Kindesentzug aufgrund politischer Ausrichtung

Kleine Anfrage

Kleine Anfrage 328
des Abgeordneten Zacharias Schalley vom 15.08.2022

 

Kindesentzug aufgrund politischer Ausrichtung

2020 machte der Name der kurdischen Aktivistin G. Schlagzeilen. Hintergrund war der versuchte Kindesentzug durch den Staatsschutz und der Oberhausener Justiz aufgrund einer angeblichen Kindeswohlgefährdung.

  1. aus Oberhausen ist alleinerziehende, berufstätige Mutter von fünf Kindern. Weil ihre damals 13-jährige Tochter während der Schulzeit an einem „Kurdenmarsch“ gegen die Isolationshaft von PKK-Gründer Abdullah Öcalan teilgenommen hatte, drohte der Mutter der Entzug des Sorgerechts für ihre fünf Kinder im Alter zwischen vier und 15 Jahren durch das Familien­gericht Oberhausen. Angeblicher Vorwurf: Sie indoktriniere ihre Kinder.1

Neben dem Staatschutz wurde auch das Oberhausener Jugendamt eingeschaltet, welches nach Begutachtung des Falls jedoch einräumen musste, dass die Tochter von G. eine „beliebte unauffällige Schülerin“ sei, die auch „leistungsmäßig sehr stark“ sei. Das Jugendamt bestätigte, dass „keine familiengerichtlichen Maßnahmen notwendig“ seien. Spätestens hier hätte das Verfahren enden müssen. 2

Doch trotz dieser Einschätzung des Jugendamts wurde ein Gerichtsverfahren angestoßen, bei dem sich G. für die Teilnahme ihrer Tochter an unterschiedlichen politischen Aktionen verantworten musste. Zudem geht aus der Verfahrensakte hervor, dass G. und ihre Tochter aufgrund ihrer politischen Ausrichtungen und Aktivitäten bereits seit mindestens 2018 beobachtet wurden. Ende Januar 2022 wurde das Verfahren vor dem Familiengericht gegen Auflagen eingestellt. So musste Frau G. zusichern, dass ihre „Kinder auch weiterhin regelmäßig die Schule besuchten und nicht zugunsten politischer Aktivitäten dem Unterricht fernblieben“.3

Ich frage daher die Landesregierung:

  1. Wie beurteilt die Landesregierung den Fall von G. und der angeblichen Kindes-wohlgefährdung aufgrund der politischen Aktivitäten ihrer Tochter?
  2. Auf welcher rechtlichen Grundlage wurde das Verfahren gegen G. wegen Kindeswohlgefährdung eröffnet, wenn der Staat eben nicht wegen „gesellschafts-politischen, religiösen oder weltanschaulichen Idealen“ in ihren „Erziehungsprimat“ 4 eingreifen darf?
  3. Welche weiteren Fällen sind der Landesregierung bekannt, in denen das Jugendamt aufgrund politischer Betätigungen der Eltern tätig wurde? (Bitte nach Grund und Art des Eingriffs aufschlüsseln)
  4. Wie beurteilt die Landesregierung die Möglichkeit, dass auch in Zukunft aufgrund politi­scher Ausrichtungen bzw. Aktivitäten in das Sorgerecht der Eltern eingegriffen wird?
  5. Wie beurteilt die Landesregierung in diesem Zusammenhang die „Fridays for Future“-Bewegung und die damit einhergehende Sorgfaltspflicht der Eltern, wenn Kinder und Jugendliche regelmäßig dem Unterricht aufgrund politischer Aktivitäten fernbleiben?

Zacharias Schalley

 

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1 https://www.spiegel.de/panorama/oberhausen-warum-eine-kurdische-aktivistin-vors-familiengericht-muss-a-0042a50b-ef01-4a14-8dfb-71a65c3210e8 (abgerufen am 8. August 2022)

2 https://taz.de/Kurdin-muss-zum-Familiengericht/!5655711/ (abgerufen am 8. August 2022)

3 https://www.spiegel.de/panorama/familiengericht-in-oberhausen-kurdische-aktivistin-behaelt-sorgerecht-a-ad15cfbc-bc12-45f0-b51e-14b45397675e (abgerufen am 8. August 2022)


Die Ministerin für Kinder, Jugend, Familie, Gleichstellung, Flucht und Integration hat die Kleine Anfrage 328 mit Schreiben vom 22. September 2022 namens der Landesregierung im Einvernehmen mit der Ministerin für Schule und Bildung sowie dem Minister der Justiz beant­wortet.

  1. Wie beurteilt die Landesregierung den Fall von G. und der angeblichen Kindeswohlgefährdung aufgrund der politischen Aktivitäten ihrer Tochter?

Die Prüfung von gewichtigen Anhaltspunkten für die Gefährdung des Wohls eines Kindes oder Jugendlichen im Rahmen des Schutzauftrags bei Kindeswohlgefährdung gem. § 8a SGB VIII wird von den Jugendämtern als Aufgabe der kommunalen Selbstverwaltung in ausschließlich eigener Verantwortung wahrgenommen. Die Landesregierung bewertet diese kommunalen Entscheidungen nicht.

Darüber hinaus ist die Landesregierung (Ministerium der Justiz) aufgrund der verfassungs­rechtlichen Vorgaben nicht dazu berufen, den Inhalt noch laufender oder bereits abgeschlos­sener familiengerichtlicher Verfahren zu kommentieren.

  1. Auf welcher rechtlichen Grundlage wurde das Verfahren gegen G. wegen Kindeswohlgefährdung eröffnet, wenn der Staat eben nicht wegen „gesellschaftspoliti­schen, religiösen oder weltanschaulichen Idealen“ in ihren „Erziehungsprimat“ eingreifen darf?

Verfahren, die die elterliche Sorge betreffen, sind gemäß §§ 151 Nr. 1, 26 FamFG i.V.m. § 1666 BGB sogenannte Amtsermittlungsverfahren. In diesen Fällen muss das Familiengericht nach Kenntniserlangung das Verfahren aufnehmen, wenn der Verdacht besteht, dass eine Kindeswohlgefährdung vorliegt.

Eine solche Kenntnis kann das Familiengericht beispielsweise durch eine entsprechende Mit­teilung des Jugendamts erhalten. Es bedarf aber keines förmlichen Antrags, um das Verfahren aufzunehmen. Ebenso wenig obliegt die Frage, ob ein Verfahren zu beenden ist, der Disposi­tion der Beteiligten, sondern vielmehr allein der Entscheidung des Gerichts.

Die Frage, wann eine Kindeswohlgefährdung vorliegt und wann und ggf. in welchem Umfang sorgerechtliche Maßnahmen ergriffen werden können, richtet sich nach dem Gesetz, hier ins­besondere nach § 1666 BGB. Wird demnach das körperliche, geistige oder seelische Wohl des Kindes oder sein Vermögen gefährdet und sind die Eltern nicht gewillt oder nicht in der Lage, die Gefahr abzuwenden, so hat das Familiengericht die Maßnahmen zu treffen, die zur Abwendung der Gefahr erforderlich sind. Bei der Frage, ob demnach eine Gefährdung des Kindeswohls vorliegt, handelt es sich stets um eine Frage des Einzelfalls.

Da es nicht ausgeschlossen erscheint, dass auch durch politische Ausrichtungen bzw. Aktivi­täten eine solche Kindeswohlgefährdung im Einzelfall eintreten kann, kann das Familiengericht auch in solchen Fällen tätig werden. Maßstab ist hier allein die Frage der konkreten Kindeswohlgefährdung und nicht die politische Ausrichtung.

  1. Welche weiteren Fälle sind der Landesregierung bekannt, in denen das Jugendamt aufgrund politischer Betätigungen der Eltern tätig wurde? (Bitte nach Grund und Art des Eingriffs aufschlüsseln)

Es wird auf die Ausführungen zu Frage 1 verwiesen, wonach die Jugendämter den Schutzauf­trag bei Kindeswohlgefährdung (§ 8a SGB VIII) als kommunale Selbstverwaltungsaufgabe wahrnehmen. Der Landesregierung sind keine Fälle bekannt.

  1. Wie beurteilt die Landesregierung die Möglichkeit, dass auch in Zukunft aufgrund politischer Ausrichtungen bzw. Aktivitäten in das Sorgerecht der Eltern eingegrif­fen wird?
  2. Wie beurteilt die Landesregierung in diesem Zusammenhang die „Fridays for Fu­ture“-Bewegung und die damit einhergehende Sorgfaltspflicht der Eltern, wenn Kinder und Jugendliche regelmäßig dem Unterricht aufgrund politischer Aktivitä­ten fernbleiben?

Die Fragen 4 und 5 werden aufgrund ihres Sachzusammenhangs gemeinsam beantwortet:

Es wird auf die obigen Ausführungen zu Frage 2 verwiesen. Wie dargelegt, entscheiden die jeweiligen Umstände des Einzelfalls darüber, ob eine konkrete Kindeswohlgefährdung vorliegt oder nicht.

Hinweise zum Umgang mit Schülerstreiks und Demonstrationen hält das Ministerium für Schule und Bildung im Bildungsportal vor: https://www.schulministerium.nrw/teilnahme-schuelerstreiks-und-demonstrationen

 

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