Nach der verfassungswidrigen Regelung der Gefangenenvergütung in Nordrhein-Westfalen – Wie steht es um die Wirksamkeit von Resozialisierungsmaßnahmen im Allgemeinen und was weiß die Landesregierung?

Kleine Anfrage
vom 29.06.2023

Kleine Anfrage 2068

des Abgeordneten Dr. Hartmut Beucker AfD

Nach der verfassungswidrigen Regelung der Gefangenenvergütung in Nordrhein-Westfalen Wie steht es um die Wirksamkeit von Resozialisierungsmaßnahmen im Allgemeinen und was weiß die Landesregierung?

Gefangene sollen im Strafvollzug befähigt werden, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen. Das Bundesverfassungsgericht betonte im „Lebach-Urteil“ von 1973, dass die Resozialisierung zentrales Ziel des Freiheitsentzugs ist. Es wurde von der Menschenwürde, dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht und dem Sozialstaatsprinzip abgeleitet.1 Der Vollzug der Freiheitsstrafe hat darüber hinaus die Aufgabe, die Allgemeinheit vor weiteren Straftaten zu schützen (§ 1 Satz 2 StVollzG NRW).

Als Ziel eines modernen Strafvollzuges gilt neben der gesellschaftlichen Wiedereingliederung eines möglichst hohen Anteils der Gefängnisinsassen nach Beendigung der Haftzeit also auch der Schutz der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten.

Die Aufgabe der Justizvollzugsanstalten ist folgerichtig vom ersten Tag der Inhaftierung an die Gefangenen auf den Tag der Entlassung vorzubereiten, damit diese ein Leben ohne Straftaten führen können. Der in § 3 StVollzG NRW geregelte Behandlungsvollzug sieht daher als Grundlage der Erreichung des Vollzugsziels die Behandlung der Gefangenen vor. Die Behandlung und die ihr zugrunde liegende Diagnostik haben wissenschaftlichen Erkenntnissen zu genügen (§ 3 Absatz 1 Satz 3 StVollzG NRW).

Fast jeder vierte Strafgefangene und Sicherungsverwahrte in deutschen Justizvollzugsanstalten ist bereits fünf bis zehn Mal vorbestraft (Stand März 2022). Insgesamt waren über 68 Prozent der in JVAs Strafgefangenen und Sicherungsverwahrten vor ihrem Gefängnisaufenthalt bereits vorbestraft.2

Es drängt sich daher die Frage auf, ob die aktuellen Behandlungsangebote in Nordrhein-Westfalen konzeptionell geeignet und effektiv genug sind, das verfassungsrechtliche Resozialisierungsgebot zu fördern und umzusetzen.

Das Bundesverfassungsgericht betonte in seinem Urteil vom 20.06.2023 zur Verfassungswidrigkeit der gesetzlichen Regelung zur Vergütung von Gefangenenarbeit in Bayern und Nordrhein-Westfalen immerhin, dass in beiden Bundesländern keine kontinuierliche, wissenschaftlich begleitete Evaluation der Resozialisierungswirkung von Arbeit und deren Vergütung stattfindet.3

Dabei hatte der damalige Justizminister Biesenbach am 08.01.2020 ein Projekt zur Erhebung und Auswertung landesweiter Daten zu Erfolg und Misserfolg der verschiedenen Resozialisierungsangebote vorgestellt. Dazu sollten mehr als 600 Angebote in den Justizvollzugsanstalten des Landes auf den Prüfstand gestellt werden.

Die auf mehrere Jahre angelegte „Evaluation im Strafvollzug” (EVALiS) sei nicht nur für Nordrhein-Westfalen neu, sondern werde auch bundesweite Maßstäbe setzen, sagte Justizminister Biesenbach.4

Die vorgestellte Wirksamkeitsanalyse der Behandlungsmaßnahmen erfordere einen Prozess der Datenerhebung, der auf Jahre angelegt sei, so dass mit der Vorlage der wissenschaftlich fundierten und praktisch aussagekräftigen Studie zur Rückfallanalyse erst in drei bis fünf Jahren gerechnet werden könne.5

Ich frage daher die Landesregierung:

  1. Bei dem Projekt zur Messung der Effektivität von Behandlungsmaßnahmen meldeten die Justizvollzugsanstalten bei der Bestandsaufnahme mehr als 600 Einzelmaßnahmen, die in eine zentrale Datenbank eingestellt wurden und anschließend analysiert wurden. Wie viele Behandlungs- und Eingliederungsmaßnahmen sind derzeit in der Datenbank registriert? (Bitte die Einzelmaßnahmen bzw. Angebote für die Justizvollzugsanstalten getrennt auflisten und die Träger benennen)
  2. Welche Strategie verfolgt die Landesregierung zur Senkung des Rückfallrisikos im Allgemeinen und im Besonderen bei Gefangenen mit Rückfalltendenzen bzw. Intensivtätern? (Bitte bei der Beantwortung die deliktsorientierten Behandlungsansätze und Aspekte des Übergangsmanagements einbeziehen)
  3. Wie hoch liegt die allgemeine Rückfälligkeit bei entlassenen Straftätern in Nordrhein-Westfalen nach drei Jahren? (Bitte aufschlüsseln nach Jugendstrafvollzug, Erwachsenenstrafvollzug und Arten der wiederholten Verurteilung)
  4. Wie hat sich die Anzahl von Bewährungshelfern im Zeitraum von 2017 bis heute in Nordrhein-Westfalen entwickelt? (Bitte aufschlüsseln nach Jahren, Altersstruktur, Geschlecht und Gerichten)
  5. Wie viele Straftäter wurden jeweils in den Jahren 2017 bis 2022 zu einer Freiheitsstrafe verurteilt, die zur Bewährung ausgesetzt wurde? (Bitte aufschlüsseln nach Jahren, Erwachsenen- und Jugendbereich sowie für die einzelnen Gerichte)

Dr. Hartmut Beucker

 

Anfrage als PDF

 

1 BVerfGE 35, 202 (1973); „Lebach-Urteil“ zum verfassungsrechtlichen Resozialisierungsanspruch.

2 https:// de .statista.com/statistik/daten/studie/1351414/umfrage/strafgefangene-in-deutschland-nach-anzahl-der-vorstrafen/ (abgerufen am 27.06.2023).

3 https:// www .bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2023/bvg23-056.html (abgerufen am 27.06.2023).

4 https:// www .ksta.de/region/studie-was-hilft-im-knast-fuer-ein-straffreies-leben-danach-263965 (abgerufen am 27.06.2023).

5 https:// www .lto.de/recht/justiz/j/nrw-projekt-rueckfall-strafgefangene-ursachen-resozialisierung-angebote-massnamen/ (abgerufen am 27.06.2023).


Der Minister der Justiz hat die Kleine Anfrage 2068 mit Schreiben vom 1. August 2023 na­mens der Landesregierung beantwortet.

  1. Bei dem Projekt zur Messung der Effektivität von Behandlungsmaßnahmen mel­deten die Justizvollzugsanstalten bei der Bestandsaufnahme mehr als 600 Einzel­maßnahmen, die in eine zentrale Datenbank eingestellt wurden und anschließend analysiert wurden. Wie viele Behandlungs- und Eingliederungsmaßnahmen sind derzeit in der Datenbank registriert? (Bitte die Einzelmaßnahmen bzw. Angebote für die Justizvollzugsanstalten getrennt auflisten und die Träger benennen)

In dem letzten Berichtsmonat (September 2022) sind insgesamt 1.013 Behandlungsmaßnah­men registriert. Der vollständige Behandlungskatalog inklusive einer Differenzierung nach Jus­tizvollzugsanstalten sowie der Kategorisierung der Maßnahmen ist im Detail der beigefügten Anlage 1 zu entnehmen.

Hinsichtlich der Mitwirkung von externen Kräften lässt sich im Ergebnis festhalten, dass die Behandlungsmaßnahmen

  • zu 78 % ausschließlich, teilweise oder mitwirkend von vollzuglichen Fachdiensten,
  • zu 44 % ausschließlich, federführend oder mitwirkend von externen Fachkräften und
  • zu 4 % ausschließlich, federführend oder mitwirkend von ehrenamtlichen Fachkräften

durchgeführt wurden. Die Differenzierung nach dem Mitwirkungsgrad von externen Kräften lässt auf Grund von Überschneidungen einen prozentualen Wert von in Summe über 100% zu.

Angaben zu einem konkreten Träger sind in der zur Beantwortung der Kleinen Anfrage zur Verfügung stehenden Zeit nicht möglich.

  1. Welche Strategie verfolgt die Landesregierung zur Senkung des Rückfallrisikos im Allgemeinen und im Besonderen bei Gefangenen mit Rückfalltendenzen bzw. Intensivtätern? (Bitte bei der Beantwortung die deliktsorientierten Behandlungs­ansätze und Aspekte des Übergangsmanagements einbeziehen)

Erklärtes Ziel des Strafvollzugs in Nordrhein-Westfalen ist es, Straftäterinnen bzw. Straftäter zu befähigen, nach der Entlassung straffrei leben zu können; das wesentliche Mittel zur Errei­chung dieses Zieles ist die Behandlung. Erfolgreiche Behandlung ist allerdings nur möglich, wenn die / der Gefangene hieran mitwirkt. Die Bereitschaft und Einsicht, dass die Mitwirkung an der Behandlungsmaßnahme lohnt, ist zu fördern und – falls notwendig – zu wecken. Straf­vollzug in diesem Sinne stellt Anforderungen und verlangt den Gefangenen Anstrengungen ab. Ein so verstandener „aktivierender Strafvollzug“ dient unmittelbar den berechtigten Schutz­interessen der Gesellschaft.

Zu Beginn des Vollzuges werden die individuellen Ursachen der Kriminalität diagnostiziert, um eine wirkungsvolle Behandlung einzuleiten. Die aus der individuellen Diagnose folgenden Be­handlungsempfehlungen bilden die Grundlage für die weitere Vollzugsplanung, die kontinuier­lich bedarfsorientiert fortentwickelt wird. Dabei ermöglicht die landesweite Einteilung der Ge­fangenen in Gruppen nach gleichem oder ähnlichem Behandlungsbedarf und die vorhandene Differenzierung der Anstalten nach Behandlungsangeboten und Sicherheitsorientierung eine Unterbringung der Gefangenen nach Gründen der Behandlung und Eingliederung.

Zur Senkung des Rückfallrisikos bietet der Strafvollzug des Landes Nordrhein-Westfalen eine breite Palette unterschiedlicher Behandlungsmaßnahmen an, z.B. Anti-Gewalt-Training (AGT), deliktorientierte Rückfallprophylaxe-Gruppen, Behandlungsprogramm für inhaftierte Gewaltstraftäter (BIG) oder das Behandlungsprogramm für Sexualstraftäter (BPS). Der Be­handlungsvollzug findet darüber hinaus in der Sozialtherapie als Intensivbehandlungsmaßnahme seinen stärksten und klarsten Ausdruck.

Die Maßnahmen des Übergangsmanagements orientieren sich am individuellen Bedarf der Gefangenen. Bereits zu Beginn der Haft werden entlassungsrelevante Erfordernisse in den Blick genommen und gegebenenfalls konkrete Schritte eingeleitet. Weitere individuelle Maß­nahmen des Übergangsmanagements werden in dem bei Strafgefangenen gemäß § 10 StVollzG NRW normierten Vollzugsplänen festgelegt und im Laufe des Vollzuges umgesetzt.

Um das Übergangsmanagement als gesamtgesellschaftliche Aufgabe über die Einzelfallbe­treuung hinaus auch auf Systemebene zu implementieren, wurde im Jahr 2021 eine Richtlinie für das Übergangsmanagement im Justizvollzug erlassen und in nahezu allen Justizvollzugs­anstalten des Landes Fachleitungen für das Übergangsmanagement eingerichtet. Aufgabe dieser Fachleitungen ist insbesondere die Schaffung und Pflege von lokalen, regionalen und landesweiten Netzwerken zur Kommunikation und Kooperation mit für den Resozialisierungsprozess elementaren Akteuren.

Die berufliche Wiedereingliederung Strafgefangener und Haftentlassener erfolgt auf Grund­lage der zwischen dem nordrhein-westfälischen Justizvollzug und der Regionaldirektion NRW der Bundesagentur für Arbeit geschlossenen Kooperationsvereinbarung zur Entwicklung und Durchführung einer Gemeinschaftsinitiative zur beruflichen Wiedereingliederung von (jungen) Gefangenen und Haftentlassenen.

  1. Wie hoch liegt die allgemeine Rückfälligkeit bei entlassenen Straftätern in Nord­rhein-Westfalen nach drei Jahren? (Bitte aufschlüsseln nach Jugendstrafvollzug, Erwachsenenvollzug und Arten der wiederholten Verurteilung)

Es liegt keine aktuelle Statistik zur allgemeinen Rückfälligkeit bei entlassenen Straftätern für Nordrhein-Westfalen vor.

Aus der bundesweiten Längsschnittstudie zur Legalbewährung („Jehle-Studie“) liegen Ergeb­nisse aus vier Erhebungswellen von Personen vor, die 2004, 2007, 2010 oder 2013 verurteilt bzw. aus Haft entlassen wurden. Die Ergebnisse dieser Studie zeigen, dass die allgemeine Rückfallquote für erwachsene Personen nach einer Freiheitsstrafe ohne Bewährung im Zeit­raum 2004 – 2007 bei 48,1 %, im Zeitraum 2007 – 2010 bei 46,2 %, im Zeitraum 2010 – 2013 bei 44,9 % und im Zeitraum 2013 – 2016 bei 45,9 % liegt. Für Entlassene aus dem Jugend­strafvollzug ergeben sich allgemeine Rückfallquoten zwischen 68,6 % im Bezugsjahr 2004 und 64,5 % im Bezugsjahr 2013. Damit zeigt sich in den bundesweiten Rückfallquoten für Haftent­lassene eine leicht sinkende Tendenz.

Diese Daten lassen sich allerdings bislang nicht mit der Behandlung im Strafvollzug in Bezie­hung setzen. Um dies zukünftig untersuchen zu können, ist der Kriminologische Dienst des Landes Nordrhein-Westfalens sowohl mit der Evaluation des Jugendstrafvollzugs als auch mit der Evaluation des (Erwachsenen-)Strafvollzugs (EVALiS) beauftragt worden. Für die Evalua­tion des Jugendstrafvollzugs wird aktuell erstmals eine Rückfalluntersuchung des Entlas­sungsjahrgangs 2017 durchgeführt. Eine erste Berichtlegung mit deskriptiven Befunden zur Legalbewährung wird Ende 2023 an den Strafvollzugsausschuss erfolgen, bei der auch erst­mals Rückfallquoten nach Entlassung aus dem Jugendstrafvollzug für NRW berichtet werden. Im Jahr 2024 erfolgt dann aus diesem Projekt eine Berichtlegung, die die Teilnahme an Be­handlungsmaßnahmen im Jugendstrafvollzug (der Entlassungsjahrgänge 2017 und 2018) mit der Legalbewährung in Beziehung setzt. Auch im Rahmen von EVALiS werden aktuell die Voraussetzungen geschaffen, Legalbewährungsuntersuchungen für Entlassene aus dem Strafvollzug des Landes Nordrhein-Westfalen im Kontext der im Strafvollzug durchgeführten Behandlung durchführen zu können. Aufgrund der umfangreichen Datenerhebung während der Haft und des sich an die Entlassung anschließenden Beobachtungszeitraums von drei Jahren, können erste Rückfallanalysen für eine erste Stichprobe frühestens im Jahr 2025 (mit einer entsprechend verzögerten Berichtlegung) erwartet werden.

  1. Wie hat sich die Anzahl von Bewährungshelfern im Zeitraum von 2017 bis heute in Nordrhein-Westfalen entwickelt? (Bitte aufschlüsseln nach Jahren, Altersstruk­tur, Geschlecht und Gerichten)

Im Rahmen der Personalübersichten (PÜ) wird der Personalbestand des gehobenen Sozial­dienstes nach Kopfzahlen, Geschlecht und Arbeitskraftanteilen für jedes Landgericht erfasst. Unter den gehobenen Sozialdienst fallen neben den Bewährungshelfern allerdings auch die in der Führungsaufsicht sowie der Gerichtshilfe eingesetzten Kräfte. Eine weitergehende Diffe­renzierung wird nicht vorgenommen. Ebenso wenig wird eine Differenzierung nach dem Alter vorgenommen.

Der Personalbestand des gehobenen Sozialdienstes ergibt sich aus der Anlage 2. 4

  1. Wie viele Straftäter wurden jeweils in den Jahren 2017 bis 2022 zu einer Freiheits­strafe verurteilt, die zur Bewährung ausgesetzt wurde? (Bitte aufschlüsseln nach Jahren, Erwachsenen- und Jugendbereich sowie für die einzelnen Gerichte)

Die Anzahl der Straftäter, deren Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt wurde, ist der nach­stehenden Tabelle zu entnehmen:

  Anzahl der Personen, deren Freiheits- bzw.
Jugendstrafe zur Bewährung ausgesetzt wurde
Allgemeines Straftrecht Jugendstraftrecht
2017 16.441 1.189
2018 16.405 1.112
2019 16.103 1.095
2020 14.820 991
2021 13.923 863

 

Die Daten für 2022 liegen noch nicht vor. Eine Differenzierung nach einzelnen Gerichten ist anhand der vorliegenden Daten nicht möglich.

 

Antwort samt Anlage als PDF