Nebenstatistik als Selbstlegitimation? – Wer hat Recht?

Kleine Anfrage

Kleine Anfrage 1847

des Abgeordneten Markus Wagner AfD

Nebenstatistik als Selbstlegitimation? Wer hat Recht?

Der Verfassungsschutzbericht Nordrhein-Westfalens weist für das Beobachtungsjahr 2022 sinkende Zahlen im Phänomenbereich des Rechtsextremismus aus. So hat sich die Zahl der Rechtsextremisten von 3.875 im Jahre 2021 auf nunmehr 3.545 verringert. Aber auch bei den Personen, die als „gewaltorientiert“ eingeordnet werden, hat sich die Zahl von 2.000 auf 1.900 reduziert.1

Allerdings stieg die politisch motivierte Kriminalität von rechts von 3.135 Straftaten im vergangenen Jahr auf 3.453 Straftaten im Jahr 2022. Dies entspricht einem Anstieg von 10 Prozent. Dabei hat sich die Anzahl der Gewaltdelikte durch rechtsmotivierte Tatverdächtige hingegen mit 117 Straftaten gegenüber dem Vorjahr um 3,3 Prozent reduziert. Da lag die Zahl noch bei 121 Straftaten.2

Sogenannte „Fachberatungsstellen für Betroffene von rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt“ in Nordrhein-Westfalen haben jüngst höhere Zahlen für das Jahr 2022 veröffentlicht, wonach die Gewalt durch Rechtsextremisten deutlich zugenommen habe. Demnach haben diese Beratungsstellen für das Jahr 2022 insgesamt 371 Fälle erfasst. Im Jahr 2021 waren es noch 158. Nach Angaben der Beratungsstellen sei ein Anstieg um 74,5 Prozent zu verzeichnen und widerspricht somit den veröffentlichten Zahlen im aktuellen Verfassungsschutzbericht. Die Beratungsstellen legen zur Ermittlung ihrer Fallzahlen andere Kriterien zugrunde und zählen Fälle zu rechts motivierter Gewalt hinzu, die nicht automatisch auch als rechtsextrem in der Definition des Verfassungsschutzes gilt.3

Natürlich müssen sich die von Steuergeldern finanzierten Beratungsstellen selbstlegitimieren. Das ist das Wesen der Bürokratie. Unabhängig davon stellt sich allerdings die Frage, wie es zu den unterschiedlichen Statistiken kommt, denn: Jedes Opfer von Gewalt ist eines zu viel.

Ich frage daher die Landesregierung:

  1. Welche Gründe liegen vor, dass die Beratungsstellen die ermittelten Fallzahlen der Polizei und des Innenministeriums in Frage stellen und ein eigenes Erhebungskonzept eingeführt haben?
  2. Welche Kriterien legen das Innenministerium und die Beratungsstellen für die Erhebung einschlägiger Taten und Opfern an? (Bitte die Kriterienkataloge gegenüberstellen.)
  3. Für welche Opfer – neben denen von „rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt“ – gibt es weitere Fachberatungsstellen?
  4. Wie finanzieren sich die „Fachberatungsstellen für Betroffene von rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt“ in Nordrhein-Westfalen? (Bitte die Finanzierung des Gesamtetats einzeln aufschlüsseln.)
  5. Wie hoch ist der prozentuale Anteil von rechtsextremistisch motivierten Gewalttaten an allen Gewalttaten in Nordrhein-Westfalen? (Bitte nach einzelnen Gewaltdelikten jeweils absolut und prozentual aufschlüsseln.)

Markus Wagner

 

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1 Vgl. https:// www1 .wdr.de/nachrichten/landespolitik/verfassungsschutzbericht-reul-104.html.

2 Vgl. https:// www1 .wdr.de/nachrichten/landespolitik/rechte-uebergriffe-100.html.

3 Ebenda.


Die Ministerin für Kultur und Wissenschaft hat die Kleine Anfrage 1847 mit Schreiben vom 23. Juni 2023 namens der Landesregierung im Einvernehmen mit dem Minister des Innern sowie der Ministerin für Kinder, Jugend, Familie, Gleichstellung, Flucht und Integration beant­wortet.

  1. Welche Gründe liegen vor, dass die Beratungsstellen die ermittelten Fallzahlen der Polizei und des Innenministeriums in Frage stellen und ein eigenes Erhe­bungskonzept eingeführt haben?

Die verwendeten Erfassungskriterien der Beratungsstellen für Betroffene von rechter, rassis­tischer und antisemitischer Gewalt in Nordrhein-Westfalen (Opferberatung Rheinland und Op­ferberatung Westfalen) orientieren sich an dem bundeseinheitlichen polizeilichen Definitions­system des Kriminalpolizeilichen Meldedienstes – Politisch motivierte Kriminalität – (KPMD-PMK), um eine Nachvollziehbarkeit und Vergleichbarkeit zu den behördlichen Zahlen zu er­möglichen.

In einigen Punkten gehen sie bei der Einordnung von Gewalttaten explizit über diese polizeili­che Definition hinaus, um – ausgehend von einer hohen Dunkelziffer und Untererfassung an Taten – ein möglichst umfassendes Lagebild für das gesamte komplexe Spektrum rechter Ge­walt zu zeichnen. So werden bspw. die Perspektiven von Betroffenen als Referenzwert bei der Einordnung von Gewalttaten gestärkt, vielfältige Täterstrukturen einbezogen (z. B. Fälle der Kategorie „PMK Ausländische Ideologie“) und seit dem Jahr 2022 auch Bedrohungen/Nöti-gungen als Gewaltdelikte bewertet und in die Statistik aufgenommen.

Im Hintergrundpapier zur Jahresstatistik 2022 sind die Grundlagen, auf denen die Daten der Fachberatungsstellen basieren, erläutert: www.opferberatung-rheinland.de, www.backup-nrw.org.

  1. Welche Kriterien legen das Innenministerium und die Beratungsstellen für die Er­hebung einschlägiger Taten und Opfern an? (Bitte die Kriterienkataloge gegen­überstellen.)

Das Ministerium des Innern definiert „Opfer“ von Gewalt im Sinne des KPMD-PMK als natürli­che Personen, die durch die mit Strafe bedrohte Handlung körperlich geschädigt wurden oder werden sollten.

Als „Taten“ werden im KPMD-PMK solche Sachverhalte erfasst, die der Polizei durch Anzeige oder eigene Ermittlungen bekannt werden und hinreichende Anhaltspunkte für den Anfangs­verdacht einer politisch motivierten Straftat enthalten.

In Ergänzung dazu nehmen Beratungsstellen nach sorgfältiger Prüfung auch Fälle in das Mo-nitoring auf, bei denen keine Strafanzeige vorliegt.

Erfasst werden Tatmotive, die auf einer menschenfeindlichen Ungleichwertigkeitsvorstellung beruhen. Hinweise auf ein politisch rechtes Motiv ergeben sich durch die Umstände der Tat, die Wahrnehmung der Betroffenen sowie die Einstellung der Täterinnen und Täter.

Die Benennung und Definitionen der Gewalttaten orientieren sich auch hier an den Straftatbe­ständen des Strafgesetzbuches, um Nachvollziehbarkeit und Vergleichbarkeit mit den behörd­lichen Zahlen zu gewährleisten. Gezählt werden darüber hinaus Taten der Sachbeschädigung sowie Nötigung/Bedrohung.

Auf der Webseite des Verbandes der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt (VBRG) wird die Zählweise und die Datenbasis des bundesweiten Mo-nitorings erläutert: https://verband-brg.de/wp-content/uploads/2022/08/20220803_Zaehl-weise-und-Datenbasis-Monitoring.pdf.

  1. Für welche Opfer – neben denen von „rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt“ – gibt es weitere Fachberatungsstellen?

Seit dem Frühjahr 2022 wird im Rubicon e.V., Köln, eine Vollzeitstelle „Psychosoziale Bera­tung und Case-Management für LSBTIQ* in Nordrhein-Westfalen, die von Gewalt betroffen sind“, durch das Ministerium für Kinder, Jugend, Familie, Gleichstellung, Flucht und Integration als Teil der Anti-Gewaltarbeit gefördert. Hier erhalten Betroffene, die queerfeindliche Gewalt erlebt haben, ein Beratungsangebot.

  1. Wie finanzieren sich die „Fachberatungsstellen für Betroffene von rechter, ras­sistischer und antisemitischer Gewalt“ in Nordrhein-Westfalen? (Bitte die Finanzierung des Gesamtetats einzeln aufschlüsseln.)

Die beiden Beratungsstellen, Opferberatung Rheinland und Opferberatung Westfalen, werden über Landes- und Bundesmittel (Programm „Demokratie leben!“) finanziert. Die Opferberatung Westfalen erhält zusätzlich Mittel der Stadt Dortmund. Für das Jahr 2022 stellt sich die Förde­rung wie folgt dar:

  Opferberatung Rheinland Opferberatung Westfalen
Bundesmittel 215.450 € 192.750 €
Landesmittel 293.550 € 293.550 €
Kommunale Mittel 35.000 €
Gesamt 509.000 € 521.300 €

 

Im Jahr 2023 werden die Beratungsstellen bedarfsorientiert gestärkt. Der Opferberatung Rheinland wurden zusätzliche Mittel in Höhe von rund 163.000 Euro bewilligt. Bezogen auf die Opferberatung Westfalen ist das Bewilligungsverfahren noch nicht abgeschlossen.

  1. Wie hoch ist der prozentuale Anteil von rechtsextremistisch motivierten Gewaltta­ten an allen Gewalttaten in Nordrhein-Westfalen? (Bitte nach einzelnen Gewaltde­likten jeweils absolut und prozentual aufschlüsseln.)

Gewaltstraftaten werden grundsätzlich in der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) erfasst, die aber die rechtsextremistisch motivierten Gewaltstraftaten nicht erkennbar oder recherchierbar ausweist. Diese können nur im KPMD-PMK ausgewertet werden.

Ein Vergleich der erfassten Gewaltdelikte in der Polizeilichen Kriminalstatistik und den erfass­ten politisch rechts motivierten Gewaltdelikten dem KPMD-PMK ist aufgrund unterschiedlicher Erfassungsmodalitäten nicht möglich.

Bei der PKS handelt es sich um eine Ausgangsstatistik. Eine Straftat wird unabhängig vom Zeitpunkt ihrer Begehung erst nach Abschluss der Ermittlungen und Abgabe an die Staatsan­waltschaft erfasst. Dem Zeitpunkt der Erfassung in der Statistik geht demnach regelmäßig ein längerer Zeitraum polizeilicher Ermittlungsarbeit voraus.

Bei dem KPMD-PMK handelt es sich hingegen um eine Eingangsstatistik. Jede politisch mo­tivierte Straftat wird unverzüglich nach Bekanntwerden erfasst, um jederzeit über ein möglichst aktuelles Lagebild zu verfügen. Zudem besteht die Möglichkeit der Korrektur- und Abschluss­meldung, woraus sich Änderungen der Fallzahlen ergeben können. Der KPMD-PMK kann so­mit als Verlaufsstatistik bzw. als „Eingangsstatistik mit Korrekturmöglichkeit“ bezeichnet wer­den.

Dies ist jedoch nicht mit den bundeseinheitlichen Erfassungsrichtlinien der PKS vergleichbar, weshalb sich ein Vergleich von Fallzahlen beider Statistiken verbietet.

 

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Beteiligte:
Markus Wagner