine hohe Anzahl weiterer Personen mobilisiert werden konnte.
Im Rahmen der Lagebeurteilung werden grundsätzlich alle relevanten Informationen bei der Bewertung und anschließenden Bearbeitung von zukünftigen „Tumultlagen“ berücksichtigt.