NRW ist keine Räterepublik: „Bürgerräte“ und andere demokratisch nicht legitimierte Beteiligungsgremien auf Eis legen

Antrag

Antrag
der Fraktion der vom 28.02.2023

NRW ist keine Räterepublik: „Bürgerräte“ und andere demokratisch nicht legitimierte Beteiligungsgremien auf Eis legen

I. Ausgangslage

Völker, rettet das Klima! Auf zum „Gesellschaftsrat“! – so oder so ähnlich könnte bald das Motto der klimaterroristischen Organisation „Letzte Generation“ lauten, die seit 2023 auf ihrer Netzseite fordert: „Wir fordern die Regierung […] dazu auf, eine geloste Notfallsitzung einzu­berufen, um die Wende einzuleiten: Den Gesellschaftsrat.“1 Nach dem Willen der „Letzten Ge­neration“ soll sich ein solcher Rat „aus zufällig gelosten Menschen, die die Bevölkerung Deutschlands nach Kriterien wie Alter, Geschlecht, Bildungsabschluss und Migrationshinter-grund bestmöglich abbilden“2 zusammensetzen. Und die Stoßrichtung dieses Gesellschafts­rates ist auch klar: „Der Gesellschaftsrat erarbeitet in einem definierten Zeitraum die nötigen Schritte unter der Fragestellung: Wie erreichen wir in Deutschland Nullemissionen bis 2030?“3

Mit der Forderung nach einem gelosten oder jedenfalls nicht vom Volk gewählten Gremium zur Beratung und Entscheidung öffentlicher Belange stehen die Klimaterroristen nicht allein da. Schon seit längerer Zeit ist ein Trend in der bundesdeutschen Politik und der nordrhein-westfälischen Landespolitik zu beobachten, mit der die bisherigen Elemente parlamentari­scher und direkter Demokratie ‚ergänzt‘ werden sollen. Diese „Ergänzung“ firmiert häufig unter dem Titel eines „Bürgerrats“, in den Menschen nicht aufgrund einer demokratischen Wahl, sondern zufällig per Los und durch eine gezielte politische Auswahl der Obrigkeit oder von Verbänden Mitglied werden.

So wurde 2018 im Koalitionsvertrag der schwarz-roten Bundesregierung vereinbart, einen „Bürgerrat Demokratie“ einzurichten. Per Los wurde 4.362 Bürgern angeboten, im Bürgerrat mitzuarbeiten. Lediglich 250 Bürger (also nur 5,7 Prozent) meldeten sich dann aber für die Mitarbeit an. Von diesen 250 Bürgern wurden dann 90 Bürger von der Mitarbeit im Bürgerrat aufgrund überproportional auftretender und damit unerwünschter soziodemographischer Merkmale ausgeschlossen.4 Am Ende des Prozesses standen also 160 Bürger, die zum Teil per Zufall, zum Teil durch ihr eigenes Engagement und zum Teil aufgrund merkmalsbezogener Selektion zu Geschlecht, Altersgruppe, Bildungsstand, Bundesland, der Gemeindegröße und dem Migrationshintergrund5 einen Platz im „Bürgerrat Demokratie“ erhielten.

Wenig überraschend traute man diesem Bürgerrat aber nicht zu, seiner Arbeit ohne die Her­anziehung von „Experten“, die in vielen Fällen für Interessenverbände tätig sind, nachzugehen. Im „zivilgesellschaftlichen Beirat“ des „Bürgerrats Demokratie“ waren dabei weltanschaulich wenig neutrale Organisationen wie der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND), die Jungen Europäischen Föderalisten oder auch das Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK) versammelt.6

Andere Bürgerräte werden von vornherein im Dienste einer bestimmten politischen Agenda zugeschnitten. So durfte sich ein ebenfalls 160-köpfiger „Bürgerrat Klima“ im Wesentlichen damit auseinandersetzen, wie man am besten die in Deutschland omnipräsente Klimahysterie noch weiter vorantreibt. Unter Schirmherrschaft von Bundespräsident a. D. Horst Köhler durfte dieser Bürgerrat der Politik Leitsätze wie „Du bist nichts, das Klima ist alles“ – oder, in den exakten Worten des Bürgerrates: „Das 1,5-Grad-Ziel hat oberste Priorität“ und „Der Klima­schutz dient dem Allgemeinwohl und hat Priorität vor Einzelinteressen“7 – in einem „Bürger­gutachten“ verbreiten.

Weitere Bürgerräte sind im aktuellen Koalitionsvertrag von SPD, Grünen und FDP vorgesehen und erhalten mittlerweile politische Schützenhilfe von höchster Stelle in Gestalt von Bundes­tagspräsidentin Bärbel Bas (SPD).8 Und auch in Nordrhein-Westfalen sollen künftig solche Bürgerräte und die an sie angeschlossenen Interessenverbände ihr Unwesen treiben. So ist im schwarz-grünen Koalitionsvertrag der NRW-Landesregierung von 2022 festgelegt: „Um un­terschiedliche Perspektiven in politische Entscheidungsprozesse einbeziehen zu können, wer­den wir zu ausgewählten Themen zwei Bürgerräte, die die Gesellschaft repräsentativ abbilden, einsetzen und dieses Instrument auf Landesebene erproben.“9 Durch die Festlegung auf zwei Themen kann sich wahrscheinlich jeder Koalitionspartner sein Lieblingsthema suchen, um Bürgerbeteiligung zu simulieren.

Die überschwängliche Liebe, die den Bürgerräten in Politik und Medien entgegenschlägt – von öffentlich-rechtlicher Seite auch schon mal als „Demokratieverstärker“10 über den grünen Klee gelobt – ist jedoch völlig ungerechtfertigt. Bürgerräte sind bestensfalls scheindemokratische, schlimmstenfalls demokratieschädliche Einrichtungen:

Kritik am Losverfahren

Bereits die Grundidee, politische Repräsentanten durch ein Losverfahren auszuwählen, ist bestenfalls frühdemokratisch und hat in einer entwickelten Demokratie wie der deutschen nichts verloren. In einer Demokratie müssen das Volk und die Mehrheit herrschen, nicht der Zufall.

Die Idee, das Losverfahren im Rahmen eines demokratischen Staatswesens einzusetzen, kann zwar bis auf die attische Demokratie der Antike zurückverfolgt werden, in der zahlreiche Ämter durch Los besetzt wurden. Dies hatte aber im Kontext einer antiken Polis wie Athen vor allem den Sinn, individueller Korruption, Wahlmanipulation und Demagogie entgegenzuwirken und im Sinne des stadtbürgerlichen Ethos alle erwachsenen Männer dazu anzuhalten, sich durch die Übernahme konkreter politischer Verantwortung und Pflichterfüllung am Gemeinwe­sen zu beteiligen.

Eine solche Konstruktion ist unter den Gegebenheiten der modernen Massen- und Mediende­mokratie hingegen verfehlt. Anders als in einer zahlenmäßig überschaubaren Polis besteht in einem modernen Staat mit Millionen von Bürgern nicht die Gefahr, dass ein einzelner Bürger sich durch den Kauf eines Amtes oder einer politischen Funktion oder durch eine einzelne demagogische Rede vor einer ohnehin nicht vorhandenen Volksversammlung eine abrupte politische Macht über das Gemeinwesen verschafft. Und zur Stärkung des politischen Verant­wortungsbewusstseins tragen Bürgerräte ohnehin nicht bei, denn anders als im antiken Bei­spiel treffen die zufällig ausgelosten Bürger, die im Bürgerrat mitarbeiten, keine Amtspflichten im engeren Sinne.

Kritik an Quotierungen und merkmalsbezogener Auswahl – Abkehr vom Prinzip der Gesam­trepräsentation

Das Losverfahren entpuppt sich aber ohnehin als Bauernfängerei, wenn man bedenkt, dass die Mitglieder der Bürgerräte in aller Regel sowieso nicht durch den ‚reinen‘ Zufall ausgewählt werden. Dies wäre nur dann der Fall, wenn jeder Staatsbürger die gleiche Chance hätte, in einen Bürgerrat berufen zu werden. Gerade das ist aber nicht der Fall, wenn man bedenkt, was zum Beispiel die OECD 2020, ergänzt durch „Erkenntnisse und Forschung zu Bürgerrä­ten“, als wichtige Kriterien für die Auswahl definiert hat: „Bei der Auswahl werden Kriterien wie Alter, Geschlecht, Bildung, Wohnort, Gemeindegröße und Migrationshintergrund der Teilneh­menden berücksichtigt, so dass möglichst ein Querschnitt der Bevölkerung abgebildet wird.“11 Mit anderen Worten: Die Bürgerräte werden anhand dieser Merkmale gründlich durchquotiert.

Hieraus spricht eine Ablehnung der Ideale der repräsentativen Demokratie und des sie tragen­den Prinzips der Gesamtrepräsentation des Volkes durch gewählte Vertreter. Nach dieser bis­her in Deutschland eigentlich herrschenden und im Verfassungsrang abgesicherten Vorstel­lung ist ein Repräsentant immer Vertreter des gesamten Volkes und nicht bloß einer einzelnen partikularen und durch ein bestimmtes Merkmal unterscheidbaren Gruppe. So können sich beispielsweise nach den aufgeklärten Prinzipien der repräsentativen Demokratie männliche Repräsentanten trotz ihrer Männlichkeit für die Belange von Frauen einsetzen, weibliche Re­präsentanten für die Belange von Männern, Alte für Junge, Junge für Alte, Heterosexuelle für Homosexuelle, Homosexuelle für Heterosexuelle, Reiche für Arme etc. Der Repräsentant ist nur seinem eigenen Gewissen unterworfen und macht Politik auf Grundlage seiner eigenen Überzeugungen. Die politische Auseinandersetzung zwischen den Repräsentanten erfolgt auf geistiger Grundlage von Argumentation und Diskussion, nicht anhand körperlicher oder sozi-odemographischer Merkmale der Repräsentanten.

Die Bürgerräte brechen mit diesem Prinzip radikal. Das sie tragende Strukturprinzip ist nicht politisch neutral, sondern ganz klar links-, in anderen Kontexten als Deutschland vielleicht auch rechtsradikaler Identitätspolitik zuzurechnen. Denn anstatt die geistige Auseinanderset­zung in den Vordergrund zu stellen und im Übrigen das deutsche Volk als Einheit zu betrach­ten, wird mit den Bürgerräten ein identitätspolitisches Ammenmärchen zum Leitbild erhoben: Dass eine angemessene Repräsentation des Volkes und der Gesellschaft nur dann möglich ist, wenn die Zusammensetzung der Bürgerräte anhand bestimmter (im Ergebnis willkürlich ausgewählter) Merkmale die Zusammensetzung der Gesellschaft statistisch möglichst genau widerspiegelt. Grundlage ist die völlig falsche und nahezu jeden Tag durch die Realität wider­legte Vorstellung, dass ein Repräsentant die Bedürfnisse, Erfahrungen und Interessen einer merkmalsbestimmten Gruppe nur dann verstehen und vertreten kann, wenn er selbst dieser Gruppe angehört. Nach diesem Menschenbild sind Menschen keine autonomen Subjekte, sondern Gefangene ihrer jeweiligen identitätspolitischen Merkmale.

Wer ein solches identitätspolitisches Demokratiebild pflegt, tut damit vor allem eines: unser Volk spalten.

Schwächung direkter Demokratie zu Gunsten rein konsultativer Verfahren

Auffällig ist in diesem Zusammenhang, dass sich Bürgerräte vor allem in der politischen Linken und in der Mitte immer größerer Zustimmung erfreuen, während Forderungen nach mehr di­rekter Demokratie außerhalb des rechtsdemokratischen Spektrums immer leiser und zurück­haltender formuliert werden.

Prof. Dr. Frank Decker, Professor am Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie der Universität Bonn und Mitglied der SPD-Grundwertekommission, analysierte diese Entwicklung 2021 in einem Gastbeitrag für die Neue Zürcher Zeitung wie folgt:

„Erstens mussten gerade die linken Parteien registrieren, wie sich seit den 1980er Jahren die ‚von unten‘, also von den Bürgern selbst ausgelösten Verfahren auf der kommunalen und Län­derebene wiederholt gegen eigene Vorhaben richteten. Zweitens machte sich Überdruss am Dauerstreit über die richtige Ausgestaltung der Verfahren breit, am Hin und Her zwischen ‚Öff­nung‘ und ‚Schliessung‘. Und drittens schickte sich der in Deutschland erst spät – in Gestalt der AfD – ins Parteiensystem Einzug haltende Rechtspopulismus an, die Forderung nach ‚mehr direkter Demokratie‘ zu vereinnahmen.“12

„Aus der Forschung wissen wir, dass die Stärkung der Selbstwirksamkeit der Bürger, die man sich von den Verfahren erhofft, nur eintritt, wenn diese ‚einen Unterschied machen‘. In ihrer derzeitigen Form werden die Bürgerräte dem nicht gerecht. Sie nähren eher den Verdacht einer Alibiveranstaltung, die freilich beiden Seiten nützt: den Regierenden, weil sie die Bürger beschwichtigen können, und den zivilgesellschaftlichen Initiatoren, die sich ein neues Tätig­keitsfeld erschliessen […]“

Wenn man von Deckers Seitenhieb auf die AfD absieht, die natürlich nicht die Forderung nach mehr direkter Demokratie vereinnahmt, sondern sie einfach aus Überzeugung vertritt, ist die­ser Analyse zuzustimmen: Direktdemokratische Instrumente geraten vor allem im linken Teil des politischen Spektrums immer mehr in Verruf, weil „das Volk, der große Lümmel“ (Heinrich Heine) immer häufiger aus Sicht linker und zentristischer Politiker „falsche“ Entscheidungen trifft und nicht etwa nur den Klimawandel bekämpfen möchte, sondern beispielsweise auch Migration steuern und kontrollieren oder, wie im Falle des Brexit-Referendums, aus der Euro­päischen Union austreten möchte.

Bei den Bürgerräten handelt es sich so gesehen um einen gewitzten Marketingtrick von Poli­tikern, die mit direkter Demokratie fremdeln: Statt die Entscheidungsbefugnisse des Volkes auszubauen, wird lediglich durch einen unverbindlichen Konsultationsprozess mehr Demokra­tie ‚simuliert‘, ohne dass sich aber etwas signifikant an der politischen Macht- und Entschei­dungsstruktur im Staate ändert.

Dieser vom tiefen Misstrauen gegen das eigene Volk geprägten Haltung ist eine Absage zu erteilen. Das Volk sollte nicht in ausgelosten und durchquotierten Bürgerräten unverbindliche ‚Bürgergutachten‘ im Auftrag von Politik und Verbänden schreiben, sondern im besten Fall auch einmal Entscheidungen gegen die jeweils herrschenden Mehrheiten in Regierung, Par­lamenten und Redaktionsstuben treffen können.

Bürgerräte als Kreaturen (partei-)politischer Akteure aufgrund politischer Vorfestlegungen

Die Bürgerräte können keinesfalls von der Gesamtstruktur getrennt werden, in die sie einge­bettet sind. Die oben beschriebenen Beispiele für Bürgerräte zeigen, dass es sich nicht um Einrichtungen handelt, die aufgrund einer Volksbewegung oder einer staatsbürgerlichen Initi­ative ‚von unten‘ entstanden sind. Hinter den Bürgerräten stecken mächtige Verbände wie beispielsweise Mehr Demokratie e. V. oder gleich Regierungen selbst, welche die Bürgerräte ja auch ganz offen in ihren jeweiligen Koalitionsvereinbarungen verankern.

Initiator sind also nicht die Bürger selbst, sondern etablierte (partei-)politische Akteure. Sie fungieren als Auftraggeber und setzen daher auch die Parameter für die Arbeit der Bürgerräte. Von überragender Bedeutung ist in diesem Zusammenhang auch, dass der Auftraggeber die Zielbestimmung für den Bürgerrat selbst festlegt und der Bürgerrat dann nur noch ausführen­des Organ ist, das sich überlegen darf, wie es die Wünsche seines Herrn möglichst gut und kreativ umsetzt. Für Grundsatzdebatten und Disruption ist kein Platz.

So ist es auch kein Wunder, dass sich der maßgeblich von Mehr Demokratie e. V. beeinflusste „Bürgerrat Demokratie“ am Ende des Tages für mehr direkte Demokratie und – Überraschung – mehr Bürgerräte eingesetzt hat. Dass der „Bürgerrat Klima“ keine ernsthafte Kritik am herr­schenden klimapolitischen Paradigma geäußert hat, sondern dieses allenfalls als zu wenig radikal empfand, dürfte auch niemanden gewundert haben.

Die Ergebnisse sind durch die vom Auftraggeber getroffenen politischen Vorfestlegungen im Großen und Ganzen vorhersehbar, und zwar unabhängig davon, wer sich nun des Instruments des Bürgerrats bedient. Wenn eine AfD-geführte Regierung einen „Bürgerrat Migration“ mit entsprechend wissenschaftlicher Beratung eingesetzt hätte, würden die Ergebnisse im ent­sprechenden „Bürgergutachten“ des Bürgerrates sehr wahrscheinlich nicht von großer Begeis­terung für die Fortsetzung illegaler Massenmigration geprägt sein.

Lobbyismus, Aktivismus und Einflussnahme durch Verbände und Wissenschaftler

Bürgerräte sind wegen des Losverfahrens im Kern Laienveranstaltungen. Daher wird seitens der Befürworter von Bürgerräten versucht, die Qualität und Sachkenntnis der Beratungen dadurch zu heben, dass man „Experten“ in die Abläufe der Bürgerräte integriert. Wo „Experte“ draufsteht, wäre häufig das Etikett „Lobbyist“ oder „Aktivist“ ehrlicher.

Dies kann man nicht nur gut daran erkennen, dass beispielsweise im Beirat des „Bürgerrats Klima“ Organisationen wie Fridays for Future oder der Verband der Automobilindustrie vertreten waren. Auch wirken häufig ebenfalls „von oben“ (und nicht vom Bürgerrat selbst) installierte Wissenschaftler bei der Arbeit der Bürgerräte mit, denen man schon wegen des intransparenten Auswahlprocederes hinreichende Legitimität und Unabhängigkeit absprechen könnte. Besonders problematisch ist in diesem Zusammenhang, wenn mit Berufung auf ‚die Wissenschaft‘ solchen Beiräten ein enormer Beeinflussungs- und Entscheidungsspielraum zu­gestanden wird. So heißt es beim „Bürgerrat Klima“ ganz offen: „Die Wissenschaft setzt den Rahmen“ und legt für den Bürgerrat den inhaltlichen Rahmen für Fragen und Themen aus wissenschaftlicher Sicht fest.13

Daraus spricht ein zumindest problematisches, wenn nicht sogar infantiles Verständnis von Wissenschaft. Zum einen ist Wissenschaft ein Prozess der Erkenntnisfindung, der auf fortwäh­render Falsifikation wissenschaftlicher Hypothesen basiert. Der wissenschaftliche Streit und Diskurs sind zentral für „die Wissenschaft“, die es daher auch in dieser monolithischen Form nicht gibt. Zum anderen können Wissenschaftler nur Aussagen über die Realität treffen, aber nicht darüber, wie die Realität von Menschen und Politik gestaltet werden sollte. In einer De­mokratie setzt daher eben nicht die Wissenschaft den Rahmen, sondern die politischen und weltanschaulichen Wertentscheidungen der Mehrheit. Wissenschaft kann aufzeigen, welche Konsequenzen diese Wertentscheidungen im Hinblick auf die Realität haben, aber Wissen­schaft kann keine politischen Werturteile treffen. Normative Bewertungen, ob eine bestimmte Wertentscheidung und sogar die aus ihr erwachsenden Konsequenzen gut oder schlecht sind, verlassen die Sphäre der Wissenschaftlichkeit. Politische Einmischungen von Wissenschaft­lern, die nicht nur deskriptive, sondern normative Aussagen treffen, sind daher eine weitere fragwürdige Einflussnahme auf die Arbeit von Bürgerräten.

Komplexitätsdilemma der Bürgerräte

Im Zusammenhang mit den verschiedenen Beiräten tut sich ein weiteres Dilemma in der Arbeit von Bürgerräten auf. Einerseits will man in einem Bürgerrat ein bestimmtes politisches Thema sehr detailliert aufarbeiten und der Politik Handlungsempfehlungen an die Hand geben. Ande­rerseits funktioniert dies nur, wenn ein ganzer Apparat diese Bürger, die wie bereits oben be­schrieben im Kern aus Laien bestehen, unterstützt und berät. Es ergibt sich also ein Komple-xitätsdilemma: Komplexe Fragen sollen von Nichtexperten beraten und entschieden werden, während grundsätzliche Fragen politischer Überzeugung und Weltanschauung, zu die der Durchschnittsbürger viel einfacher Stellung nehmen könnte, durch die angesprochenen politi­schen Vorfestlegungen kaum Raum finden.

Es stellt sich daher die Frage, ob der Bürgerrat das richtige Instrument ist, um politische Fragen im Detail zu besprechen. Zwar sind direkt gewählte Gremien wie die Parlamente auch nicht zwingend ein Konglomerat aus Fachexperten. Doch arbeiten sich Parlamentarier in der Regel mit der Zeit akribisch in ihre jeweiligen Fachbereiche ein, schon allein deshalb, weil es das Parlament ist, das im Zweifel komplexe und detaillierte Gesetze erlassen muss, die für die Allgemeinheit verbindlich sind. Der Bürgerrat hingegen simuliert eine erhöhte Kompetenz bei der Behandlung komplexer Fragen, ohne sie aber tatsächlich zu haben.

Benachteiligung politisch nicht aktiver Bürger

Ein weiteres Problem der Bürgerräte ist die Tatsache, dass vor allem politisch aktive Bürger, die entsprechende zeitliche Kapazitäten zur Verfügung haben, sich in ihnen beteiligen. Bürger hingegen, welche auf die repräsentative Demokratie vertrauen und ihren politischen Überzeugungen vor allem durch die zeitlich nicht sehr umfangreiche Teilnahme an Wahlen Ausdruck verleihen, werden so benachteiligt.

Lenkung des demokratischen Diskurses durch Legitimitätssimulation

Politische Legitimität kann nicht nur durch Argumentation entstehen, sondern auch durch den Urheber einer politischen Forderung. Stellt der demokratisch gewählte Ministerpräsident bei­spielsweise eine politische Forderung auf, hat sie unabhängig von ihrem Inhalt eine höhere politische Legitimität, als wenn beispielsweise der Verein der Briefmarkensammler sich poli­tisch einlässt.

Darauf zielt auch die Konstruktion der Bürgerräte ab. Sie dienen ganz bewusst auch als Legitimitätssimulator. Die Bürgerräte erwecken den – letztlich grundlosen – Anschein, durch das Auswahlprocedere, die Beratung durch Beiräte und die entsprechende „Vermarktung“ ihrer Beratungsergebnisse mit Hochglanzbroschüren u. a. über eine erhöhte politische Legitimität zu verfügen. Hierdurch wird „von oben“ der gesamtgesellschaftliche demokratische Diskurs in eine bestimmte Richtung gesteuert und gelenkt, indem man Bürger „von unten“ rekrutiert und sie Forderungen aufstellen lässt, die ohne einen Bürgerrat über geringere politische Legitimität verfügen würden.

Entkopplung von politischen Entscheidungsprozessen und Verantwortlichkeit

Wesensmerkmal der Demokratie ist, dass politische Entscheidungsträger nicht nur gewählt, sondern im Zweifel auch bei der nächsten Wahl wieder abgewählt werden können, wenn das Volk als Souverän der Meinung ist, dass ein Politiker oder eine Partei schlechte Arbeit macht. Daraus ergibt sich auch die politische Verantwortlichkeit von Politikern: Sie treffen Entschei­dungen nicht im luftleeren Raum, sondern sind gegenüber den Bürgern für ihre Entscheidun­gen verantwortlich.

Bürgerräte negieren diesen demokratischen Zusammenhang zwischen politischem Entschei­dungsrecht und politischer Verantwortlichkeit komplett. Bürgerräte sind von jeglicher politi­scher Verantwortlichkeit freigestellt; ihren Mitgliedern drohen keine negativen Konsequenzen, wenn sie beispielsweise etwas vorschlagen und erarbeiten, das kritik- oder ablehnungswürdig ist. Mehr noch: Wahrscheinlich sind die Beschlüsse der Bürgerräte ganz besonders gegen allzu scharfe Kritik immun, weil es sich dem Anschein nach nicht um Berufspolitiker handelt, sondern um „normale Bürger“, die man daher wohl mit einem milderen Maßstab behandeln muss. Gleichzeitig sind die Empfehlungen dieser Bürgerräte äußerst weitreichend und bean­spruchen eine hohe politische Legitimität für sich, s. o.

Kritik an Kosten

Abschließend sollte natürlich darauf hingewiesen werden, dass die Arbeit der Bürgerräte nicht kostenneutral ist und sie vom Steuerzahler mit erheblichen Summen finanziert werden müs­sen. So hat der „Bürgerrat Demokratie“ 1,4 Millionen Euro gekostet.14

II. Der Landtag stellt fest:

Die tragenden Säulen des demokratischen Systems in Nordrhein-Westfalen sind einerseits das Repräsentationsprinzip und der Parlamentarismus, andererseits die Volkssouveränität und die direkte Demokratie. Bürgerräte sind innerhalb dieses Systems kein angemessenes demokratisches Mittel der Bürgerbeteiligung.

III. Der Landtag beschließt:

Die Landesregierung wird aufgefordert, von ihren Planungen zur Einrichtung von Bürgerräten in Nordrhein-Westfalen Abstand zu nehmen.

Sven W. Tritschler
Klaus Esser
Dr. Martin Vincentz
Andreas Keith

und Fraktion

 

Antrag als PDF

 

1 „Letzte Generation“, GESELLSCHAFTSRAT + FRAGEN & ANTWORTEN, h t t p s : / / l e t z t e g e n e r a t i o n . d e/gesellschaftsrat/, abgerufen am 18. Februar 2023.

2 A.a.O.

3 A.a.O.

4 Mehr Demokratie e.V., Der Bürgerrat Demokratie – Überblick und Zusammenfassung, S. 6, h t t p s : / / w w w . b u e r g e r r a t . d e /fileadmin/downloads/buergerrat_ueberblick_zusammenfassung.pdf, abgerufen am 18. Februar 2023.

5 Mehr Demokratie e.V., So funktioniert das Losverfahren, h t t p s : / / d e m o k r a t i e . b u e r g e r

r a t . d e /buergerrat/buergerrat-auf-bundesebene/losverfahren/so-funktioniert-das-losverfahren/, ab­gerufen am 18. Februar 2023.

6 Mehr Demokratie e.V., Beirat, h t t p s : / / d e m o k r a t i e . b u e r g e r r a t . d e /ueber-uns/beirat/, abgerufen am 18. Februar 2023.

7 BürgerBegehren Klimaschutz e. V., Unsere Empfehlungen für die deutsche Klimapolitik, S. 17, h t t p

s : / / b u e r g e r r a t – k l i m a . d e /content/pdfs/BK_220214_Gutachten_Digital_Deutsch_RZ.pdf, abgerufen am 18. Februar 2023.

8 Deutscher Bundestag, Beteiligung durch Bürgerräte in der repräsentativen Demokratie, h t t p s : / / w w w . b u n d e s t a g . d e / dokumente/textarchiv/2022/kw47-forum-w-buergerraete-918446, abge­rufen am 18. Februar 2023.

9 CDU NRW und Grüne NRW, Zukunftsvertrag für Nordrhein-Westfalen, S. 90, h t t p s : / / g r u e n e – n r w . d e /dateien/Zukunftsvertrag_CDU-GRUeNE_Vorder-und-Rueckseite.pdf, abgerufen am 18. Februar 2023.

10 Bernstorff, Charlotte, Die Demokratieverstärker, h t t p s : / / w w w . d e u t s c h l a n d f u n k k u l t u r . d e /buergerraete-in-deutschland-die-demokratieverstaerker-100.html, abgerufen am 18. Februar 2023.

11 Mehr Demokratie e.V., Qualitätskriterien für Bürgerräte, h t t p s : / / w w w . b u e r g e r r a t . d e /wissen/qualitaetskriterien-fuer-buergerraete/, abgerufen am 18. Februar 2023.

12 Decker, Frank, Die Forderung nach mehr direkter Demokratie ist in Deutschland oft eine Alibiveran­staltung, h t t p s : / / w w w . n z z . c h/meinung/republik-der-buergerraete-die-forderung-nach-mehr-direkter-demokratie-ist-in-deutschland-oft-eine-alibiveranstaltung-ld.1604886, abgerufen am 18. Feb­ruar 2023.

13 BürgerBegehren Klimaschutz e. V., Die Vorbereitung, h t t p s : / / b u e r g e r r a t – k l i m a . d e / wie-laeuft-der-buergerrat-klima-ab/die-vorbereitung, abgerufen am 21. Februar 2023.

14 Mehr Demokratie e.V., Häufige Fragen, https://www.buergerrat.de/haeufige-fragen/, abgerufen am 21. Februar 2023.