Nachfrage zur konsequenten Umsetzung des § 58a Absatz 1 Satz 3 StPO

Kleine Anfrage
vom 17.07.2024

Kleine Anfrage 4173

des Abgeordneten Zacharias Schalley AfD

Nachfrage zur konsequenten Umsetzung des § 58a Absatz 1 Satz 3 StPO

Durch das am 13. Dezember 2019 in Kraft getretene „Gesetz zur Modernisierung des Strafverfahrens“ wurde § 58a StPO geändert.

Bisher war in § 58a Abs. 1 S. 2 StPO nur eine Sollregelung für eine richterliche Vernehmung enthalten für den Fall, dass durch eine richterliche Vernehmung die schutzwürdigen Interessen der in Nr. 1 genannten Personen besser gewahrt werden können. Nach der Gesetzes­änderung muss nach § 58a Abs. 1 S. 3 StPO nun die Vernehmung aufgezeichnet und als richterliche Vernehmung durchgeführt werden, wenn dadurch die schutzwürdigen Interessen der Zeugen besser gewahrt werden können.

Gemäß Ziffer 3.5.2 des „Praxisleitfadens zur Anwendung kindgerechter Kriterien für das Strafverfahren“ besteht für den Strafrichter die Obliegenheit, sich mit dem zuständigen Familiengericht zu verständigen, gemeinsame Anhörungen durchzuführen, um Mehrfach­befragungen zu vermeiden.1

Durch Fortbildungen, z. B. mit Polizisten, Staatsanwälten, Familienrichtern oder Jugendamts-mitarbeitern, zu den Themen kindgerechte Verfahrensgestaltung, Auswirkungen von Straftaten auf Verletzte und ihr Verhalten im Verfahren und zum Umgang mit Betroffenen und zur Videovernehmung für Strafrichterinnen und Strafrichter soll die Qualifikation der Richter gesteigert werden (vgl. Ziffer 3.10.1 des „Praxisleitfadens zur Anwendung kindgerechter Kriterien für das Strafverfahren“).

Während des gesamten Verfahrens ist auf das Beschleunigungsgebot gemäß § 48a Abs. 2 StPO zu beachten. Die entsprechenden Verhandlungen, Vernehmungen und sonstigen Untersuchungshandlungen sind besonders beschleunigt durchzuführen.2

In der Antwort auf die Kleine Anfrage 18/2279 schreibt die Landesregierung, dass „[d]ie Präsidentin und Präsidenten der Oberlandesgerichte […] dem Ministerium der Justiz am 09. und 10.01.2023 übereinstimmend berichtet [haben], [dass] eine statistische Erfassung der audiovisuellen Vernehmungen von Opferzeuginnen und Opferzeugen in Nordrhein-Westfalen nicht [erfolge].“3

Durch die Änderung des § 58a StPO soll das Vollzugsdefizit der bisher als Sollvorschrift ausgestalteten Regelung in diesen Fällen behoben werden und es sollte sichergestellt werden, dass von der Bild-Ton-Aufzeichnung bei der Ermittlung von Sexualstraftaten umfassend Gebrauch gemacht wird. 4 Mit der Ausgestaltung der Norm als Mussvorschrift soll dieses Ziel erreicht werden. Eine Zielerreichung kann jedoch nur gewährleistet werden, wenn die entsprechenden Fakten erfasst und bewertet werden.

Ich frage daher die Landesregierung:

  1. In wie vielen Fällen wurden seit Januar 2023 richterliche Vernehmungen mit Bild-Ton-Aufzeichnungen mit ersetzender Wirkung in die Hauptverhandlung eingebracht? (Bitte nach Jahr, zuständigem Gericht, Delikt, Anzahl der Fälle sowie minderjährigen Betroffenen mit Altersangabe aufschlüsseln)
  2. In wie vielen Fällen und warum wurde tatsächlich entgegen der Vorschrift des § 58a StPO Absatz 1 Satz 3 Halbsatz 1 von einer richterlichen Vernehmung mit Bild-Ton-Aufzeichnung abgesehen? (Bitte nach Jahr, zuständigem Gericht, Delikt, Grund des Verzichts auf die richterliche Vernehmung sowie minderjährigen Betroffenen mit Altersangabe aufschlüsseln)
  3. Über welche Qualifikationen und Erfahrungen müssen Strafrichter in Nordrhein-Westfalen zwingend verfügen, um befähigt zu sein, sexuell missbrauchte Kinder zu vernehmen?
  4. Wie oft ist es zu Mehrfachanhörungen der kindlichen Opfer, z. B. durch Familienrichter, Polizei und Staatsanwaltschaft, gekommen? (Bitte nach Jahr, Institution, Delikt, Anzahl der Fälle sowie minderjährigen Betroffenen mit Altersangabe aufschlüsseln)
  5. Inwieweit hat sich die Bearbeitungszeit der entsprechenden Strafverfahren auf Grund des Beschleunigungsgebotes seit 2019 verkürzt?

Zacharias Schalley

 

MMD18-10034

 

1 https://www.bmfsfj.de/resource/blob/193088/2bef1f3aa789e3965a3df53e61291bfa/praxisleitfaden-zur-anwendung-kindgerechter-kriterien-fuer-das-strafverfahren-data.pdf

2 https://www.bmfsfj.de/resource/blob/193088/2bef1f3aa789e3965a3df53e61291bfa/praxisleitfaden-zur-anwendung-kindgerechter-kriterien-fuer-das-strafverfahren-data.pdf

3 Lt.-Drs. 18/2619

4 BT-Drucks 19/14747, S. 25


Der Minister der Justiz hat die Kleine Anfrage 4173 mit Schreiben vom 14. August 2024 namens der Landesregierung im Einvernehmen mit dem Minister des Innern beantwortet.

Vorbemerkung der Landesregierung

§58a Absatz 1 Satz 3 der Strafprozessordnung (StPO) sieht die audiovisuelle Aufzeichnung einer Vernehmung vor, wenn eine „Würdigung der dafür jeweils maßgeblichen Umstände“ ergibt, dass mit der Aufzeichnung die schutzwürdigen Interessen des Opferzeugen besser ge­wahrt werden können. Danach ist die Entscheidung, ob eine Aufzeichnung geboten ist, stets am konkreten Einzelfall auszurichten. Von Bedeutung können dabei neben der Erwartung, Mehrfachvernehmungen zu vermeiden, unter anderem auch Intensität, Gewicht und Folgen der Tat, die körperliche und psychische Verfassung der Zeugin oder des Zeugen oder eine zu vermeidende Verfahrensverzögerung sein. Mit ersetzender Wirkung kann die Aufzeichnung in die Hauptverhandlung nach § 255a Absatz 2 StPO nur eingebracht werden, wenn sowohl der Angeklagte als auch die Verteidigung Gelegenheit hatten, an ihr mitzuwirken. Dabei hat das Gericht den Zeugenschutz, das Aufklärungsgebot und die Verteidigungsinteressen gebührend zu gewichten und gegeneinander abzuwägen.

Richterinnen und Richter entscheiden dies unter verantwortlicher Abwägung aller Umstände in richterlicher Unabhängigkeit (Art. 97 GG). Der „Praxisleitfaden zur Anwendung kindgerech-ter Kriterien für das Strafverfahren“ ist eine unverbindliche Empfehlung und lässt die richterli­che Unabhängigkeit unberührt.

  1. In wie vielen Fällen wurden seit Januar 2023 richterliche Vernehmungen mit Bild-Ton-Aufzeichnungen mit ersetzender Wirkung in die Hauptverhandlung einge­bracht? (Bitte nach Jahr, zuständigem Gericht, Delikt, Anzahl der Fälle sowie min­derjährigen Betroffenen mit Altersangabe aufschlüsseln)

Die Präsidentin und Präsidenten der Oberlandesgerichte haben dem Ministerium der Justiz am 26.07.2024 übereinstimmend berichtet, eine statistische Erfassung des Einsatzes von Bild-Ton-Aufzeichnungen in der Hauptverhandlung erfolge in Nordrhein-Westfalen nicht. Eine voll­ständige Erhebung könne nur durch Auswertung sämtlicher Verfahrensakten von Hand erfol­gen. Dies sowie die Aufschlüsselung der Fälle nach Jahr, Gericht, Delikt, Anzahl der Fälle und Altersangabe der Betroffenen seien mit vertretbarem Verwaltungsaufwand in der für die Be­antwortung einer Kleinen Anfrage zur Verfügung stehenden Zeit nicht zu leisten.

  1. In wie vielen Fällen und warum wurde tatsächlich entgegen der Vorschrift des§ 58a StPO Absatz 1 Satz 3 Halbsatz 1 von einer richterlichen Vernehmung mit Bild-Ton-Aufzeichnung abgesehen? (Bitte nach Jahr, zuständigem Gericht, De­likt, Grund des Verzichts auf die richterliche Vernehmung sowie minderjährigen Betroffenen mit Altersangabe aufschlüsseln)

Die Präsidentin und Präsidenten der Oberlandesgerichte haben dem Ministerium der Justiz über keinen Fall berichtet, in dem entgegen der Vorschrift des § 58a Absatz 1 Satz 3, 1. Halb­satz StPO von einer richterlichen Vernehmung mit Bild-Ton-Aufzeichnung abgesehen worden ist. Auf die Vorbemerkung der Landesregierung wird verwiesen.

  1. Über welche Qualifikationen und Erfahrungen müssen Strafrichter in Nordrhein-Westfalen zwingend verfügen, um befähigt zu sein, sexuell missbrauchte Kinder zu vernehmen?

Für Straftaten Erwachsener, durch die ein Kind oder ein Jugendlicher verletzt oder unmittelbar gefährdet wird, sowie für Verstöße Erwachsener gegen Vorschriften, die dem Jugendschutz dienen, sind neben den für allgemeine Strafsachen zuständigen Gerichten nach § 26 des Ge-richtsverfassungsgesetzes (GVG) auch die Jugendgerichte zuständig. Dies gilt entsprechend für die Beantragung gerichtlicher Untersuchungshandlungen im Ermittlungsverfahren. Ein Richter auf Probe darf im ersten Jahr nach seiner Ernennung Geschäfte des Jugendrichters nicht wahrnehmen. Jugendrichterinnern und Jugendrichter sollen über Kenntnisse auf den Ge­bieten der Kriminologie, Pädagogik und Sozialpädagogik sowie der Jugendpsychologie verfü­gen (§ 37 des Jugendgerichtsgesetzes). Im Übrigen entscheiden über die Geschäftsverteilung die Präsidien in richterlicher Unabhängigkeit (§ 21e GVG).

  1. Wie oft ist es zu Mehrfachanhörungen der kindlichen Opfer, z. B. durch Familien­richter, Polizei und Staatsanwaltschaft, gekommen? (Bitte nach Jahr, Institution, Delikt, Anzahl der Fälle sowie minderjährigen Betroffenen mit Altersangabe auf­schlüsseln)

Die Präsidentin und Präsidenten der Oberlandesgerichte haben dem Ministerium der Justiz am 26.07.2024 übereinstimmend berichtet, eine statistische Erfassung von Mehrfachanhörun­gen erfolge in Nordrhein-Westfalen nicht. Eine vollständige Erhebung könne nur durch Aus­wertung sämtlicher Verfahrensakten von Hand erfolgen. Dies sowie die Aufschlüsselung der Fälle nach Jahr, Institution, Delikt, Anzahl der Fälle und Altersangabe der Betroffenen seien mit vertretbarem Verwaltungsaufwand in der für die Beantwortung einer Kleinen Anfrage zur Verfügung stehenden Zeit nicht zu leisten.

Eine statistische Erfassung von Mehrfachanhörungen kindlicher Opfer erfolgt auch durch die nordrhein-westfälische Polizei nicht. Eine vollständige Erhebung aller in Frage kommender Einzelfälle ist mit vertretbarem Verwaltungsaufwand in der für die Beantwortung der Kleinen Anfrage zur Verfügung stehenden Zeit nicht möglich.

  1. Inwieweit hat sich die Bearbeitungszeit der entsprechenden Strafverfahren auf Grund des Beschleunigungsgebotes seit 2019 verkürzt?

Im Rahmen der bundesweit abgestimmten Anordnung über die Erhebung von statistischen Daten in Straf- und Bußgeldverfahren (StP/OWi-Statistik) werden keine gesonderten statisti­schen Daten zu der Entwicklung der Verfahrensdauer von Strafverfahren, bei denen § 58a Absatz 1 Satz 3 StPO zur Anwendung gekommen ist, erhoben. Für die Beantwortung wäre eine Auswertung aller in Betracht kommenden Einzelvorgänge von Hand erforderlich. Dies ist in der für die Beantwortung der Kleinen Anfrage zur Verfügung stehenden Zeit nicht mit ver­tretbarem Aufwand möglich.

 

MMD18-10313