Losverfahren bei Schulanmeldungen – findet eine ausreichende Berücksichtigung von Härtefällen statt?

Kleine Anfrage

Kleine Anfrage 1604

des Abgeordneten Carlo Clemens vom 29.03.2023

Losverfahren bei Schulanmeldungen findet eine ausreichende Berücksichtigung von Härtefällen statt?

Viele Eltern leiden unter langen und beschwerlichen Schulwegen ihrer schulpflichtigen Kinder. Die Ablehnung durch eine entfernungstechnisch vorteilhafte weiterführende Schule kann Eltern in der Organisation ihres Schulalltags maßgeblich beeinträchtigen. Lange Fahrt- und Wartezeiten mit dem ÖPNV, Berufsverkehr und ggf. schwierige Witterungsverhältnisse in der kalten Jahreszeit machen Strecken von beispielsweise ca. 15 Kilometern, wie Radio Essen kürzlich berichtete,1 zu einer alltäglichen Zumutung für Eltern und Schüler.

Auf den zu erwartenden Andrang von ca. 5.000 Grundschülern, die auf eine weiterführende Schule wechseln, möchte die Stadt Essen u. a. mit Containerbauten antworten. Bis ausreichender Platz geschaffen wurde, kommt vermehrt das Losverfahren bei der Schulanmeldung zum Einsatz. Auch wenn die Begründung der Kommune nachvollziehbar ist, sind Eltern dennoch mit Planungsunsicherheit, Frustration und Sorge konfrontiert. An der Essener Gustav-Heinemann-Gesamtschule kam es z.B. zu dem Fall, dass die Tochter einer alleinerziehenden Mutter, die überwiegend im Nachtdienst tätig ist, nach Losverfahren abgelehnt wurde, obwohl bereits die älteren Geschwister diese Schule besuchen. Die nun auffangende Schule liegt deutlich weiter entfernt und ist nur durch mehrmaliges Umsteigen mit den ÖPNV erreichbar. Die Mutter wandte sich mit einem Schreiben an den Schulleiter, dieser verwies lediglich an die Bezirksregierung.

Vor diesem Hintergrund frage ich die Landesregierung:

  1. Wie viele Beschwerden liegen der Landesregierung bzw. den Bezirksregierungen in Zusammenhang mit Anmeldungen an weiterführende Schulen in Nordrhein-Westfalen vor (bitte nach Beschwerdegründen, Schulen und Schulform aufschlüsseln)?
  2. Wie viele zivilrechtliche Verfahren in Zusammenhang mit Anmeldungen an weiterführende Schulen sind zurzeit in Gerichten in Nordrhein-Westfalen anhängig (bitte nach Beschwerdegründen, Schulen und Schulform aufschlüsseln)?
  3. Wie viele Anmeldungen an weiterführenden Schulen mit Anmeldeüberhang wurden nach Losverfahren abgelehnt, obwohl bereits Geschwister an derselben Schule unterrichtet werden oder ein anderer Härtefallgrund nach § 1 Abs. 2 der Ausbildungs-und Prüfungsordnung Sekundarstufe I vorliegt?
  4. Wie bewertet die Landesregierung, dass in manchen Schulen ausschließlich das Losverfahren über die Aufnahme von Schülern an eine weiterführende Schule mit Anmeldeüberhang entscheidet?
  5. Wie bewertet die Landesregierung vermehrte Ablehnungen von Schulanmeldungen mit der Begründung des Lehrermangels?

Carlo Clemens

 

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1 Vgl. https:// www .radioessen.de/artikel/lange-schulwege-in-essen-1591960.html. Datum des Originals: 27.03.2023/Ausgegeben: 29.03.2023


Die Ministerin für Schule und Bildung hat die Kleine Anfrage 1604 mit Schreiben vom 24. April 2023 namens der Landesregierung im Einvernehmen mit dem Minister der Justiz beantwortet.

  1. Wie viele Beschwerden liegen der Landesregierung bzw. den Bezirksregierungen in Zusammenhang mit Anmeldungen an weiterführende Schulen in Nordrhein-Westfalen vor (bitte nach Beschwerdegründen, Schulen und Schulform aufschlüs­seln)?

Die Bezirksregierungen führen keine allgemeine Statistik zu den näheren Details der Aufnah­meverfahren. Daher können sie im Wesentlichen nur Angaben zur Anzahl der eingegangenen Widersprüche betreffend das Anmeldeverfahren zum Schuljahr 2023/2024 (Stand März 2023) machen. Eine weitere Aufschlüsselung der Widersprüche nach „Beschwerdegründen“ ist nicht möglich, da es sich jeweils um Einzelfallbegründungen handelt, in denen unterschiedliche As­pekte des jeweiligen Aufnahmeverfahrens thematisiert werden. Dies vorausgeschickt, haben die Rückmeldungen aus den Bezirksregierungen folgendes ergeben:

Der Bezirksregierung Arnsberg liegen bisher 101 Widersprüche und Beschwerden vor.

Im Regierungsbezirk Detmold sind durch die Schulleitungen bislang 13 Widersprüche aus vor­gezogenen Anmeldeverfahren vorgelegt worden, die nach erfolgter Prüfung zurückgewiesen wurden. Für das übrige Anmeldeverfahren laufen die Widerspruchsfristen noch, so dass hierzu keine Zahlen vorliegen.

Die Zahl der bei der Bezirksregierung Düsseldorf eingegangenen Beschwerden (Widersprü­che, Beschwerden, anwaltliche Anfragen) beträgt insgesamt 264.

Auch im Regierungsbezirk Münster ist das Anmeldeverfahren noch nicht vollständig abge­schlossen, so dass kein abschließender Verfahrensstand mitgeteilt werden kann. Derzeit lie­gen insgesamt 57 Widersprüche vor.

Im Regierungsbezirk Köln sind zum jetzigen Zeitpunkt an den weiterführenden Schulen 343 Widersprüche gegen ablehnende Schulaufnahmeentscheidungen eingegangen.

  1. Wie viele zivilrechtliche Verfahren in Zusammenhang mit Anmeldungen an weiter­führende Schulen sind zurzeit in Gerichten in Nordrhein-Westfalen anhängig (bitte nach Beschwerdegründen, Schulen und Schulform aufschlüsseln)?

Für Rechtsstreitigkeiten im Zusammenhang mit dem Anmeldeverfahren an weiterführenden Schulen sind nicht die Zivilgerichte, sondern die Verwaltungsgerichte zuständig. Im Rahmen der bundesweit abgestimmten Anordnung über die Erhebung von statistischen Daten in der Verwaltungsgerichtsbarkeit (VwGO-Statistik) werden unter dem Sachgebiet 0210 Verfahren mit dem Schwerpunkt „Schulrecht“ erfasst. Eine weitergehende Differenzierung nach dem Ge­genstand des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens findet in der vorgenannten Statistik nicht statt, so dass eine Beantwortung der Frage 2 der Kleinen Anfrage anhand der im Ministerium der Justiz vorliegenden statistischen Daten nicht möglich ist.

Auch dem Ministerium für Schule und Bildung liegen hierzu keine Erkenntnisse vor.

  1. Wie viele Anmeldungen an weiterführenden Schulen mit Anmeldeüberhang wur­den nach Losverfahren abgelehnt, obwohl bereits Geschwister an derselben Schule unterrichtet werden oder ein anderer Härtefallgrund nach § 1 Abs. 2 der Ausbildungs- und Prüfungsordnung Sekundarstufe I vorliegt?

Dem Ministerium für Schule und Bildung liegen hierzu keine Daten vor. Im Falle eines Anmel­deüberhangs gelten die besonderen Aufnahmevoraussetzungen des § 1 Ausbildungs- und Prüfungsordnung Sekundarstufe I. Die Schulleiterin oder der Schulleiter ist bei einem Anmel­deüberhang im Rahmen des Aufnahmeverfahrens dazu verpflichtet, bei der Auswahlentschei­dung zunächst Härtefälle zu berücksichtigen. Sodann wendet sie oder er für die Auswahl eines oder mehrere der in § 1 Absatz 2 Nummern 1 bis 6 Ausbildungs- und Prüfungsordnung Se­kundarstufe I genannten Kriterien an. Dabei steht der Schulleiterin oder dem Schulleiter hin­sichtlich der Auswahl, welche Kriterien heranzuziehen sind, ein Ermessen zu.

Die Schulleiterin oder der Schulleiter ist nicht verpflichtet, hierzu eine Statistik zu führen, ins­besondere nicht gesondert nach den Gründen der Ablehnung.

  1. Wie bewertet die Landesregierung, dass in manchen Schulen ausschließlich das Losverfahren über die Aufnahme von Schülern an eine weiterführende Schule mit Anmeldeüberhang entscheidet?

Die in § 1 Absatz 2 Ausbildungs- und Prüfungsordnung Sekundarstufe I aufgeführten und von der Verwaltungsrechtsprechung anerkannten Kriterien bei einem Anmeldeüberhang gewähr­leisten ein nach objektiven Maßstäben zu beurteilendes Auswahlverfahren.

Daran ändern auch Einzelfälle nichts, in denen individuellen Wünschen und nachvollziehbaren Interessen nicht entsprochen werden kann. Das Kriterium des Losverfahrens ist ein zulässiges Auswahlkriterium des § 1 Absatz 2 Ausbildungs- und Prüfungsordnung Sekundarstufe I. Somit ist die Anwendung des Kriteriums „Losverfahren“ aus rechtlicher Sicht nicht zu beanstanden.

Dies wird von der (ober)gerichtlichen Rechtsprechung auch durchgehend bestätigt, wie etwa vom Verwaltungsgericht Münster (Urteil vom 30. Mai 2011, 1 L 220/11). Danach verstößt „das für das Auswahlverfahren herangezogene Kriterium der Berücksichtigung von Geschwister­kindern […] ebenso wenig gegen höherrangiges Recht wie das Kriterium des Losverfahrens.“ (Vgl. Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 11. Januar 2010 – 19 A 3316/08).

Gerade weil bei dem Losverfahren alle Schülerinnen und Schüler die gleiche Chance haben, einen Schulplatz zu erhalten, gilt dieses Kriterium vielfach als das chancengerechteste sowie fairste und wird von den Schulleitungen – zumindest als eines von möglichen mehreren Aus­wahlkriterien – herangezogen.

Gleichwohl kann es von Betroffenen als ungerecht empfunden werden, insbesondere dann, wenn es das einzige zu berücksichtigende Auswahlkriterium darstellt. Das Ministerium für Schule und Bildung hat daher in einem Erlass vom 16. Dezember 2020 die Bezirksregierungen dahingehend sensibilisiert, dass die Schulen zur Berücksichtigung weiterer Kriterien zusätzlich zum Losverfahren beraten werden sollten.

  1. Wie bewertet die Landesregierung vermehrte Ablehnungen von Schulanmeldun­gen mit der Begründung des Lehrermangels?

Gemäß § 46 Absatz 1 Satz 1 Schulgesetz entscheidet über die Aufnahme der Schülerin oder des Schülers in die Schule die Schulleiterin oder der Schulleiter innerhalb des vom Schulträger hierfür festgelegten Rahmens, insbesondere der Zahl der Parallelklassen pro Jahrgang.

Die Aufnahme einer Schülerin oder eines Schülers in eine Schule kann abgelehnt werden, wenn die Aufnahmekapazität der Schule erschöpft ist (§ 46 Absatz 2 Schulgesetz). Die Auf­nahmekapazität ergibt sich aus den Vorgaben der §§ 6 und 6a VO zu § 93 Absatz 2 Schulge­setz.

Die Klassen werden auf der Grundlage von Klassenfrequenzrichtwerten, Klassenfrequenzhöchstwerten und Klassenfrequenzmindestwerten sowie Bandbreiten in der Regel als Jahr-gangsklassen gebildet. Können an Schulen der Sekundarstufe I aufgrund der Anmeldungen Klassen nicht innerhalb der Bandbreiten gebildet werden, so koordiniert die Schulaufsichtsbe­hörde die Entscheidung der Schulleitungen über die Aufnahme unter Beteiligung des Schul­trägers. Der Schulträger entscheidet im Rahmen seiner Verantwortung für die Organisation des örtlichen Schulwesens, an welchen Schulen die erforderlichen Eingangsklassen gebildet werden (§ 6 Absatz 1 und 7 Verordnung zu § 93 Absatz 2 Schulgesetz).

Die Zahl der zu bildenden Eingangsklassen an einer Grundschule richtet sich nach der Anzahl der Schülerinnen und Schüler (§ 6a Absatz 1 Verordnung zu § 93 Absatz 2 Schulgesetz).

Die Lehrerversorgung muss für jede neue Eingangsklasse gesichert sein, andernfalls kann eine solche nicht eröffnet werden.

 

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Beteiligte:
Carlo Clemens