Kleine Anfrage 4772des Abgeordneten Markus Wagner vom 16.12.2020
Legt der Verfassungsschutz den § 5 Absatz 7 des VSG NRW willkürlich aus?
In der Antwort der Landesregierung auf die Kleine Anfrage 4417 vom 21. September 2020 der Abgeordneten Sven W. Tritschler und Markus Wagner, 17/11591, heißt es auf die Fragen der AfD-Abgeordneten etwa nach der Einstufung VVN-BdA respektive des VVN e.V. in NRW nach den gängigen Kriterien durch den Verfassungsschutz lediglich:
„Der nordrhein-westfälische Verfassungsschutz hat letztmalig im Verfassungsschutz-bericht über das Jahr 2007 zur „Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten“ (VVN-BdA) berichtet. In den Verfassungsschutzberichten anderer Verfassungsschutzbehörden, so etwa Bayern, findet die VVN-BdA auch für den Berichtszeitraum 2019 noch Erwähnung. Dies ist Ausdruck davon, dass eine Organisation in den einzelnen Bundesländern unterschiedliche Relevanz haben kann und infolgedessen unterschiedlich zu bewerten ist, insbesondere mit Blick auf ihre vor Ort entfalteten Aktivitäten.
Der Verfassungsschutz Nordrhein-Westfalen beobachtet eine Organisation, wenn tatsächliche Anhaltspunkte für verfassungsfeindliche Bestrebungen vorliegen. Um über beobachtete Organisationen öffentlich berichten zu dürfen, müssen darüber hinaus die Voraussetzungen des § 5 Abs. 7 des Verfassungsschutzgesetzes Nordrhein-Westfalen erfüllt sein. Eine rechtmäßige Berichterstattung setzt insofern voraus, dass Art und Ausmaß der Bestrebungen eine Unterrichtung der Öffentlichkeit erfordern und keine schutzwürdigen Belange der Betroffenen entgegenstehen. Danach kann hier eine Aufschlüsselung nicht erfolgen“ (S. 3 der o. g. Drs.).
Auch über weitere Unterstützer des linksdemokratischen bis linksextremen Bündnisses „Kein Veedel für Rassismus“ will der Verfassungsschutz über die Berichterstattung der Jahresberichte hinaus keine weiteren Auskünfte geben und verweist erneut auf die oben zitierte Antwort (vgl. ebd.).
Jener § 5 Absatz 7 lautet im Original wie folgt:
„(7) Die Verfassungsschutzbehörde darf Informationen, insbesondere Verfassungsschutzberichte, veröffentlichen. Dabei dürfen personenbezogene Daten nur veröffentlicht werden, wenn die Bekanntgabe für das Verständnis des Zusammenhangs oder die Darstellung von Organisationen erforderlich ist und die Interessen der Allgemeinheit das schutzwürdige Interesse der betroffenen Person überwiegen.“
In der Antwort der Landesregierung auf die Große Anfrage 22 der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Drucksache 17/11081, zum Thema „Rechtsextremismus in Nord-rhein-Westfalen“ sieht sich die Landesregierung hingegen durchaus in der Lage, öffentlich und zum Teil unter Angabe personenbezogener Daten
- über kleinste Bestrebungen mit teils einstelliger Mitgliederzahl, die ihrerseits teilweise nicht in den Jahresberichten auftauchen,
- denen zuweilen explizit eine geringe Relevanz bzw. ein Bedeutungsverlust zugeschrieben wird,
- oder die ihre Aktivitäten vor vielen Jahren eingestellt haben (vgl. exemplarisch S. 42, 45ff., 54f., 63,),
- und auch über ein junges Medienprojekt (vgl. S. 118), über das es in der Antwort selbst noch heißt, die Breitenwirkung sei mit etwas mehr als 100 „Followern“ auf Twitter und Video-Aufrufen bei YouTube in einer mittleren dreistelligen Zahl nicht besonders groß (vgl. S. 118)
zu informieren.
Vor dem Hintergrund dieser offenkundigen Doppelstandards fordere ich die Landes-regierung auf, die nachstehenden Fragen in einem angemessenen Umfang und jeweils einzeln zu beantworten!
Ich frage die Landesregierung:
- Wieso vertritt die Landesregierung in der Antwort auf die Kleine Anfrage 4417, Drs. 17/11591, die Rechtsauffassung, dass überhaupt schutzwürdige Interessen betroffener Personen bezüglich ihrer personenbezogenen Daten mit den Interessen der Allgemeinheit und der Relevanz einer Bestrebung abgewogen werden müssen, wenn sich die fragestellenden Abgeordneten in diesem konkreten Fall ausschließlich nach der aktuellen Einstufung einer Organisation, die in der Vergangenheit als extremistisch beobachtet worden ist, und überhaupt nicht nach konkreten Personen erkundigt haben?
- Für den Fall, dass die Landesregierung in ihrem Argumentationsgebilde zu verharren gedenkt: Warum wertet die Landesregierung die Interessen der Allgemeinheit und der die Regierung in einer demokratisch verfassten Ordnung kontrollierenden Opposition an einer Berichterstattung über die Versuche zahlreicher (potenziell) linksextremer Bestrebungen, auf ein „zivildemokratisches“ Bündnis einzuwirken, als geringfügiger als die vermeintlichen schutzwürdigen Interessen betroffener Personen bezüglich ihrer personenbezogenen Daten, nach denen sich überhaupt nicht erkundigt worden ist?
- Gibt es behördeninterne Leitfäden respektive objektive Maßstäbe, nach denen jeweils im Einzelfall zu urteilen ist, wie § 5 Absatz 7 VSG NRW auszulegen ist?
- Weshalb ist es der Landesregierung in ihrer Antwort auf die Große Anfrage 22 der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auf der anderen Seite möglich, öffentlich und zum Teil unter Angabe personenbezogener Daten über kleinste Bestrebungen mit teils einstelliger Mitgliederzahl, die ihrerseits teilweise nicht in den Jahresberichten auftauchen, denen zuweilen explizit eine geringe Relevanz bzw. ein Bedeutungsverlust zugeschrieben wird, oder die ihre Aktivitäten vor vielen Jahren eingestellt haben, und auch über ein junges Medienprojekt, über das es in der Antwort selbst noch heißt, die Breitenwirkung sei mit etwas mehr als 100 „Followern“ auf Twitter und Video-Aufrufen bei YouTube in einer mittleren dreistelligen Zahl nicht besonders groß, zu informieren, wohingegen die Voraussetzungen des § 5 Abs. 7 VSG NRW angeblich eine Berichterstattung über (vermutete) Linksextremisten, die offenkundig in „zivildemokratische“ Bündnisse hineinzuwirken bestrebt sind, auf Nachfrage von Abgeordneten der die Exekutive kontrollierenden Legislative verbieten?
- Sind die schutzwürdigen Interessen der, von einer zu erwägenden öffentlichen Berichterstattung betroffenen, Personen, die in linksextremen Bestrebungen wirken, schutzwürdiger als die schutzwürdigen Interessen der, von einer zu erwägenden öffentlichen Berichterstattung betroffenen, Personen, die in rechtsextremen oder vermeintlich rechtsextremen Bestrebungen wirken?
Markus Wagner
Der Minister des Innern hat die Kleine Anfrage 4772 mit Schreiben vom 18. Januar 2021 namens der Landesregierung beantwortet.
- Wieso vertritt die Landesregierung in der Antwort auf die Kleine Anfrage 4417, Drs. 17/11591, die Rechtsauffassung, dass überhaupt schutzwürdige Interessen betroffener Personen bezüglich ihrer personenbezogenen Daten mit den Interessen der Allgemeinheit und der Relevanz einer Bestrebung abgewogen werden müssen, wenn sich die fragestellenden Abgeordneten in diesem konkreten Fall ausschließlich nach der aktuellen Einstufung einer Organisation, die in der Vergangenheit als extremistisch beobachtet worden ist, und überhaupt nicht nach konkreten Personen erkundigt haben?
Eine öffentliche Mitteilung über die Einstufung einer Organisation durch den Verfassungsschutz stellt einen Eingriff in deren allgemeines Persönlichkeitsrecht dar, welches auch einer Personenvereinigung als solcher zusteht. § 5 Abs. 7 Satz 1 i. V. m. § 3 Abs. 3, Abs. 1 Verfassungsschutzgesetz Nordrhein-Westfalen (VSG NRW) gestattet einen derartigen Grundrechtseingriff, soweit im Hinblick auf die betreffende Organisation tatsächliche Anhaltspunkte für verfassungsfeindliche Bestrebungen vorliegen und die Information der Öffentlichkeit darüber verhältnismäßig ist. Letzteres ist nur der Fall, wenn eine Unterrichtung der Öffentlichkeit zum Schutz vor verfassungsfeindlichen Bestrebungen erforderlich und angemessen ist. Dazu sind jeweils im Einzelfall Art, Ausmaß und Wirkungsweise der von einer Organisation entfalteten Bestrebungen zu gewichten und das – sich u. a. danach bemessende – Interesse der Allgemeinheit an einer Aufklärung gegen schutzwürdige Interessen der betroffenen Organisation abzuwägen.
- Für den Fall, dass die Landesregierung in ihrem Argumentationsgebilde zu verharren gedenkt: Warum wertet die Landesregierung die Interessen der Allgemeinheit und der die Regierung in einer demokratisch verfassten Ordnung kontrollierenden Opposition an einer Berichterstattung über die Versuche zahlreicher (potenziell) linksextremer Bestrebungen, auf ein „zivildemokratisches“ Bündnis einzuwirken, als geringfügiger als die vermeintlichen schutzwürdigen Interessen betroffener Personen bezüglich ihrer personenbezogenen Daten, nach denen sich überhaupt nicht erkundigt worden ist?
Soweit zu bestimmten Fragen nicht in der gewünschten Detailtiefe geantwortet werden kann, ist das ein Ergebnis der Abwägung von Interessen einzelner Personen oder Personenvereinigungen mit Interessen der Allgemeinheit. Dies ist Ausdruck des rechtsstaatlichen Handelns der Landesregierung, das auch die Beachtung der Grundrechte Dritter umfasst. Im Übrigen wird auf die Antwort zu Frage 1 verwiesen.
- Gibt es behördeninterne Leitfäden respektive objektive Maßstäbe, nach denen jeweils im Einzelfall zu urteilen ist, wie § 5 Absatz 7 VSG NRW auszulegen ist?
- Weshalb ist es der Landesregierung in ihrer Antwort auf die Große Anfrage 22 der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auf der anderen Seite möglich, öffentlich und zum Teil unter Angabe personenbezogener Daten über kleinste Bestrebungen mit teils einstelliger Mitgliederzahl, die ihrerseits teilweise nicht in den Jahresberichten auftauchen, denen zuweilen explizit eine geringe Relevanz bzw. ein Bedeutungsverlust zugeschrieben wird, oder die ihre Aktivitäten vor vielen Jahren eingestellt haben, und auch über ein junges Medienprojekt, über das es in der Antwort selbst noch heißt, die Breitenwirkung sei mit etwas mehr als 100 „Followern“ auf Twitter und Video-Aufrufen bei YouTube in einer mittleren dreistelligen Zahl nicht besonders groß, zu informieren, wohingegen die Voraussetzungen des § 5 Abs. 7 VSG NRW angeblich eine Berichterstattung über (vermutete) Linksextremisten, die offenkundig in „zivildemokratische“ Bündnisse hineinzuwirken bestrebt sind, auf Nachfrage von Abgeordneten der die Exekutive kontrollierenden Legislative verbieten?
Die Fragen 3 und 4 werden aufgrund des Sachzusammenhangs gemeinsam beantwortet:
Unterschiede in der Berichterstattung haben ihren Grund in der unter-schiedlichen Ausprägung von Art, Ausmaß und Wirkungsweise der jeweils entfalteten Bestrebungen, die wiederum mit der generellen Verschiedenheit der Phänomenbereiche korreliert. So basiert z. B. der Rechtsextremismus auf der Vorstellung einer ethnisch bedingten fundamentalen Ungleichheit der Menschen. Die damit verbundene Ausgrenzung und Entwertung von Persönlichkeiten, die sich auch in der Anwendung von Gewalt manifestiert, richtet sich unmittelbar gegen die Menschenwürde bestimmter Individuen und weist damit von vornherein eine besondere Verfassungsschutzrelevanz auf. Hingegen werden im Linksextremismus aus dem Postulat einer fundamentalen Gleichheit aller Menschen Forderungen hergeleitet, die sich vornehmlich gegen strukturelle Merkmale des demokratischen Verfassungsstaates richten. Themenfelder rechtsextremistischer Organisationen, etwa Antisemitismus oder Rassismus, sind überwiegend unmittelbar extremistisch. Demgegenüber engagieren sich linksextremistische Akteure vornehmlich in Themenfeldern wie Antifaschismus oder Antikapitalismus. Diese sind nicht per se unmittelbar extremistisch, sondern weisen erst unter Berücksichtigung ihrer hintergründigen Ziele, die z. T. ebenfalls gewaltsam verfolgt werden, Extremismusbezüge auf.
Im Rechtsextremismus finden sich Akteure mit überwiegend festgefügten und damit beobachtbaren Organisationsstrukturen. Im Linksextremismus – insbesondere im Bereich des autonomen Spektrums – besteht eine ausgeprägte Ablehnung organisierter Strukturen, so dass diese nicht in vergleichbarem Maße vorhanden sind. Deshalb steht dort nicht die Beobachtung von Personenzusammenschlüssen, sondern der linksextremistischen Szene insgesamt im Vordergrund.
- Sind die schutzwürdigen Interessen der, von einer zu erwägenden öffentlichen Berichterstattung betroffenen, Personen, die in linksextremen Bestrebungen wirken, schutzwürdiger als die schutzwürdigen Interessen der, von einer zu erwägenden öffentlichen Berichterstattung betroffenen, Personen, die in rechtsextremen oder vermeintlich rechtsextremen Bestrebungen wirken?
Die Schutzwürdigkeit von Interessen betroffener Personen ist jeweils im Einzelfall zu bewerten. Eine abstrakte Differenzierung nach unterschiedlichen Extremismusbereichen ist hierfür nicht maßgeblich.