Nebenstatistik als Selbstlegitimation? – Wer hat Recht? – Nachfrage

Kleine Anfrage
vom 19.07.2023

Kleine Anfrage 2146

des Abgeordneten Markus Wagner AfD

Nebenstatistik als Selbstlegitimation? Wer hat Recht? Nachfrage

Mit Antwort der Landesregierung vom 23. Juni 2023, Drucksache 18/4779, auf meine Kleine Anfrage vom 22. Mai 2023, Drucksache 18/4425, wurde auf meine gestellte Frage 1

„Welche Gründe liegen vor, dass die Beratungsstellen die ermittelten Fallzahlen der Polizei und des Innenministeriums in Frage stellen und ein eigenes Erhebungskonzept eingeführt haben?1

unter anderem wie folgt geantwortet:

„Die verwendeten Erfassungskriterien der Beratungsstellen für Betroffene von rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt in Nordrhein-Westfalen (Opferberatung Rheinland und Opferberatung Westfalen) orientieren sich an dem bundeseinheitlichen polizeilichen Definitionssystem des Kriminalpolizeilichen Meldedienstes – Politisch motivierte Kriminalität – (KPMDPMK), um eine Nachvollziehbarkeit und Vergleichbarkeit zu den behördlichen Zahlen zu ermöglichen.

In einigen Punkten gehen sie bei der Einordnung von Gewalttaten explizit über diese polizeiliche Definition hinaus, um – ausgehend von einer hohen Dunkelziffer und Untererfassung an Taten – ein möglichst umfassendes Lagebild für das gesamte komplexe Spektrum rechter Gewalt zu zeichnen. So werden bspw. die Perspektiven von Betroffenen als Referenzwert bei der Einordnung von Gewalttaten gestärkt, vielfältige Täterstrukturen einbezogen (z. B. Fälle der Kategorie „PMK Ausländische Ideologie“) und seit dem Jahr 2022 auch Bedrohungen/Nötigungen als Gewaltdelikte bewertet und in die Statistik aufgenommen.“2

Auf Frage 2

„Welche Kriterien legen das Innenministerium und die Beratungsstellen für die Erhebung einschlägiger Taten und Opfern an? (Bitte die Kriterienkataloge gegenüberstellen.)“3

hat die Landesregierung unter anderem folgendes geantwortet:

„Das Ministerium des Innern definiert „Opfer“ von Gewalt im Sinne des KPMD-PMK als natürliche Personen, die durch die mit Strafe bedrohte Handlung körperlich geschädigt wurden oder werden sollten.

Als „Taten“ werden im KPMD-PMK solche Sachverhalte erfasst, die der Polizei durch Anzeige oder eigene Ermittlungen bekannt werden und hinreichende Anhaltspunkte für den Anfangsverdacht einer politisch motivierten Straftat enthalten.

In Ergänzung dazu nehmen Beratungsstellen nach sorgfältiger Prüfung auch Fälle in das Monitoring auf, bei denen keine Strafanzeige vorliegt. Erfasst werden Tatmotive, die auf einer menschenfeindlichen Ungleichwertigkeitsvorstellung beruhen. Hinweise auf ein politisch rechtes Motiv ergeben sich durch die Umstände der Tat, die Wahrnehmung der Betroffenen sowie die Einstellung der Täterinnen und Täter.

Die Benennung und Definitionen der Gewalttaten orientieren sich auch hier an den Straftatbeständen des Strafgesetzbuches, um Nachvollziehbarkeit und Vergleichbarkeit mit den behördlichen Zahlen zu gewährleisten. Gezählt werden darüber hinaus Taten der Sachbeschädigung sowie Nötigung/Bedrohung.“4

Des Weiteren wurde Frage 3

„Für welche Opfer – neben denen von „rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt“ – gibt es weitere Fachberatungsstellen?“5

wie folgt beantwortet:

„Seit dem Frühjahr 2022 wird im Rubicon e.V., Köln, eine Vollzeitstelle „Psychosoziale Beratung und Case-Management für LSBTIQ* in Nordrhein-Westfalen, die von Gewalt betroffen sind“, durch das Ministerium für Kinder, Jugend, Familie, Gleichstellung, Flucht und Integration als Teil der Anti-Gewaltarbeit gefördert. Hier erhalten Betroffene, die queerfeindliche Gewalt erlebt haben, ein Beratungsangebot.“6

Auf Frage 4

„Wie finanzieren sich die „Fachberatungsstellen für Betroffene von rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt“ in Nordrhein-Westfalen? (Bitte die Finanzierung des Gesamtetats einzeln aufschlüsseln.)“7

erhielt ich die Antwort:

„Die beiden Beratungsstellen, Opferberatung Rheinland und Opferberatung Westfalen, werden über Landes- und Bundesmittel (Programm „Demokratie leben!“) finanziert. Die Opferberatung Westfalen erhält zusätzlich Mittel der Stadt Dortmund.

Im Jahr 2023 werden die Beratungsstellen bedarfsorientiert gestärkt. Der Opferberatung Rheinland wurden zusätzliche Mittel in Höhe von rund 163.000 Euro bewilligt. Bezogen auf die Opferberatung Westfalen ist das Bewilligungsverfahren noch nicht abgeschlossen.“8

Frage 5

„Wie hoch ist der prozentuale Anteil von rechtsextremistisch motivierten Gewalttaten an allen Gewalttaten in Nordrhein-Westfalen? (Bitte nach einzelnen Gewaltdelikten jeweils absolut und prozentual aufschlüsseln.)“9

wurde von der Landesregierung folgendermaßen beantwortet:

„Gewaltstraftaten werden grundsätzlich in der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) erfasst, die aber die rechtsextremistisch motivierten Gewaltstraftaten nicht erkennbar oder recherchierbar ausweist. Diese können nur im KPMD-PMK ausgewertet werden.

Ein Vergleich der erfassten Gewaltdelikte in der Polizeilichen Kriminalstatistik und den erfassten politisch rechts motivierten Gewaltdelikten dem KPMD-PMK ist aufgrund unterschiedlicher Erfassungsmodalitäten nicht möglich.

Bei der PKS handelt es sich um eine Ausgangsstatistik. Eine Straftat wird unabhängig vom Zeitpunkt ihrer Begehung erst nach Abschluss der Ermittlungen und Abgabe an die Staatsanwaltschaft erfasst. Dem Zeitpunkt der Erfassung in der Statistik geht demnach regelmäßig ein längerer Zeitraum polizeilicher Ermittlungsarbeit voraus.

Bei dem KPMD-PMK handelt es sich hingegen um eine Eingangsstatistik. Jede politisch motivierte Straftat wird unverzüglich nach Bekanntwerden erfasst, um jederzeit über ein möglichst aktuelles Lagebild zu verfügen. Zudem besteht die Möglichkeit der Korrektur- und Abschlussmeldung, woraus sich Änderungen der Fallzahlen ergeben können. Der KPMD-PMK kann somit als Verlaufsstatistik bzw. als „Eingangsstatistik mit Korrekturmöglichkeit“ bezeichnet werden.

Dies ist jedoch nicht mit den bundeseinheitlichen Erfassungsrichtlinien der PKS vergleichbar, weshalb sich ein Vergleich von Fallzahlen beider Statistiken verbietet.“10

Ich frage daher erneut die Landesregierung:

  1. Wie unterscheidet die Landesregierung „rechte“ und „rechtsextreme“ Straftaten?
  2. Wieso werden Perspektiven von vermeintlichen oder tatsächlichen Betroffenen ausnahmslos „gestärkt“?
  3. Warum liegen bei manchen Fällen, die von den Beratungsstellen in das Monitoring aufgenommen werden, keine Strafanzeigen vor?
  4. Warum sind die Opfergruppe der LGBTQIA+ sowie die Opfergruppe der laut VBRG von rechter, rassistischer und antisemitische motivierter Gewalt Betroffenen gegenüber anderen Opfergruppen durch ihre institutionelle und haushalterische Sonderposition privilegiert worden?
  5. Wofür genau wurde der Betrag in Höhe von 1.030.300,00 Euro im Jahre 2022 sowie die 163.000,00 Euro im Jahre 2023 verwendet? (Bitte nach Opfern, Fallgesprächen, Beratungsstunden etc. aufschlüsseln.)

Markus Wagner

 

Anfrage als PDF

 

1 Antwort der Landesregierung vom 23.06.2023, Drucksache 18/4779.

2 Ebenda.

3 Ebenda.

4 Ebenda.

5 Ebenda.

6 Ebenda.

7 Ebenda.

8 Ebenda.

9 Ebenda.

10 Ebenda.


Die Ministerin für Kultur und Wissenschaft hat die Kleine Anfrage 2146 mit Schreiben vom 16. August 2023 namens der Landesregierung im Einvernehmen mit dem Minister des Innern sowie der Ministerin für Kinder, Jugend, Familie, Gleichstellung, Flucht und Integration beant­wortet.

  1. Wie unterscheidet die Landesregierung „rechte“ und „rechtsextreme“ Straftaten?

Die Erfassung „Politisch motivierter Kriminalität“ (PMK) erfolgt bundesweit einheitlich auf der Grundlage des im Jahr 2001 von der Ständigen Konferenz der Innenminister und -senatoren der Länder beschlossenen Definitionssystems „Politisch motivierte Kriminalität“ im Kriminalpo­lizeilichen Meldedienst in Fällen der politisch motivierten Kriminalität (KPMD-PMK).

Danach werden Straftaten der politisch motivierten Kriminalität -rechts- zugeordnet, „wenn in Würdigung der Umstände der Tat und/oder der Einstellung des Täters Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass sie nach verständiger Betrachtung (zum Beispiel nach Art der Themenfelder) einer „rechten“ Orientierung zuzurechnen sind, ohne dass die Tat bereits die Außerkraftset­zung oder Abschaffung eines Elementes der freiheitlichen demokratischen Grundordnung (Extremismus) zum Ziel haben muss. Der wesentliche Kerngedanke einer rechten Ideologie ist die Annahme einer Ungleichheit/Ungleichwertigkeit der Menschen.“

Grundsätzlich orientiert sich der Begriff „extremistische Kriminalität“ im Sinne des KPMD-PMK am Extremismusbegriff der Verfassungsschutz-gesetze des Bundes und der Länder und der dazu vorhandenen Rechtsprechung: „Der extremistischen Kriminalität werden Straftaten zu­geordnet, bei denen tatsächliche Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass sie gegen die freiheitli­che demokratische Grundordnung gerichtet sind, also darauf, einen der folgenden Verfas­sungsgrundsätze zu beseitigen oder außer Geltung zu setzen:

  • Das Recht des Volkes, die Staatsgewalt in Wahlen und Abstimmungen und durch be­sondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtspre­chung auszuüben und die Volksvertretung in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl zu wählen.
  • Die Bindung der Gesetzgebung an die verfassungsmäßige Ordnung und die Bindung der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung an Recht und Gesetz.
  • Das Recht auf Bildung und Ausübung einer parlamentarischen Opposition.
  • Die Ablösbarkeit der Regierung und ihre Verantwortlichkeit gegenüber der Volksver­tretung.
  • Die Unabhängigkeit der Gerichte.
  • Den Ausschluss jeder Gewalt- und Willkürherrschaft.
  • Die im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechte, zum Beispiel Menschenwürde, Gleichheitsgrundsatz, Religionsfreiheit, Meinungsfreiheit.

Ebenfalls hinzugerechnet werden Straftaten, die durch Anwendung von Gewalt oder darauf gerichtete Vorbereitungshandlungen auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland ge­fährden oder sich gegen die Völkerverständigung richten.“

  1. Wieso werden Perspektiven von vermeintlichen oder tatsächlichen Betroffenen ausnahmslos „gestärkt“?

Hinweise auf ein politisch rechtes Motiv ergeben sich durch die Umstände der Tat, die Einstel­lung der Täter und Täterinnen sowie die Wahrnehmung der Betroffenen. Die Perspektiven der betroffenen Personen, die mit den Folgen der Angriffe konfrontiert sind, sind also einer der Referenzwerte, um einen Angriff beispielsweise als rassistisch motiviert einordnen zu können. Zudem gehört zu den leitenden Qualitätsstandards der Beratungsstellen für Betroffene rech­ter, rassistischer und antisemitischer Gewalt eine professionelle Haltung der Beratenden, die von Solidarität und Akzeptanz gegenüber Betroffenen geprägt ist. Ihre Perspektiven, Bedürf­nisse und Interessen stehen in der Beratung und bei der Entwicklung von Handlungsstrategien zur Überwindung der Tatfolgen daher im Mittelpunkt.

  1. Warum liegen bei manchen Fällen, die von den Beratungsstellen in das Monitoring aufgenommen werden, keine Strafanzeigen vor?

Eine Strafanzeige ist keine Voraussetzung für die Aufnahme von Fällen in das unabhängige Monitoring der Beratungsstellen. Grund hierfür ist u.a., dass Betroffene rechter Gewalt auf­grund ihrer strukturellen Marginalisierung Gewalttaten deutlich seltener anzeigen als andere Personen. Dadurch muss von einer hohen Dunkelziffer von Taten im Bereich rechter Gewalt ausgegangen werden. Ziel des Monitorings ist es daher, ein umfassenderes Lagebild gewalt­voller Angriffe mit rechter Tatmotivation zu zeichnen und das Dunkelfeld zu erhellen.

  1. Warum sind die Opfergruppe der LGBTQIA+ sowie die Opfergruppe der laut VBRG von rechter, rassistischer und antisemitische motivierter Gewalt Betroffenen ge­genüber anderen Opfergruppen durch ihre institutionelle und haushalterische Sonderposition privilegiert worden?

Eine institutionelle und haushalterische Sonderposition der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer, antisemitischer Gewalt ist nicht gegeben. Es handelt sich nicht um insti­tutionelle Förderungen, sondern um zunächst bis zum 31.12.2024 bewilligte Projektförderun­gen. Gefördert werden die entsprechenden Beratungsstellen ebenso wie die Beratungsange­bote von Mobiler Beratung gegen Rechtsextremismus und die zivilgesellschaftliche Ausstiegs-beratung sowie weitere Maßnahmen aus Kapitel 06 070 Titel 684 22 „Beratungsleistungen gegen Rechtsextremismus und Rassismus“ und Titel 684 60 „Zuschüsse im Rahmen des Pro­gramms „Demokratie leben! Aktiv gegen Rechtsextremismus, Gewalt und Menschenfeindlich­keit“.

Auch eine Vollzeitstelle „Psychosoziale Beratung und Oase-Management für LSBTIQ* in Nord­rhein-Westfalen, die von Gewalt betroffen sind“ stellt aus Sicht der Landesregierung in Zeiten zunehmender Queerfeindlichkeit keine „Privilegierung“ dar. Der Koalitionsvertrag besagt an mehreren Stellen, dass der Queerfeindlichkeit zu begegnen ist. Mit der Vorhaltung des ent­sprechenden Beratungsangebots des Rubicon e.V. entspricht die Landesregierung diesem Auftrag.

  1. Wofür genau wurde der Betrag in Höhe von 1.030.300,00 Euro im Jahre 2022 sowie die 163.000,00 Euro im Jahre 2023 verwendet? (Bitte nach Opfern, Fallgesprächen, Beratungsstunden etc. aufschlüsseln.)

Mit den genannten Beträgen erfolgt die bedarfsorientierte Förderung der beiden spezialisierten Beratungsstellen für Opfer bzw. Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt gemäß den Qualitäts-standards des Bundesverbandes der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt (VBRG).

Im Jahr 2022 konnte nach Angaben der Projektträger durch die beiden Fachstellen insgesamt 242 Betroffenen von rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt Unterstützung bei der Überwindung von Angriffs-folgen geleistet werden.

Bezogen auf die im Jahr 2022 neu begonnenen Beratungsfälle (Anzahl: 90) stellt sich die Ver­teilung nach Tatmotiven wie folgt dar:

70 Prozent aller neuen Beratungsfälle lag ein rassistisches Tatmotiv zugrunde. Angriffe gegen sog. „politische Gegnerinnen und Gegner“, bspw. Menschen, die sich für Demokratie und Ge­flüchtete und gegen Rechtsextremismus und Rassismus engagieren, machten 16 Prozent der Beratungsfälle aus. Das Tatmotiv Homo- und Transfeindlichkeit kommt in 3 Prozent, die Tatmotive Antisemitismus und Sozial-darwinismus gegen sozial und ökonomisch benachteiligte Personen kommen in jeweils einem Prozent der Beratungsfälle zum Tragen.

Für das laufende Förderjahr 2023 liegen noch keine statistischen Daten vor.

 

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Beteiligte:
Markus Wagner