Kleine Anfrage 21
der Abgeordneten Markus Wagner, Prof. Dr. Daniel Zerbin und Andreas Keith vom 14.06.2022
Polizei schießt Mann in Wuppertal nieder
Am Nachmittag des 5. Juni 2022 ging ein Notruf bei der Polizei ein, wonach ein Mann in Wuppertal-Elberfeld mit einem Messer Passanten bedrohe. Die alarmierten Beamten forderten den Mann auf, das Messer wegzulegen. Als dies nicht gelang, setzten sie Pfefferspray ein. Daraufhin zog der Mann eine Pistole und zielte damit auf die Beamten. Diese wiederum überwältigten den Angreifer mit einer Schussabgabe.1
Wir fragen die Landesregierung:
- Wie ist der Sachstand der polizeilichen und staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen zu dem oben genannten Vorfall? (Bitte Tatverdächtigen, Tathergang, Vorstrafen des Tatverdächtigen, Straftatbestände, Staatsbürgerschaft des Tatverdächtigen, Vornamen des deutschen Tatverdächtigen und sonstige polizeilichen Erkenntnisse über den Tatverdächtigen nennen)
- Wie viele Straftaten wurden seit 2019 in Nordrhein-Westfalen begangen, bei denen Handfeuerwaffen (tatsächliche und vermeintliche) verschiedenster Kategorien (z. B. Schreckschusswaffen, Scheinwaffen, Jagd- u. Sportwaffen etc.) als Tatmittel eingesetzt wurden?
- Welche Erkenntnisse liegen im Zusammenhang mit Handfeuerwaffenattacken über Täterprofile vor und wie oft waren insbesondere Jugendliche und Heranwachsende die Täter?
- In wie vielen Fällen mussten seit 2019 in Nordrhein-Westfalen im Dienst befindliche Polizeibeamte von ihrer Dienstwaffe Gebrauch machen? (Bitte nach Einsatzgrund, -ort und -datum aufschlüsseln)
Markus Wagner
Andreas Keith
Prof. Dr. Daniel Zerbin
Der Minister des Innern hat die Kleine Anfrage 21 mit Schreiben vom 11. Juli 2022 namens der Landesregierung im Einvernehmen mit dem Minister der Justiz beantwortet.
- Wie ist der Sachstand der polizeilichen und staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen zu dem oben genannten Vorfall? (Bitte Tatverdächtigen, Tathergang, Vorstrafen des Tatverdächtigen, Straftatbestände, Staatsbürgerschaft des Tatverdächtigen, Vornamen des deutschen Tatverdächtigen und sonstige polizeilichen Erkenntnisse über den Tatverdächtigen nennen)
Zur Beantwortung hat mir das Ministerium der Justiz mit Schreiben vom 28.06.2022 folgende Informationen zur Verfügung gestellt:
„Hierzu hat der Leitende Oberstaatsanwalt in Wuppertal dem Ministerium der Justiz unter dem 20.06.2022 Folgendes berichtet:
‚Am 05.06.2022 (Pfingstsonntag) kam es zu einem Polizeieinsatz mit Schusswaffengebrauch in Wuppertal. Dabei wurde eine Person erheblich verletzt.
I.
Gemäß den Angaben eines Zeugen hatte ein Mann (nachfolgend: der gesondert Verfolgte) am Nachmittag des 05.06.2022 in der Elberfelder Innenstadt Personen mit einem Messer bedroht. Nach Eintreffen der ersten Polizeibeamten gegen 16:50 Uhr forderten diese den besagten Mann unter Vorhalt der Schusswaffe auf, stehen zu bleiben. Dem kam er – auch nach Einsatz von Reizgas – nicht nach, sondern bewegte sich fußläufig weiter in eine Grünanlage. Auf das in sein Gesicht gesprühte Reizgas zeigte der gesondert Verfolgte keinerlei Reaktion.
Nach ersten Schilderungen der eingesetzten Polizeibeamten konnten sie zunächst die Hände des gesondert Verfolgten, der viele Taschen trug, nicht sehen. Allerdings nahmen sie mehrere Passanten nahe der Grünanlage wahr. Um den gesondert Verfolgten dazu zu bringen, stehenzubleiben, habe ein Polizeibeamter einen Warnschuss abgegeben. Der gesondert Verfolgte sei daraufhin stehen geblieben und habe sich in der Grünanlage auf eine Bank gesetzt. Dann habe er zwei Messer aus seinen Taschen geholt und diese in der Hand gehalten.
Aus den Schilderungen der Beamten sowie aus mehreren, das folgende Geschehen großenteils wiedergebenden Bodycamvideos ergibt sich, dass der gesondert Verfolgte sich zumindest eines der Messer zeitweise an den Hals und an den Mund hielt. Währenddessen trafen weitere Polizeibeamte ein. Sie positionierten sich ungefähr in einem Halbkreis im Abstand von zumindest ca. 10 Metern von dem gesondert Verfolgten entfernt und stellten eine Bedrohung mit Schusswaffen her.
Die Polizeibeamten kommunizierten verbal über mehrere Minuten mit dem gesondert Verfolgten. In dieser Zeit – so ist auch auf den Videoauf-zeichnungen zu hören – drohte er zumeist, sich zu töten und rief mehrfach „Erschießt mich doch!“. Allerdings sprach er auch eine entsprechende Drohung gegenüber den anwesenden Beamten aus und wurde ausfallend. Der mehrfach laut ausgesprochenen Aufforderung, die Messer abzulegen, kam der gesondert Verfolgte nicht nach. Nach einigen Minuten griff er in eine mitgeführte Tasche und holte ein sogenanntes Nunchaku heraus, dass er in Richtung einer Polizeibeamtin warf, ohne dass sie getroffen wurde.
Nachdem er auf weitere Ansprachen die Messer nicht ablegte, sondern in einen Rucksack griff, sagte – so ist auf einem Bodycamvideo zu hören – einer der Polizeibeamten: „der hat ne Schusswaffe im Rucksack“. Laut Aktenvermerk dieses Polizeibeamten habe er in der offenen Tasche das braune Griffstück einer Schusswaffe erkannt und dies lautstark den anderen Beamten mitgeteilt.
Auf dem Bodycamvideo ist zu hören, dass die Beamten den gesondert Verfolgten lautstark zum Niederlegen – offenbar der Waffe – aufforderten. In einem Vermerk eines Polizeibeamten heißt es dazu, die Waffe hätte der Verdächtige aus dem Rucksack gezogen; es habe sich aus Sicht des betreffenden Polizeibeamten um eine schwarze Pistole mit rötlicher Mündung gehandelt. Auch der Dienstgruppenleiter und eine weitere Polizeibeamtin gaben in ihren Aktenvermerken zum Geschehensablauf an, dass sie gesehen hätten, dass der gesondert Verfolgte eine Waffe gezogen und mit dieser sodann auf einen Polizeibeamten gezielt hätte. Anschließend sei ein lauter Knall zu vernehmen gewesen, woraufhin die zwischenzeitlich als Sicherungsschützen eingesetzten Beamtinnen und Beamten mehrere Schüsse abgegeben hätten.
Aufgrund der Ladezustände der von den drei Sicherungsschützen eingesetzten zwei MP5 sowie einer P99 ist derzeit von 11 abgegebenen Schüssen auszugehen: Ein Schuss durch eine Polizeibeamtin mit der Dienstpistole P99 sowie jeweils vier und sechs Schüsse durch den Polizeibeamten und die Polizeibeamtin mit der MP5.
Der gesondert Verfolgte erlitt nach einer Mitteilung des später behandelnden Arztes neun Schussverletzungen, fünf in die Schienbeine und beide Oberschenkel, jeweils einen Schuss in die Schulter und die Hüfte sowie zwei Schüsse in beide Hände.
Da der angeschossene gesondert Verfolgte dennoch auch auf lautstarke Aufforderung die Messer nicht aus der Hand, sondern sich auf die Bank legte, wirkten zwei weitere Polizeibeamte mit dem Einsatzmehrzweckstock auf den Verdächtigen ein, bis dieser die Messer fallen ließ.
Der gesondert Verfolgte wurde unmittelbar hiernach medizinisch erstversorgt, bis der herbeigerufene Notarzt und der Rettungswagen eintrafen. Anschließend wurde er in ein Krankenhaus gebracht. Dort wurde er operiert. Ein Versuch der Polizei, ihn am 08.06.2022 als Beschuldigten zu dem Sachverhalt zu vernehmen, ist aufgrund von ausfallenden Äußerungen und dem entsprechendem Verhalten des gesondert Verfolgten gescheitert.
Am Tatort konnte eine Anscheinswaffe, die der Beschreibung der Polizeibeamten entspricht (schwarz mit braunem Griff, orangefarbene/rote Mündung), aufgefunden werden. Es handelt sich hierbei um eine Nachbildung einer Schusswaffe aus Kunststoff ohne Funktion.
II.
Aufgrund des Anfangsverdachts zumindest einer versuchten gefährlichen Körperverletzung, des Verstoßes gegen das Waffengesetz, des Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte und der Bedrohung wurde polizeilicherseits ein Ermittlungsverfahren gegen den gesondert Verfolgten eingeleitet, welches hier noch nicht vorliegt. In diesem Verfahren wird zu prüfen sein, ob das auf den Videos erkennbare (ggf. psychisch bedingte) auffällige Verhalten des gesondert Verfolgten Anlass zu Maßnahmen gibt. Nach Aussage seines Betreuers konsumiere der gesondert Verfolgte regelmäßig Betäubungsmittel und werde schizophren, wenn er auf Entzug sei. Weiterhin gab der Betreuer an, dass sich der gesondert Verfolgte bislang jeglicher psychiatrischen Behandlung entzogen habe. Eine eilige Vorlage des Vorgangs an die hiesige Staatsanwaltschaft wurde angeordnet.
Das vorliegende Ermittlungsverfahren wegen des Anfangsverdachts der Körperverletzung im Amt richtet sich derzeit gegen die drei Polizeibeamten, welche die Schüsse auf den gesondert Verfolgten abgegeben haben. Die Polizeibeamten haben sich im hiesigen Ermittlungsverfahren als Beschuldigte bislang nicht zur Sache eingelassen.
In Bezug auf den Einsatz der Schlagstöcke durch die beiden weiteren Polizeibeamten ist derzeit kein Anfangsverdacht anzunehmen, sondern es ist von einer zulässigen Anwendung unmittelbaren Zwangs auszugehen. Sollten sich andere Anhaltspunkte ergeben oder Anzeige erstattet werden, wäre die Einleitung eines Verfahren gegen diese Beamten erneut zu prüfen.
III.
Bei dem gesondert Verfolgten handelt es sich um den 29-jährigen deutschen Staatsangehörigen Piotr Hubert M. Ausweislich des Bundeszentralregisterauszugs vom 17.06.2022 ist er wie folgt verurteilt.
Durch Urteil vom 21.03.2018 wurde er wegen Erschleichens von Leistungen in vier Fällen, Diebstahls in zwei Fällen, davon in einem Fall im Zustand verminderter Schuldfähigkeit, Körperverletzung in Tateinheit mit versuchter gefährlicher Körperverletzung im Zustand verminderter Schuldfähigkeit sowie Hausfriedensbruch zu einer Geldstrafe von 130 Tagessätzen verurteilt.
Am 26.02.2020 wurde er wegen Wohnungseinbruchdiebstahls im Zustand verminderter Schuldfähigkeit sowie Beleidigung zu einer Freiheitsstrafe von fünf Monaten und zwei Wochen verurteilt, die zur Bewährung ausgesetzt wurde. Die Strafaussetzung zur Bewährung wurde widerrufen, am 18.05.2021 wurde ein Strafrest zur Bewährung ausgesetzt. Die Bewährungszeit läuft bis zum 26.05.2024.
Durch Urteil des vom 30.11.2020 wurde er wegen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln zu einer Geldstrafe von 40 Tagessätzen verurteilt.
Am 12.01.2021 wurde er wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte zu einer Geldstrafe von 60 Tagessätzen verurteilt.
Wegen versuchten Diebstahls wurde er am 08.02.2021 zu einer Freiheitsstrafe von fünf Monaten, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde, verurteilt. Die Bewährungszeit läuft bis zum 26.05.2024.
Über weitergehende polizeiliche Erkenntnisse ist hier derzeit nichts bekannt.‘
Der Generalstaatsanwalt in Düsseldorf hat dem Ministerium der Justiz unter dem 24.06.2022 zu den noch andauernden Ermittlungen gegen den gesondert Verfolgten ergänzend u. a. Folgendes mitgeteilt:
‚Der Leitende Oberstaatsanwalt in Wuppertal hat ergänzend berichtet, der gesondert Verfolgte sei nach erfolgreich durchgeführter Operation derzeit nicht in Lebensgefahr und weiterhin stationär in einem Krankenhaus untergebracht. Dort sei der gesondert Verfolgte psychiatrisch mit dem Ergebnis untersucht worden, dass eine von diesem ausgehende Fremdgefährdung derzeit nicht feststellbar sei. Der die Ermittlungen gegen den gesondert Verfolgten betreffende polizeiliche Vorgang sei zwischenzeitlich eingegangen.‘“
Vorbemerkung der Landesregierung zur Beantwortung der Fragen 2 und 3:
Als Datenbasis für die Beantwortung der Fragen dient die Polizeiliche Kriminalstatistik Nordrhein-Westfalen (PKS NRW). Sie wird nach bundeseinheitlich festgelegten Regeln erstellt. Die Erfassung erfolgt nach Abschluss aller kriminalpolizeilichen Ermittlungen und führt häufig zu einem zeitlichen Versatz zwischen Bekanntwerden der Straftat und der statistischen Erfassung.
In der PKS NRW werden Schusswaffen als Tatmittel wie folgt erfasst:
- Pistole/Revolver
- Gewehr
- Gaswaffe/Schreckschusswaffe
- Luft- oder Federdruckwaffe
- sonstige Schusswaffe.
Das PKS-Tatmittel wird fallbezogen erfasst und kann nicht mit einem bestimmten Tatverdächtigen verknüpft werden.
Die Beantwortung der Fragen 2 und 3 berücksichtigt für das Jahr 2022 die statistischen Zahlen mit Stand vom 31.05.2022. Die PKS NRW ist eine Jahresstatistik. Die Darstellung unterjähriger Entwicklungen besitzt lediglich eine eingeschränkte Validität, da Qualitätssicherungsmaßnahmen nicht abschließend durchgeführt sind.
- Wie viele Straftaten wurden seit 2019 in Nordrhein-Westfalen begangen, bei denen Handfeuerwaffen (tatsächliche und vermeintliche) verschiedenster Kategorien (z. B. Schreckschusswaffen, Scheinwaffen, Jagd- u. Sportwaffen etc.) als Tatmittel eingesetzt wurden?
Die Anlage 1 führt die Anzahl der Fälle auf, in denen das Tatmittel Schusswaffe erfasst wurde.
- Welche Erkenntnisse liegen im Zusammenhang mit Handfeuerwaffenattacken über Täterprofile vor und wie oft waren insbesondere Jugendliche und Heranwachsende die Täter?
Die PKS NRW erfasst keine Täterprofile. Für die Erstellung von Täterprofilen bedarf es einer aufwändigen Analyse der Gesamtzahl der Fälle. Dies ist in der zur Beantwortung der kleinen Anfrage zur Verfügung stehenden Zeit nicht möglich.
Die Anlage 2 stellt dar, wie viele Tatverdächtige zu Fällen gemeldet wurden, in denen das Tatmittel Schusswaffe erfasst wurde. Aufgeführt wird die Anzahl von Jugendlichen, Heranwachsenden und Tatverdächtigen insgesamt.
- In wie vielen Fällen mussten seit 2019 in Nordrhein-Westfalen im Dienst befindliche Polizeibeamte von ihrer Dienstwaffe Gebrauch machen? (Bitte nach Einsatzgrund, -ort und -datum aufschlüsseln)
Im Jahr 2019 mussten in Nordrhein-Westfalen im Dienst befindliche Polizeivollzugsbeamtinnen und -beamte in insgesamt 1.632 Fällen von ihrer Schusswaffe Gebrauch machen.
In 12 Fällen wurden Warnschüsse abgegeben. In 11 Fällen wurden die Warnschüsse aufgrund von Notwehr/Nothilfe, Leibes- und Lebensgefahr in sonstigen Fällen und in einem Fall zur Fluchtvereitelung von Gefangenen abgegeben.
In 14 Fällen richtete sich der Schusswaffengebrauch aufgrund von Notwehr/Nothilfe, Leibes-und Lebensgefahr in sonstigen Fällen gegen Personen, in 1.606 Fällen gegen Sachen.
Im Jahr 2020 mussten in Nordrhein-Westfalen im Dienst befindliche Polizeivollzugsbeamtinnen und -beamte in insgesamt 1.688 Fällen von ihrer Schusswaffe Gebrauch machen.
In fünf Fällen wurden aufgrund von Notwehr/Nothilfe, Leibes- und Lebensgefahr in sonstigen Fällen Warnschüsse abgegeben.
In 20 Fällen richtete sich der Schusswaffengebrauch gegen Personen. Davon wurde aufgrund von Notwehr/Nothilfe, Leibes- und Lebensgefahr in sonstigen Fällen gegen Personen in 17 und zur Fluchtvereitelung von Gefangenen in drei Fällen von der Schusswaffe Gebrauch gemacht.
In 1.663 Fällen richtete sich der Schusswaffengebrauch gegen Sachen.
Im Jahr 2021 mussten in Nordrhein-Westfalen im Dienst befindliche Polizeivollzugsbeamtinnen und -beamte in insgesamt 1.958 Fällen von ihrer Schusswaffe Gebrauch machen.
In 10 Fällen wurden aufgrund von Notwehr/Nothilfe, Leibes- und Lebensgefahr in sonstigen Fällen Warnschüsse abgegeben.
In 20 Fällen richtete sich der Schusswaffengebrauch aufgrund von Notwehr/Nothilfe, Leibes-und Lebensgefahr in sonstigen Fällen gegen Personen, in 1.928 Fällen gegen Sachen.
Zum Einsatzort und -datum der Schusswaffengebräuche liegen keine landesweit zentral abrufbaren statistischen Angaben vor. Hierzu wäre eine landesweite anlassbezogene Abfrage in den 47 Kreispolizeibehörden nötig. Dies ist in der zur Beantwortung der Frage zur Verfügung stehenden Zeit nicht möglich.