Juni 1953: der Volksaufstand in der DDR als Ausdruck des Freiheitswillens und des Strebens nach nationalem Selbstbestimmungsrecht – der Landtag von NRW sieht sich selbst in der Tradition dieses Widerstands gegen freiheitsraubende Ideologien und des Einsatzes für nationale Souveränitätsrechte

Antrag
vom 08.06.2021

Antragder AfD-Fraktion vom 08.06.2021

 

Juni 1953: der Volksaufstand in der DDR als Ausdruck des Freiheitswillens und des Strebens nach nationalem Selbstbestimmungsrecht der Landtag von NRW sieht sich selbst in der Tradition dieses Widerstands gegen freiheitsraubende Ideologien und des Einsatzes für nationale Souveränitätsrechte

I. Sachverhalt

Der 17. Juni war in der Bundesrepublik Deutschland bis 1989 ein arbeitsfreier Tag, an dem des breiten Volksaufstands in der DDR im Jahre 1953 gedacht wurde. Die Intensität und der Umfang des Gedenkens gingen zwar im Laufe der Zeit zurück, aber bis zum Jahre 1989 blieb durch diesen Gedenktag die Hoffnung auf die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staa­ten lebendig. Es war dieser Gedenktag, der auch den nach 1945 geborenen jungen Deutschen wenigstens einmal im Jahr bewusst machte, dass das deutsche Volk entgegen dem Selbstbe­stimmungsrecht der Völker durch die Beschlüsse der Siegermächte nach dem Zweiten Welt­krieg immer noch widerrechtlich und gegen den eigenen Willen in zwei Staaten leben mussten und durch eine der brutalsten Grenzen der Welt getrennt war.

Neben diesem Gedanken an die nationale Einheit wurde auch der Freiheitsgedanke im Wes­ten lebendig gehalten. Denn der SED-Propaganda von der verführerischen sozialistischen Idee eines paradiesischen Gemeinwesens, in dem in naher Zukunft Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit in gleicher Weise verwirklicht sein würden und die Menschen ihren entfremdeten Zustand verlassen könnten, um mit sich selbst im Reinen ausschließlich selbsterfüllenden Tä­tigkeiten nachzugehen, standen die grausamen Bilder einer brutalen Unterdrückungsmaschi­nerie entgegen, die politisch Andersdenkende durch Bespitzelung, Einschüchterung, Diffamie­rung als Faschisten, durch politische Prozesse, durch rechtswidrige Gefangensetzung in Kon­zentrationslagern oder sogar durch die Überstellung in sowjetische Straflager ausschalteten.

Diese Form der rigorosen Verfolgung aller Meinungsgegner der kommunistischen Ideologie war die Folge einer von der KPdSU aus Moskau gesteuerten Politik, die dazu führte, dass sich die SED in den Jahren nach 1946 zu einer straff organisierten Kaderpartei entwickelte, in der ein extremer Zentralismus und eiserne Disziplin bei der Umsetzung der Parteibeschlüsse herrschten. Die starke Betonung von Gewalt, Druck und Zwang bei der Unterordnung der Mit­glieder unter die Beschlüsse der Führung führte dazu, dass innerhalb der SED Kritik an Füh­rungsbeschlüssen nicht mehr möglich war, ohne repressive und letztlich auch strafrechtliche Konsequenzen fürchten zu müssen.1

Mit dem Diffamierungsinstrument, jede von der Parteilinie abweichende Meinung als „faschis­tisch“ etikettieren zu können, eröffnete sich die SED- Führung eine willkürlich zu handhabende Möglichkeit, jeden missliebigen Kritiker gesellschaftlich auszugrenzen, vor Gericht zu stellen und gegebenenfalls zu langjähriger Haft oder sogar zum Tode zu verurteilen.

So verhafteten im Sommer und im Herbst 1947 z. B. die sowjetischen Dienststellen in der SBZ Tausende von sozialdemokratischen Funktionären unter diesem Vorwurf. Trotz Resolutionen und Protestkundgebungen in den folgenden Parteiversammlungen wurden viele der Verhafte­ten in die Sowjetunion deportiert und wegen angeblicher Spionage gegen die Rote Armee zu langjährigen Freiheitsstrafen oder zum Tode verurteilt.2

Gleichzeitig wurden weiterhin und immer häufiger die Gefahren beschworen, die angeblich von „kapitalistischen Elementen“ für den gesellschaftlichen Fortschritt ausgehen würden. Der staatliche Sektor der Wirtschaft sollte in kürzester Zeit auf Kosten der privaten Betriebe aus­gebaut werden. Walter Ulbricht kündigte wiederholt in seinen Reden an, die „kapitalistischen Elemente“ zu beschränken, den „Widerstand der gestürzten und enteigneten Großkapitalisten und Großagrarier“ zu brechen sowie ihre vermeintlichen „Versuche, die Macht des Kapitals wiederherzustellen“, zu liquidieren. Die SED-Führung und ihre willigen Vollstrecker vor Ort ar­beiteten permanent mit der Sprache des Hasses und der Gewaltandrohung gegen Personen­gruppen, die plötzlich, willkürlich und häufig völlig unerwartet zu „Feinden der Gesellschaft“ erklärt wurden, womit man jede willkürliche Gewalt gegen missliebige Personen rechtfertigte.3

Im Herbst 1952 wurde in der DDR die zunehmende Wirtschaftskrise auch für die Bevölkerung immer offensichtlicher. Die SED-Führung suchte nach Schuldigen. Sie fand und entlarvte, auch in den eigenen Reihen, „Schädlinge“, „Saboteure“ und „Agenten“. Das im September 1952 verabschiedete „Gesetz zum Schutz des Volkseigentums“ sowie eine neue Strafprozess­ordnung ermöglichten eine weitere Verschärfung der Strafverfolgung bei sogenannten Verstö­ßen gegen das geltende Wirtschaftsrecht. Bereits für geringfügige Vergehen wie einfachen Diebstahl oder Unterschlagungen von geringfügigem Wert wurden langjährige Zuchthausstra­fen verhängt. Zugleich ging das SED-Regime repressiv gegen den Mittelstand vor. Ende 1952 startete eine Kampagne zur Enteignung der privaten Einzel- und Großhändler, Gaststätten-und Hotelbesitzer, Speditions- und Fuhrunternehmer und noch bestehender privater Kleinbe­triebe und Unternehmer. Allein im Bezirk Potsdam wurden bis Ende März 1953 bei 112 Be­triebsüberprüfungen 139 Personen festgenommen und zumeist wegen „Verbrechen“ gemäß der Wirtschafts-Strafverordnung oder „Verbrechen gegen die Abgabenverordnung“ zu Zucht­hausstrafen zwischen einem und drei Jahren verurteilt. Das dabei beschlagnahmte Vermögen, das jetzt den „sozialistischen Sektor“ bereicherte, bezifferte die Volkspolizei auf 14.112.000,00 DDR-Mark. DDR-weit wurden bis Ende März 1953 über 10.000 Personen auf der Grundlage derartiger „Verfehlungen“ gerichtlich belangt.4

Der planmäßige Aufbau des Sozialismus richtete sich nicht nur gegen den Mittelstand, gegen selbständige Bauern und gegen Christen. Für weite Teile der Bevölkerung verschlechterten sich in den ersten Monaten des Jahres 1953 die Lebensbedingungen erheblich. Der Durch­schnittslohn betrug rund 300 DDR-Mark. An vielen Waren des alltäglichen Gebrauchs bestand Mangel. Grundnahrungsmittel wie Fett, Fleisch und Zucker waren nach wie vor rationiert, aber selbst auf Lebensmittelkarten nicht immer zu bekommen.5

Als Reaktion auf die Wirtschafts- und Versorgungskrise rief die SED-Führung im Februar 1953 zu einem Feldzug für strenge Sparsamkeit auf. Die Betriebe wurden zudem angewiesen, einen Kampf um die Erhöhung der Normen zu führen. Das stieß bei den Arbeitern auf Ableh­nung. Wegen Materialmangel und Stillstandszeiten konnten viele Betriebe und Werke schon die geltenden Normen nicht erfüllen, was zu Lohneinbußen führte. Am 9. April 1953 entzog der DDR-Ministerrat der selbständigen Mittelschicht die in der DDR immer noch allgegenwär­tigen Lebensmittelkarten, um diese Gesellschaftsgruppe endgültig „auszumerzen“, wie es hieß. Etwa zwei Millionen Menschen hatten nun kaum noch legale Einkaufsmöglichkeiten. Ebenfalls im April werden die Preise für Fleisch, Fleischwaren und für zuckerhaltige Erzeug­nisse (Kunsthonig und Marmelade) erhöht.6

Die DDR-Medien sprachen von einer „Preisregulierung“ und stellten sie als Verbesserung des Lebensstandards dar. Von dieser Maßnahme war die gesamte Bevölkerung betroffen. Der Unmut, der sich bereits am Wegfall der verbilligten Arbeiterrückfahrkarten entzündet hatte, wuchs nun ständig. Am 4. Mai 1953 berichtete zum Beispiel die SED-Kreisleitung Guben:

„Die Rentner sind fast ausnahmslos mit der neuen Preisregulierung unzufrieden. Sie sagen, sie konnten sich sowieso für ihre Rente kaum etwas kaufen und nun noch die Preiserhöhung. Die Rentnerin Bertha L., 78 Jahre, äußerte sich wie folgt: ‚Ich habe vorwiegend Marmelade gekauft, bin nun aber nicht mehr in der Lage, auf Grund des neuen Preises, welche zu kaufen. Ich sehe ein, dass die Berufstätigen mehr brauchen, aber was sollen wir jetzt essen, wenn wir die Marmelade nicht mehr bezahlen können. Wir sind ja sowieso für nichts mehr nütze, da ist es schon das Beste, wenn wir ins Gras beißen!‘“

Die SED-Kreisleitung Rathenow hielt folgende Äußerung eines Arbeiters fest: „Wir haben keine Demokratie, sagt jemand ein Wort, landet er in Sibirien. In keinem kapitalistischen Land wären solche Maßnahmen der Regierung möglich, da gäbe es Streiks und Aufruhr.“ Doch Meldungen dieser Art beeindruckten die SED-Führung nicht. Weil kaum ein Betrieb die Ar­beitsnormen freiwillig erhöhte, verordneten Politbüro und Ministerrat, dass alle Betriebe die Normen um zehn Prozent zu erhöhen hätten. Termin: 30. Juni, der Geburtstag Walter Ul­brichts. Viele Menschen entzogen sich diesen diktatorischen Unterdrückungsmaßnahmen und der wirtschaftlichen Not durch ihre Flucht in den Westteil Deutschlands. Von Juli 1952 bis Ende April 1953 flüchteten annähernd 300.000 Menschen aus der DDR, häufig jung, gut gebildet und den alten Mittelschichten angehörend. Die Zahl der politischen Häftlinge stieg in dieser Zeit von 37.000 auf 67.000.7

Nach dem Tode Stalins am 5. März 1953 veränderte die KPdSU-Führung die Direktiven ge­genüber der SED. Aus Angst vor einem Zusammenbruch der DDR angesichts der wirtschaft­lichen Probleme und der Massenflucht verordnete sie den „ostdeutschen Freunden“ mit dem Papier „Über die Maßnahmen zur Gesundung der politischen Lage in der DDR“ eine schnelle und radikale Kehrtwende ihrer Politik.8

Am 11. Juni 1953 bekannten Politbüro und Ministerrat öffentlich, in den zurückliegenden Mo­naten „eine Reihe von Fehlern begangen“ zu haben. Die Interessen der Einzelbauern, der Einzelhändler und Handwerker sowie der Intelligenz und der Kirchen seien sträflich missachtet worden. Diese Fehler würden umgehend korrigiert.9

Die Reaktionen auf den am 11. Juni 1953 veröffentlichten „Neuen Kurs“ der SED und auf das Eingeständnis von Fehlern waren geteilt: Die Parteifunktionäre und die SED-Basis waren ver­wirrt und schockiert. Alles, was sie in den vergangenen Monaten vertreten hatten, war plötzlich falsch und sollte nicht mehr gelten.

SED-Stimmungsberichten zufolge äußerten Arbeiter: „Jetzt haben wir in der DDR den Staats­bankrott.“ – „Jetzt haben sie oben erkannt, dass sie am Ende sind.“ In vielen Dörfern fanden „Befreiungsfeiern“ statt. Aus zwei Richtungen wuchs nun die Bereitschaft zum offenen Protest: Zum einen forderten selbständige Bauern, Mittelständler und Christen die sofortige Wieder­herstellung ihrer Rechte. Zum anderen verlangten Arbeiter immer energischer die Rücknahme der Normerhöhungen. Daran hatte die SED-Führung bei der Verkündung des „Neuen Kurses“ nicht gedacht – und in Moskau war davon auch keine Rede gewesen.10

Der DDR-Ministerrat folgte an diesem Tag den „Empfehlungen“ des SED-Politbüros und fasste folgende Beschlüsse:

  • Aufhebung der Beschränkungen für die Ausgabe von Lebensmittelkarten,
  • umfangreiche Preissenkungen,
  • die Aussetzung der Zwangsmaßnahmen bei Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen,
  • die Rückgabe von zwangsweise enteigneten Privatbetrieben und Bauernhöfen auf Antrag sowie
  • die Wiedereinführung der Fahrpreisermäßigungen bei Arbeiterrückfahrkarten.

Zudem sollten zurückkehrende Republikflüchtige ihre vollen Bürgerrechte zurückerhalten; ihnen wurde umfassende Unterstützung bei der Wiedereingliederung in das wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben zugesichert. Reisen von DDR-Bürgern in den Westen sollten erleich­tert werden. Es wurde ferner angeordnet, dass alle Verhaftungen, Strafverfahren und Urteile, die im Zusammenhang mit dem Gesetz zum Schutz des Volkseigentums vorgenommen wur­den, überprüft und Entlassungen vorgenommen werden. Der Ministerrat stimmte darüber hin­aus den von Otto Grotewohl ausgehandelten Vereinbarungen mit der Kirche zu. Die Be­schlüsse des Ministerrats wurden am 12. Juni in der DDR-Presse veröffentlicht.11

Auf Grund der Beschlüsse des SED-Politbüros und des DDR-Ministerrats wurden in Branden­burg an der Havel seit 09.00 Uhr Strafgefangene und Untersuchungshäftlinge aus der Haft entlassen. Im Untersuchungs-Gefängnis befand sich auch der Speditionsunternehmer T., der in Brandenburg einen Fuhrbetrieb mit mehr als 40 Mitarbeitern unterhielt und wegen des Ge­setzes zum Schutze des Volkseigentums inhaftiert worden war. Am Nachmittag dieses Tages begaben sich einige Arbeiter des Unternehmens zum Gefängnis und forderten die Freilassung ihres Chefs. Der Staatsanwalt lehnte die Freilassung vorerst ab. Daraufhin protestierten die Arbeiter lautstark; in kurzer Zeit versammelten sich einige tausend Menschen vor dem Ge­fängnis. Es kam zu Rangeleien. T. wurde noch in der Nacht freigelassen. Auch vor Gefäng­nissen in anderen Orten so etwa in Halle, Neuruppin, Güstrow und Stralsund bildeten sich Menschenaufläufe: Familien, Freunde und Mitarbeiter erwarteten die Freilassung ihrer Ange­hörigen bzw. ihrer Chefs.12

Die Darstellung dieser Ereignisse verdeutlichen, dass für weite Teile der DDR-Bevölkerung die Regierung ihre Glaubwürdigkeit und damit ihre Autorität verloren hatte, dass sehr viele Menschen sich nun trauten, gegen Unterdrückung und Unfreiheit aufzustehen und selbstver­ständliche Grundrechte einzufordern. Aber der Bewusstseinswandel war noch tiefgründiger. Viele Menschen hatten erkannt, dass die von der DDR-Führung propagierten, angeblich menschheitsbeglückenden kommunistischen Ziele objektiv falsch und verlogen waren. Sie dienten lediglich dazu, Kritiker als Menschenfeinde aussortieren zu können und den Wider­stand gegen die Unsinnigkeit und Grausamkeit einer marxistisch-leninistischen Gesellschafts-und Wirtschaftspolitik mit einem humanitären Deckmäntelchen zu verbrämen. Und so waren dann auch die Proteste der Bauarbeiter Berlins für die Zurücknahme der zehnprozentigen Nor-menerhöhung, also für die Zurücknahme einer drastischen Lohnkürzung, seit dem 15. Juni 1953 nur durch einen äußeren Anlass auf den Weg gebracht worden, aber im Grunde durch die oben dargelegte tiefgründige Einsicht in das diktatorische Wesen der SED-Herrschaft an­getrieben.

Nur so ist zu erklären, dass der Zug der streikenden Bauarbeiter zum ZK-Gebäude nicht nur vor Ort, sondern auch im ganzen Lande millionenfache Unterstützung erhielt und die Men­schen sich nicht mit administrativen Positiventscheidungen zufriedengaben. Denn die am 15. Juni beginnenden Streiks der Bauarbeiter in Berlin, die am 16. Juni weitergeführt wurden, mündeten nicht nur in einen Demonstrationszug zum Haus der Ministerien, sondern auch in Forderungen nach Rücknahme der Normenerhöhung und nach freien Wahlen, obwohl Fritz Selbmann, der Industrieminister, den Demonstranten die Rücknahme der Normerhöhung be­reits zugesichert hatte. Das aber spielte zu diesem Zeitpunkt keine Rolle mehr.

Am Abend des 16. Juni demonstrierten schließlich 20.000 Menschen an mehreren Orten Ber­lins und bildeten unzählige Diskussionsrunden. Für den 17. Juni wurde der Generalstreik aus­gerufen, der eine Resolution mit folgenden Forderungen durchsetzen sollte:

„1. Auszahlung der Löhne bei der nächsten Lohnzahlung bereits wieder nach den alten Nor­men;

  1. sofortige Senkung der Lebenshaltungskosten;
  2. freie und geheime Wahlen;
  3. keine Maßregelungen von Streikenden und Streiksprechern.“

Aber bereits am nächsten Tag wurde deutlich, dass die Normerhöhungen nur noch der Anlass von Unzufriedenheit und Protest gewesen waren. Fast überall wurden jetzt – wie im Funkwerk Köpenick – politische Forderungen erhoben:

  1. Rücktritt der Regierung,
  2. freie und geheime Wahlen,
  3. für die Einheit Deutschlands.

Die Streikbewegung weitete sich auf unzählige Betriebe aus. Neben den Baustellen beteiligten sich auch Großbetriebe, Handwerksbetriebe und Einzelhandelsunternehmen. Aus allen Stadt­bezirken waren Demonstrationszüge in Richtung Stalinallee zum vereinbarten Treffpunkt un­terwegs. Die Menschenmassen zogen zum Haus der Ministerien in der Leipziger Straße; im­mer neue Demonstrationszüge stießen hinzu. In der Leipziger Straße, am Brandenburger Tor, am Alexanderplatz – in der ganzen Stadt demonstrierten ab 8.00 Uhr morgens zehntausende Menschen. Aus dem Berliner Umland stießen weitere Demonstranten hinzu. Aus Hennigsdorf bewegte sich ein riesiger Demonstrationszug durch West-Berlin ins Ostberliner Stadtzent-rum.13

Der Aufstand erfasste am 17. Juni 1953 die gesamte DDR. In über 700 Städten und Gemein­den kam es zwischen dem 16. und 21. Juni 1953 zu Demonstrationen und Streiks. Am Vortag hatten sie von den Berliner Streiks erfahren und demonstrierten nun zu Zehntausenden. In mehreren Städten zogen die Streikenden vor die Gefängnisse und forderten die Freilassung der politischen Häftlinge.

Etwa eine Million Menschen beteiligten sich am Volksaufstand. Sie besetzten insgesamt mehr als 250 öffentliche Gebäude, darunter auch MfS-Kreisdienststellen, SED-Bezirksleitungen und eine Bezirksbehörde der Volkspolizei. Vor zahlreichen Haftanstalten demonstrierten Men­schen für die Freilassung politischer Häftlinge. Aus einigen gelang tatsächlich die Befreiung von Gefangenen. Insgesamt wurde während des Volksaufstands in mehr als eintausend Be­trieben und Genossenschaften gestreikt. Die hauptsächlichen Forderungen der Demonstran­ten waren:

  • „Nieder mit der SED“,
  • „Freie Wahlen“,
  • „Freilassung der politischen Häftlinge“,
  • „Rücktritt der Regierung“,
  • „Abzug der Besatzungstruppen“ und
  • „Wiedervereinigung“.14

Mit diesen Forderungen lösten sich die Demonstranten aus den Niederungen der Alltagspolitik, der materiellen Not und der Frage nach gerechter Umverteilung erwirtschafteter Güter. Damit knüpften sie an die Forderungen an, die seit Beginn des 19. Jahrhunderts immer wieder von freiheitlich und national eingestellten Menschen in Deutschland aufgestellt worden sind. Damit stehen die Widerstandskämpfer von 1953 nicht isoliert im Strom der deutschen Geschichte, sondern sie reihen sich ein in die Traditionen des deutschen Widerstands von den napoleoni­schen Befreiungskriegen über die Demokratiebewegung von 1848 bis hin zu der Revolution von 1918 und den Widerstandsgruppen im Nationalsozialismus. Bei aller Verschiedenheit der Epochen, der Unterdrückungsformen, der Unterdrückungsmotive und der historischen Abläufe bleibt doch eins gleich: der Wille zur Freiheit, zur Selbstbestimmung und zur Einheit der Nation als Antrieb von Menschen, denen die Freiheit und die Einheit der Nation so viel wert war und ist, dass sie dafür kämpfen.

Die Menschen in der frühen DDR haben schnell erkannt, dass sie für die SED-Funktionäre bloße Verfügungsobjekte für Politik, Wirtschaft und Gesellschaft waren und dass sich die „so­zialistische Demokratie“ als rhetorisches Alibi für eine uneingeschränkte Parteienherrschaft dekuvrierte. Und sie erkannten schnell, dass der Marxismus-Leninismus als nicht hinterfrag-bare Wissenschaftserkenntnis eine quasireligiöse Funktion angenommen hatte und die Dog­men lieferte, auf deren Grundlage die Funktionäre Menschen zu gewünschten Verhaltenswei­sen zwingen und jeden Widerstand auch gewaltsam brechen konnten.15

Diesen Zwang erfuhren die Demonstranten sehr schnell. Von russischen Truppen und deut­scher Volkspolizei wurde der Widerstand mit brutaler Gewalt niedergeschlagen. Bereits am ersten Tag wurden in Berlin sieben Menschen getötet und 66 schwer verletzt. In Halle starben sieben Aufständische bzw. Unbeteiligte: E., S., C., S., K., R. und K., der am 27. Juni seiner Schussverletzung vom 17. Juni erlag. Allein bis zum Morgen des 6. Juli 1953 wurden in der Folge des Volksaufstandes 10.000 Menschen festgenommen. Die ostdeutschen Sicherheits­kräfte und die sowjetischen Besatzungstruppen arbeiteten dabei Hand in Hand. Zügig führten neben den DDR-Gerichten auch sowjetische Militärtribunale die Prozesse.

Viele Jahrzehnte hindurch blieben viele Todesopfer des Volksaufstandes namenlos. Ihre Le­bensgeschichten waren der Öffentlichkeit ebenso unbekannt wie die Umstände, unter denen sie ums Leben kamen. Selbst zuverlässige Angaben über die genaue Anzahl der Todesopfer fehlten.16 Erst mit der Veröffentlichung des Buches „Die Toten des Volksaufstandes vom 17. Juni 1953“ (Ahrberg / Hertle / Hollitzer) im Jahre 2004 wurden 55 Todesopfer, unter ihnen vier Frauen, durch Quellen belegt.

34 Demonstranten, Passanten und Zuschauer wurden am 17. Juni und den Tagen danach (bis zum 23. Juni) von Volkspolizisten und sowjetischen Soldaten erschossen bzw. starben an den Folgen der ihnen zugefügten Schussverletzungen.

Fünf Männer wurden von Instanzen der sowjetischen Besatzungstruppen in Deutschland zum Tode verurteilt und hingerichtet. Zwei Todesurteile wurden von DDR-Gerichten verhängt und vollstreckt. Vier Personen starben in Folge menschenunwürdiger Haftbedingungen, vier wei­tere in Zusammenhang mit dem Juni-Aufstand Festgenommene begingen in der (Untersu-chungs-)Haft Selbstmord, wobei zumindest in zwei Fällen Fremdeinwirkung nicht auszuschlie­ßen ist.

Ein Demonstrant verstarb beim Sturm auf ein Volkspolizei-Revier an Herzversagen. Fünf An­gehörige der DDR-Sicherheitsorgane wurden getötet: Zwei Volkspolizisten und ein MfS-Mitar-beiter wurden bei der Verteidigung eines Gefängnisses von Unbekannten erschossen, ein Mit­arbeiter des Betriebsschutzes von einer wütenden Menge erschlagen und ein weiterer Volks­polizist versehentlich von sowjetischen Soldaten erschossen. 17

Viele Bürger der DDR erlebten in der Folgezeit Verfolgung und Unterdrückung; der Sicher­heitsapparat wurde gewaltig aufgerüstet, Personen mit missliebigen Meinungen wurden be­droht und verfolgt. Viele Menschen flohen in den folgenden Jahren aus diesem Unrechtsre­gime in die Bundesrepublik Deutschland. Das wiedervereinigte Deutschland ist den zahllosen Opfern der kommunistischen Gewaltdiktatur in Deutschland verpflichtet; ihnen ist ein ehrendes Andenken zu wahren.

II. Der Landtag stellt fest:

  1. Die mutigen Menschen des Volksaufstands vom 17. Juni 1953 stehen in der Tradition der Bürgerinnen und Bürger, die sich in verschiedenen Epochen der deutschen Geschichte gegen die Unterdrückung der geistigen, materiellen, politischen und nationalen Selbstbe­stimmung aufgelehnt haben.
  2. Sie können damit für sich in Anspruch nehmen, in einem Atemzug mit den mutigen Kämp­fern der Befreiungskriege gegen die napoleonische Fremdherrschaft und für das Eintreten eines deutschen Verfassungsstaats, mit den Demokraten der Revolution von 1848 und des Paulskirchenparlaments, mit den Revolutionären des November 1918 und mit den Widerstandsgruppen gegen die nationalsozialistische Verbrecherherrschaft genannt zu werden.
  3. Sie haben durch ihren mutigen Aufstand gegen die Unterdrückung geistiger und politi­scher Freiheit den Freiheits- und den Nationalgedanken in Deutschland aufrechterhalten und somit dessen unterschwelliges Wirken bis 1989 hin ausgelöst und verfestigt.
  4. Sie haben damit auch einen erheblichen Anteil daran, dass sich mit dem wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und moralischen Zusammenbruch des SED-Regimes im Jahre 1989 der Gedanke der Wiedervereinigung beider deutschen Staaten gegen manche Wider­stände innerhalb und außerhalb Deutschlands als zentrales politisches Ziel durchsetzen konnte.
  5. Sie haben die Menschenfeindlichkeit sozialistischer Utopien entlarvt und das Gewaltpo­tential, das hinter dem Wahnbild einer sozialistischen Gleichheits- und Gerechtigkeitsge­sellschaft steht, offen sichtbar werden lassen.
  6. Sie haben die subtilen Verfahrensweisen utopischer Modelle aufgedeckt, die mit der Set­zung von Dogmen und ihren imperativen Gedanken die Freiheit des Denkens, der Wis­senschaft und des Diskurses unterbinden und so objektive Wirklichkeitserfassung, Prob­lemerfassung und Problembeseitigung verhindern.
  7. Sie mahnen uns auch heute noch sehr dringlich, aufmerksam, wachsam und widerständig zu sein, wenn politische Entscheidungsträger die Freiheit des Denkens und Handelns durch Dogmen unterdrücken und Grundrechtseinschränkungen mit moralisch aufgelade­nen Appellen erzwingen.

III. Der Landtag fordert die Landesregierung auf:

  1. die Leistungen der Widerstandskämpfer des 17. Juni 1953 in gebührender Weise in das Bewusstsein der Öffentlichkeit zu heben;
  2. dazu die Landeszentrale für politische Bildung zu beauftragen, ihre bereits vorhandenen Materialien zu vervollständigen und sie verstärkt in die Öffentlichkeit und in die Schulen zu tragen;
  3. im Jahre 2023 den 70. Jahrestag des Aufstands vom 17. Juni 1953 in angemessener Weise durch Ausstellungen und Würdigungen zu begehen und dabei der Opfer der sozi­alistischen Gewaltherrschaft zu gedenken und ihren Einsatz zu würdigen und
  4. im Jahre 2023 einen Plenartag auf den 17. Juni zu legen.

Helmut Seifen
Markus Wagner
Andreas Keith

und Fraktion

 

Antrag als PDF

 

1 https://www.bpb.de/geschichte/deutsche-geschichte/der-aufstand-des-17-juni-1953/154325/der-weg-in-die-krise

2 a.a.O.

3 a.a.O

4 https://www.bpb.de/geschichte/deutsche-geschichte/der-aufstand-des-17-juni-1953/154325/der-weg-in-die-krise

5 a.a.O

6 a.a.O

7 a.a.O

8 https://www.bpb.de/geschichte/deutsche-geschichte/der-aufstand-des-17-juni-1953/154325/der-weg-in-die-krise

9 a.a.O

10 a.a.O

11 a.a.O

12 https://www.bpb.de/geschichte/deutsche-geschichte/der-aufstand-des-17-juni-1953/154325/der-weg-in-die-krise

13 https://www.bpb.de/geschichte/deutsche-geschichte/der-aufstand-des-17-juni-1953/152600/der-17-juni-in-berlin

14 https://www.bpb.de/geschichte/deutsche-geschichte/der-aufstand-des-17-juni-1953/152602/der-17-juni-im-land

15 Bericht der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“, S. 51-51

16 https://www.bpb.de/geschichte/deutsche-geschichte/der-aufstand-des-17-juni-1953/152602/der-17-juni-im-land

17 https://www.bpb.de/geschichte/deutsche-geschichte/der-aufstand-des-17-juni-1953/152604/die-toten-des-volksaufstandes