Kleine Anfrage 971
des Abgeordneten Markus Wagner vom 05.01.2022
Knickt unsere Justiz vor Clan-Kriminalität ein?
Es heißt, dass die Unabhängigkeit der Justiz nicht nur die demokratische Rechtsstaatlichkeit, sondern auch die Staatlichkeit an sich garantiere. Die Justiz ziele auf das Fundament des demokratischen Rechtsstaats, auf die zivilisatorische Errungenschaft der Gewaltenteilung sowie auf die Kontrolle parlamentarischen Handelns ab.1 Und noch viel wichtiger: Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.2 So steht es zumindest in Artikel 3 Absatz 1 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland. Scheinbar sind aber einige Menschen gleicher – so zum Beispiel Mitglieder des A.-Clans.
Vor dem Landgericht Düsseldorf mussten sich fünf Männer und zwei Frauen verantworten. Unter ihnen befand sich auch das kurdisch-libanesische Oberhaupt des Leverkusener A.-Clans. Obwohl es ursprünglich um banden- und gewerbsmäßigen Betrug, Geldwäsche, Geiselnahme, erpresserischen Menschenraub, schweren Raub, gefährliche Körperverletzung, räuberische Erpressung, Zwangsarbeit, Vorenthalten und Veruntreuen von Arbeitsentgelt bis hin zur Steuerhinterziehung ging, waren die meisten dieser Anklagepunkte nicht mehr Gegenstand der Gerichtsverhandlungen. Der Grund: Der Clan bedroht immer wieder Zeugen.3
Dementsprechend saßen die Angeklagten auch lachend, feixend und winkend auf der Anklagebank des Gerichts. Ein Prozessbeobachter beschreibt die Szenerie innerhalb des Gerichtssaals wie folgt:
„Diese Vergnügtheit der Angeklagten fühlt sich an, als ob die dem Rechtsstaat hier auch noch frech ins Gesicht lachen.“4
Fast alle der dort angeklagten Clanmitglieder waren bereits mehrfach vorbestraft und konnten dennoch ein mildes Urteil erwarten. Das Gericht sowie die Staatsanwaltschaft hatten sich mit den Angeklagten nämlich auf einen Deal verständigt, der mildere Strafen gegen Teilgeständnisse vorsieht. Dieser Deal kam nur zustande, weil etliche Belastungszeugen weggebrochen seien, die noch während der Ermittlungen ausgesagt haben.5
Eine junge Frau, die als Zeugin bei Gericht geladen und aussagen sollte, wird mit den Worten zitiert:
„Sie müssen mich verstehen, ich habe drei Kinder, die sind meine Welt. Ich habe Angst vor denen, die hier im Gerichtssaal sind, man hört Katastrophen und schlimme Sachen. Klar habe ich Angst, dass sie mir was antun, wenn sie mich als Gegner wahrnehmen.“6
Diese Frau hatte zuvor bei der Polizei über die sich im September 2018 zugetragene Prügelszene berichtet, an der mindestens ein Mitglied der A.-Familie beteiligt gewesen sein soll. Damals hatten drei Männer auf einen hilflosen Mann eingeschlagen. Aber sogar jenes Opfer kann sich im Zeugenstand an nichts mehr erinnern, nur noch an die Tatsache, immer nur jede Menge Spaß mit den A. gehabt zu haben.7
Somit wird offenkundig, welchen großen Einfluss und welche Macht dieser kurdisch-libanesische Clan ausübt, dem unsere Justiz zum Teil hilflos gegenübersteht. Um potenzielle Zeugen wirksam und nachhaltig einzuschüchtern, greift der Clan dabei auf Gewaltandrohung oder finanzielle Anreize zurück. Nach Angaben von Medien bemerkte das Oberhaupt des A.-Z.-Clans sogar im Hinblick auf einen Zeugen, der eine Gastronomie betreibt:
„Wenn der Café-Besitzer vor dem Richter bekunde, dass er nicht wisse, wer ihn geschlagen habe, sei das Thema erledigt.“8
Und so erklärte der Zeuge vor Gericht, die A. seien die beste Familie überhaupt, was zu einem Gelächter der Angeklagten im gesamten Gerichtssaal führte.9
Am 22. Dezember 2022 kam es im Prozess gegen Angehörige des A.-Clans zum Urteil:
„Clanchef [Vorname] A. muss sechs Jahre ins Gefängnis. Neben dem Clanoberhaupt erhielten zwei der Angeklagten Söhne jeweils drei Jahre Haft, ein dritter Sohn ist wegen Geldwäsche angeklagt und erhielt ein Jahr und neun Monate auf Bewährung. Zu zwei Jahren Haft auf Bewährung wurde auch die Frau des Clanchefs verurteilt. Damit folgte das Gericht den Forderungen der Staatsanwaltschaft. Im Vorfeld des Urteils hatte es eine Absprache gegeben: Nicht mehr als sechs Jahre Haft gegen Geständnisse und Hintergrund-Informationen. Daraufhin hatten die Angeklagten die Vorwürfe Mitte November eingeräumt. Nun vergab das Gericht gemäß des Deals die Höchststrafen.“10
Ich frage daher die Landesregierung:
- Inwieweit hatten die oben genannten Einschüchterungen von Zeugen aus Sicht der Landesregierung Auswirkungen auf das Urteil respektive den Strafrahmen?
- Inwieweit plant die Landesregierung den Schutz von Zeugen bzw. Zeugenschutzprogramme anzupassen und zu verbessern?
- War der Minister der Justiz, der gegenüber der Staatsanwaltschaft weisungsbefugt ist, über den „Deal“ der Staatsanwaltschaft mit den Beschuldigten informiert?
- Hält die Landesregierung „Deals“ mit (Clan-)Kriminellen für ein geeignetes Mittel zur Durchsetzung unseres freiheitlichen Rechtsstaates?
- Warum sind bereits vorbestrafte Täter, sofern sie über keinen deutschen Pass verfügen, noch immer im Land?
Markus Wagner
1 Vgl. h t t ps : / / w w w . fa z. n e t / a k t uell/politik/wieso-die-unabhaengigkeit-der-justiz-so-wichtig-ist-17768185.html?premium.
2 Vgl. h t t p s : / / w w w . ge s et ze-im-internet.de/gg/art_3.html.
3 Vgl. h t t p s : / / w w w . f ocus.de/panorama/wie-der-al-zein-clan-belastungszeugen-bedroht_id_180461542 . html.
4 Ebd.
5 Ebd.
6 Ebd.
7 Ebd.
8 Ebd.
9 Ebd.
10 H t t p s : / / w w w .k s ta . d e/ r e g io n /leverkusen/stadt-leverkusen/al-zein-clanchef-muss-sechs-jahre-in-haft-382248.
Der Minister der Justiz hat die Kleine Anfrage 971 mit Schreiben vom 2. Februar 2023 namens der Landesregierung im Einvernehmen mit dem Minister des Innern und der Ministerin für Kinder, Jugend, Familie, Gleichstellung, Flucht und Integration beantwortet.
- Inwieweit hatten die oben genannten Einschüchterungen von Zeugen aus Sicht der Landesregierung Auswirkungen auf das Urteil respektive den Strafrahmen?
Anhaltspunkte für derartige Auswirkungen liegen der Landesregierung nicht vor. Auch hat der Leitende Oberstaatsanwalt in Düsseldorf dem Ministerium der Justiz aus Anlass der Kleinen Anfrage u. a. berichtet, dass seiner Behörde im Sinne der Frage 1 einschlägige Einschüchterungen nicht bekannt geworden seien und insbesondere keiner der von dem Landgericht Düsseldorf vernommenen Beweispersonen Angaben dazu gemacht habe, durch einen der Angeklagten bedroht oder sonst kontaktiert worden zu sein.
- Inwieweit plant die Landesregierung den Schutz von Zeugen bzw. Zeugenschutz-programme anzupassen und zu verbessern?
Das Ministerium des Innern hat mir zur Beantwortung der Frage 2 den folgenden Beitrag übermittelt:
„Auf akute Gefährdungssituationen reagiert die Polizei Nordrhein-Westfalen sofort und trifft alle erforderlichen Maßnahmen zum Schutz der gefährdeten Personen. Bei Bekanntwerden einer möglichen Gefährdung einer Person erstellt die zuständige Kreispolizeibehörde eine sogenannte Beurteilung der Gefährdungslage. Die Beurteilung der Gefährdungslage umfasst die anlassbezogene oder wiederkehrende Analyse und Bewertung von Informationen sowie die schlüssige Feststellung des Grades der Gefährdung. Anschließend wird geprüft, welche Maßnahmen zum Schutz der gefährdeten Person geeignet und erforderlich sind. Die Maßnahmen werden hinsichtlich der Erforderlichkeit, Dauer, Wirksamkeit und des Umfangs regelmäßig oder auch anlassbezogen überprüft. Die entsprechenden Regelungen ergeben sich aus der bundesweit geltenden Polizeidienstvorschrift 129 „Personen- und Objektschutz“, welche als „Verschlusssache – nur für den Dienstgebrauch“ eingestuft ist.
Weiterhin können besonders gefährdete Zeuginnen und Zeugen mit den Maßnahmen des Gesetzes zur Harmonisierung des Schutzes gefährdeter Zeugen (ZSHG) geschützt werden, wenn die Voraussetzungen zur Aufnahme in den Zeugenschutz vorliegen. Die Aufgabe des Schutzes gefährdeter Zeugen auf Grundlage des ZSHG obliegt in Nordrhein-Westfalen auf Grund des hohen Stellenwertes und der Komplexität der im Einzelfall erforderlichen Maßnahmen sowie damit einhergehender Koordinierungserfordernisse speziell fortgebildeten Beamtinnen und Beamten. Die Aufgabenwahrnehmung erfolgt dabei zentralisiert in den Polizeipräsidien Bielefeld, Münster, Dortmund, Essen, Düsseldorf und Köln sowie im Landeskriminalamt Nordrhein-Westfalen (LKA NRW). Art und Umfang des Zeugenschutzes richten sich dabei immer an der Gefährdungslage im konkreten Einzelfall aus. Die effektive Aufgabenwahrnehmung im Zusammenhang mit dem Zeugenschutz setzt eine reibungslose und vertrauensvolle länderübergreifende Zusammenarbeit auf Grundlage von bundeseinheitlichen Standards und Grundsätzen voraus. Um diese zu gewährleisten, betreibt das LKA NRW eine Landeskoordinierungsstelle „Zeugenschutz“.
Vergleichbare Maßstäbe und Bearbeitungsstandards gelten für Maßnahmen des sogenannten Operativen Opferschutzes. Sie ermöglichen es, gefährdete Personen in herausragenden Gefährdungssachverhalten umfassend und nachhaltig zu schützen. Insbesondere nicht aufzulösende Konflikt- und Gefährdungslagen innerhalb des sozialen Nahraumes, denen massive Einwirkungen auf die Opfer vorausgegangen sind oder diese als sehr wahrscheinlich erscheinen lassen, können oft nicht mit den herkömmlichen Maßnahmen des polizeilichen Personen- und Objektschutzes oder Opferschutzes begegnet werden. Wenn zudem die Voraussetzungen des ZSHG nicht vorliegen und täterbezogene Maßnahmen nicht geeignet sind oder ausreichend erscheinen, die herausragend individuelle Gefährdung der Betroffenen zu minimieren, entstehen weitergehende Schutzbedarfe, die den Einsatz zeugenschutzähnlicher Maßnahmen im Rahmen des Operativen Opferschutzes erfordern.
Die Umsetzung der gesetzlichen Vorgaben des ZSHG sowie der weiteren bundeseinheitlichen Richtlinien zum Zeugenschutz und dem Operativen Opferschutz unterliegt einer ständigen Evaluierung durch die zuständigen Behörden des Bundes und der Länder und wird unter anderem im Rahmen bundesweiter polizeilicher Gremienarbeit, regelmäßiger länderübergreifender Dienstbesprechungen und Fallkonferenzen fortlaufend auf Anpassungsbedarfe überprüft.“
- War der Minister der Justiz, der gegenüber der Staatsanwaltschaft weisungsbefugt ist, über den „Deal“ der Staatsanwaltschaft mit den Beschuldigten informiert?
Nein.
- Hält die Landesregierung „Deals“ mit (Clan-)Kriminellen für ein geeignetes Mittel zur Durchsetzung unseres freiheitlichen Rechtsstaates?
Gemäß § 257c Strafprozessordnung (StPO) ist in geeigneten Fällen eine Verständigung im Strafverfahren in der Form möglich, dass einer angeklagten Person bei einem Geständnis eine bestimmte Ober- und Untergrenze der Strafe in Aussicht gestellt wird. Ob sich ein Verfahren für eine Verständigung eignet, hängt stets von den konkreten Umständen des jeweiligen Einzelfalls ab und kann daher nicht in der erfragten Allgemeinheit festgestellt werden. Die entsprechende Prüfung und Bewertung erfolgt im Geschäftsbereich des Ministeriums der Justiz durch die Gerichte und Staatsanwaltschaften.
Nach der verfassungsrechtlichen Ordnung für die Bundesrepublik Deutschland sind Richterinnen und Richter in ihren Entscheidungen unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen (Artikel 97 des Grundgesetzes). Dem Ministerium der Justiz ist es deshalb – wie jeder anderen Stelle außerhalb des gerichtlichen Instanzenzugs auch – versagt, gerichtliche Entscheidungen zu ändern, aufzuheben oder solche Entscheidungen auch nur im Wege der Dienstaufsicht auf ihre sachliche Richtigkeit zu überprüfen oder dazu sachlich-inhaltlich Stellung zu nehmen. Gerichtliche Entscheidungen können nur mit den in der entsprechenden Verfahrensordnung vorgesehenen Rechtsbehelfen angefochten werden. Hierüber befinden dann wiederum unabhängige Gerichte.
Staatsanwältinnen und Staatsanwälte sind dem Legalitätsprinzip verpflichtet, ermitteln diesem gesetzlichen Auftrag folgend bei Vorliegen eines sogenannten Anfangsverdachts ohne Ansehen der Person und sind dabei inhaltlich unabhängig. Ihnen und nicht dem Ministerium der Justiz obliegt die Entscheidungshoheit über Maßnahmen im Ermittlungs- und Strafverfahren.
- Warum sind bereits vorbestrafte Täter, sofern sie über keinen deutschen Pass verfügen, noch immer im Land?
Das Ministerium für Kinder, Jugend, Familie, Gleichstellung, Flucht und Integration hat mir zur Beantwortung der Frage 5 den folgenden Beitrag übermittelt:
„Die rechtlichen Voraussetzungen für eine Aufenthaltsbeendigung bei ausländischen Personen richten sich nach dem Aufenthaltsrecht. Die Prüfzuständigkeit im Einzelfall liegt bei den örtlichen Ausländerbehörden.“