Rettet die Handschrift – eine Offensive für die menschliche Kommunikation!

Antrag
vom 01.10.2019

Antragder AfD-Fraktion vom 01.10.2019

 

Rettet die Handschrift – eine Offensive für die menschliche Kommunikation!

I. Ausgangslage

Seit Jahren wird darüber diskutiert, ob das handschriftliche Schreiben im Zeitalter von Handys und Computern nicht längst verzichtbar geworden sei. Aus wissenschaftlicher Sicht steht zu­mindest fest, dass das Schreiben mit der Hand zunehmend durch die Nutzung digitaler Schreibgeräte ersetzt wird.1 Bereits im Jahre 2013 befanden 71 Prozent der zu diesem Thema befragten Deutschen, dass handverfasste Briefe keine Zukunft hätten.2

Dabei sind in diesem Zusammenhang zwei Fragen von besonderer Bedeutung:

1) Profitieren die Kinder beim Schreibenlernen mit Hilfe digitaler Geräte durch eine (motori­sche) Erleichterung?

2) Verankert sich das beim klassischen Erwerb schriftlich Erlernte oder Vertiefte genauso gut im Gehirn wie beim Erwerb mit neuen Medien?

Der wissenschaftliche Diskurs zeigt, dass Tippen bei Kindern mit geistigen oder körperlichen Einschränkungen oder bei spezifischen Lernschwierigkeiten beim Wissenserwerb hilfreich o­der unterstützend wirken kann.3 Auch konnte wissenschaftlich ein positiver Zusammenhang zwischen der Häufigkeit des Computergebrauchs und dem Buchstabenwissen bei Kindern nachgewiesen werden.4 Darüber hinaus konnte belegt werden, dass Texte, die Erstklässler am Computer schreiben, länger sind als handschriftlich verfasste.5

In Anbetracht dieser Forschungsergebnisse muss der Blick auf die kurz- und langfristigen Ef­fekte für den Menschen gerichtet werden, wobei vor allem die Intensität des Gebrauchs und der Nutzung des digitalen Mediums nicht außer Acht gelassen werden darf. Dieser vermeint­liche Effekt zeigte zum Beispiel, dass die Häufigkeit des Tippens auf Computern bei Erwach­senen mit reduzierter Feinmotorik einhergeht,6 sodass zumindest kein genereller Vorteil beim Tippen im Vergleich zum Handschreiben valide nachweisbar erscheint. Wie sich an zwei nach­folgenden Studien zeigen wird, ergeben sich erhebliche Diskrepanzen zwischen dem Abrufen von Wissen und dem Erzeugen komplexer Sachzusammenhänge bei den Probanden.

Der an der Universität Ulm tätige Psychologieprofessor Markus Kiefer beschäftigt sich mit der Chirografie, also mit dem Spezialgebiet der Alphabetisierung. Kiefer gehört zu den Verfechtern einer These, die besagt, dass die Art und Weise des Schreibenlernens Einfluss darauf habe, wie gut Kinder die neuhochdeutsche Schriftsprache letzten Endes beherrschen werden. Für einige seiner Kollegen, welche ausschließlich im Sinne einer digitalen Bildung argumentieren und diese auch kritiklos vorantreiben, gehört dessen Theorieansatz allerdings abgeschafft.

In einer Studie Kiefers mussten Kindergartenkinder Buchstaben erlernen.7 Die eine Hälfte von ihnen benutzten dazu Stift und Papier, die andere Hälfte arbeitete mit einer Computertastatur. Nach 16 Übungseinheiten wurden die Fortschritte der Vier- bis Sechsjährigen untersucht. Das Resultat der Studie zeigte, dass diejenigen Kinder, welche die Buchstaben mit Hilfe des Hand-schrifterwerbs erlernten, bessere Ergebnisse in den Rubriken „Buchstaben lesen“ und „Buch­stabendiktat“ erzielten. Besonders gut schnitten sie beim freien Schreiben von Buchstaben, beim Wörterlesen und beim Wörterschreiben ab. Lediglich beim Buchstabenerkennen schnit­ten die Kinder, die mit dem Laptop arbeiteten, minimal besser ab. Kiefer erklärte diesen Effekt mit der sinnlich-haptischen Erfahrung des Schreibens von Hand. Allgemeine Forschungen zum Schriftspracherwerb attestieren der Handschrift in Summe eine unerlässliche Notwendig-keit.8 Dies hängt unmittelbar mit der besseren Erkennung von Buchstaben durch die erhöhte Aktivität in motorischen Gehirnarealen zusammen.

Doch auch Forschungsreihen mit erwachsenen Probanden belegen einen deutlichen Effekt. Die Psychologen Pam Mueller und Daniel Oppenheimer untersuchten junge Erwachsene, und zwar Studenten nach einer Vorlesung. Getestet wurden sowohl Faktenwissen als auch das Verständnis für komplexe Zusammenhänge. Bei dem Faktenwissen schnitten beide Gruppen etwa gleich ab, jedoch zeigten sich eklatante Unterschiede bei den Verständnisfragen. Lap-topnutzer schnitten deutlich schlechter ab. Die Ursache wurde den Psychologen erst bei der Untersuchung der Notizen der Probanden klar. Studenten, die von Hand mitgeschrieben hat­ten, fassten die Inhalte in ihren eigenen Worten zusammen und stellten sogar Sinnbezüge her. Die tippenden Kommilitonen transkribierten das Gehörte wortwörtlich. Die Ergebnisse der Un­tersuchung waren eindeutig: „In three studies, we found that students who took notes on lap-tops performed worse on conceptual questions than students who took notes longhand.“9 Beim Tippen fehlen wichtige motorische und haptische Eindrücke der Handschriftnutzung, was für das Gehirn einen bedeutenden Unterschied darstellt.

Inwiefern und ob die Digitalisierung einen signifikanten Einfluss auf das Lernergebnis im All­gemeinen erzielt, wurde ebenfalls empirisch untersucht. Auch in diesem Bereich sind eindeu­tige Resultate festzustellen. Der Hochschulprofessor und Psychiater Manfred Spitzer fasst in seiner Stellungnahme für die Anhörung durch die Enquetekommission „Kein Kind zurücklas­sen – Rahmenbedingungen, Chancen und Zukunft schulischer Bildung in Hessen“ zum Thema „Digitalisierung“ die Ergebnisse großer empirischer Studien zu den Auswirkungen digitaler In­formationstechnik auf das Lernen von Schülern zusammen.10 Keine einzige Studie hat einen signifikant höheren Lernerfolg bei Benutzern digitaler Medien nachweisen können im Vergleich zu den nach „klassischen“ Methoden Lernenden. Lediglich eine randomisierte kontrollierte Stu­die konnte bei geringem Effekt bessere Leistungen durch den Computereinsatz nachweisen. Jedoch handelte es sich bei dem Forschungssample um 25-jährige Studenten (die selbst in ihrer Kindheit wahrscheinlich noch auf die klassische Art mit der Hand zu schreiben gelernt haben dürften).11 In Deutschland konnte bei begabten Schülern der 6. Klasse durch Lernen mit digitalen Medien eine Verbesserung im Bereich Mathematik nachgewiesen werden, wo­hingegen sich bei schwachen Schülern kein Effekt zeigte.12

Der Handschrift wird nicht nur durch die Digitalisierung ihre Berechtigung im Schulalltag aber­kannt. Sie ist vor allem auch das Opfer einer Geringschätzung dieser Kunst für den alltäglichen Gebrauch. Somit beschäftigt der Zustand der Handschrift deutscher Schüler bei weitem nicht nur Psychologen und Neurowissenschaftler.

Auch Lehrerverbände melden sich zunehmend zu Wort und verweisen auf die Gefahren, die hinter dem schwindenden Einsatz des manuellen Schreibens für die Gesamtleistung von Schülern lauern. Denn schließlich hat sich ein heftiger Wandel an deutschen Grundschulen vollzogen, der zur Folge hat, dass die Beherrschung der verbundenen Schreibschrift nicht län­ger zum selbstverständlichen Fähigkeitsrepertoire junger Schüler gehört. Diese Einschrän­kung gehört zur Misere des deutschen Bildungssystems, die ihren Ursprung im fast schon obligatorischen Einknicken der Schulpolitik gegenüber den Einflüssen pseudofortschrittlicher Pädagogik und ihrer unausgegorenen Konzepte hat.

Die STEP-Studie des Schreibmotorik-Instituts zeigt, dass sich die Handschrift sowohl im Pri­mar- als auch im Sekundarbereich enorm verschlechtert hat. Allein im Primarbereich wurde eine Verschlechterung der Handschrift mit einem Negativwert von rund 90 Prozent nachge­wiesen. Ähnlich alarmierend sieht es im Sekundarbereich aus. Auch der Zeitumfang be­schwerdefreien Schreibens fällt erschreckend aus. Nur zwei von fünf Schülern können länger als 30 Minuten beschwerdefrei schreiben. Dabei liegt NRW mit gerade einmal 36 Prozent flüs­siger Schreiber noch unter dem Bundesschnitt von 40 Prozent. Das ist ein alarmierendes Er­gebnis. Denn einher geht diese Verschlechterung mit einem rapiden Leistungsabfall im kogni­tiven Bereich.

Eine repräsentative Umfrage des Verbands für Bildung und Erziehung (VBE) zeigt die Ver­zweiflung der Lehrkräfte.13 89 Prozent der Lehrer geben an, dass sich die für einen gedeihli­chen Unterricht erforderlichen Kompetenzen von Grundschülern verschlechtert haben. Häufig zu beobachten sei insbesondere das unleserliche und zu langsame Schreiben. „Es geht dabei nicht in erster Linie ums Schönschreiben oder um eine Kulturtechnik, die heute mehr oder weniger verzichtbar erscheint. Handschreiben unterstützt die Rechtschreibung, das Lesen, das Textverständnis, letztlich die schulischen Leistungen insgesamt,“ erklärte die Geschäfts­führerin des gemeinnützigen Schreibmotorik-Instituts. Der Psychologe James W. Pennebaker, University of Texas in Austin, widmete sich bereits vor 30 Jahren einer therapeutischen Tech­nik namens „expressives Schreiben“. Seine Studien zeigen, dass diese Methode nicht nur zur Bewältigung von traumatischen Ereignissen dient, sondern darüber hinaus den Schlaf fördert und das Immunsystem stärkt.

Sichere Lese- und Rechtschreibfähigkeiten gelten in allen Gesellschaftsbereichen als wichtige Grundlagen für alle Kommunikationsprozesse und für die Entwicklung kultureller Kompeten­zen. Mehr noch: Sie gelten als Kernkompetenzen.

Die Rechtschreibleistungen deutscher und insbesondere nordrhein-westfälischer Schüler sind in den vergangenen Jahrzehnten jedoch wesentlich schlechter geworden, wie vergleichende Forschungsergebnisse zweifelsfrei zeigen. 14

Neben den zuvor thematisierten Gründen für diese Entwicklung ist zweifelsfrei eine weitere Ursache die Methode „Lesen durch Schreiben“ (auch „Schreiben nach Gehör“ oder „Phoneti­sches Schreiben“). Hierbei handelt es sich um eine um 1975 durch den Schweizer Lehrer Jürgen Reichen entwickelte Unterrichtsmethode für Grundschulen. Sie fußt auf dem von ihm propagierten „selbstgesteuerten Lernen“ und war in Form von Anlauttabellen ursprünglich nicht als Methode des Schreiben-Lernens, sondern als Methode des Lesen-Lernens gedacht. Weitere von Reichen in der Schweiz entwickelte didaktisch-methodische Unterrichtskonzepte des „Selbstgesteuerten Lernens“ galten und gelten als zu kompliziert und konnten sich nicht durchsetzen. Durch sein frühzeitiges Ausscheiden aus dem Schuldienst ist es dem Gründer dieser Methode verwehrt geblieben, die Misserfolge seiner Methode persönlich erleben zu können.

Das „Lesen durch Schreiben“ stellt nach den mittlerweile veröffentlichten Ergebnissen einer Studie der Universität Bonn15 jedoch keine erfolgreiche Methode des Lesenlernens (und damit auch des Schreibenlernens) dar. So machten Kinder, die mit „Lesen durch Schreiben“ unter­richtet wurden, „am Ende der vierten Klasse im Schnitt 55 Prozent mehr Rechtschreibfehler als [sog.] Fibelkinder“. Nicht ohne Grund ist es Schulen in Hamburg, Baden-Württemberg und Brandenburg verboten, die Rechtschreibung nach der genannten Methode „Lesen durch Schreiben“ zu vermitteln. Erfreulicherweise hat auch die Landesregierung in NRW die Abkehr von diesem umstrittenen Prinzip eingeleitet.

II. Der Landtag stellt fest:

1. Die Verdrängung der Handschrift wird durch Digitalisierungsentwicklungen in Schule und Unterricht möglicherweise weiter voranschreiten.

2. Demgegenüber weisen eine Reihe von wissenschaftlichen Studien eklatante Defizite beim Lernprozess nach, wenn digitale Medien ausschließlich und unter Vernachlässigung hand­schriftlicher Notationen genutzt werden.

3. Die Studien konnten nachweisen, dass die sinnlich-haptischen Erfahrung des Schreibens von Hand zu erhöhter Aktivität in den Gehirnarealen führen, welche die Feinmotorik der Hand steuern. Diese stimulieren wiederum die Gehirnareale, die für das Erkennen von Buchstaben und für die Gedächtnisleistung verantwortlich sind.

4. Auch Lehrergewerkschaften kritisieren deshalb die Vernachlässigung der Handschrift und des manuellen Schreibens. Sie weisen zurecht auf die Gefahr hin, dass sich deshalb die Gesamtlernleistung von Schülern vermindern kann.

5. Verschlechterung der Handschrift und Vernachlässigung des manuellen Schreibens ste­hen in unmittelbarer Korrelation zu andren schulischen Leistungen. Daher ist die ausge­prägte Handschrift eine wichtige Voraussetzung für schulischen Erfolg.

6. Die Landesregierung hat im Rahmen ihres Masterplans für die Grundschulen in unserem Land mit ihrer Abkehr von der Methode „Schreiben nach Gehör“ einen ersten Schritt in die richtige Richtung eingeschlagen und den Weg zu einer „Offensive für die Handschrift“ ge­ebnet.

III. Der Landtag fordert die Landesregierung auf, per Erlass folgende Maßnahmen an den Grundschulen des Landes verbindlich festzulegen:

1. dass die Wertschätzung gegenüber der handschriftlichen Schreibfähigkeit betont wird und deren hohe Bedeutung im Deutschunterricht wieder stärker Berücksichtigung findet;

2. dass die Schüler bereits in der 1. Klasse unmittelbar mit einer Form der verbundenen Schreibschrift Schreiben und Lesen lernen, wobei im Regelfall auf die lateinische Aus-gangschrift zurückgegriffen werden soll;

3. dass dementsprechend wieder Unterrichtsstunden für den Schönschreibunterricht in der Stundentafel bereitgestellt werden;

4. dass für die äußere Form einer Schülerleistung, zu der auch das Schriftbild zählt, verbind­liche Ziffernnoten ab Klasse 3 in der Grundschule gegeben werden;

5. dass Diktate und andere Schreibübungen wieder zum wichtigen Grundbestandteil des Deutschunterrichts werden.

Helmut Seifen
Markus Wagner
Andreas Keith

und Fraktion

 

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1 Für einen Überblick siehe dazu: Kiefer & Velay (2016); Mangen & Velay (2010); Radesky, Schuma-cher & Zuckerman (2015).

2 https://www.welt.de/gesundheit/plus185944906/Handschrift-Wieso-Schreiben-mit-der-Hand-gut-fuer-das-Gehirn-ist.html (abgerufen am 06.08.2019).

3 Vgl. Calhoun (1985) und Berninger et al. (2015).

4 Vgl. Castles et al. (2013).

5 Vgl. Hultin & Westman (2013).

6 Vgl. Sulzenbrück et al. (2011); Heuer (2016).

7 Kiefer et al. (2015): Handwriting or typewriting? The influence of pen- or keyboard-based writing training on reading and writing performance in preschool children

8 Review von Wollscheid et al. (2016)

9 Pam A. Mueller and Daniel M. Oppenheimer: „The Pen Is Mighter Thant he Keysboard: Advantages of Longhand Over Laptop Note Taking.“ In: Psychological Science Online First, 2014, S. 1-10.

10 Prof. Manfred Spitzer, Stellungnahme „Risiken und Nebenwirkungen digitaler Informationstechnik“, Hessischer Landtag, 14,10.2016, S. 3.

11 Vgl. Fairlie R.; London R. (2012): “The Effects of Home Computers on Educational Outcomes: Evi-dence from a Field Experiment with Community College Students. Economic Journal 122: 727-753.

12 Vgl. Scharnagl S. et al. (2014): „Sixth Graders Benefit from Educational Software when Learning about Fractions: A controlled Classroom study.”

13 https://www.welt.de/wirtschaft/karriere/bildung/article191585215/Handschrift-So-schlecht-sind-deut-sche-Schueler.html (abgerufen am 06.08.2019).

14 Wolfgang Steinig (Siegen)/Dirk Betzel: Schreiben Grundschüler heute schlechter als vor 40 Jahren? Uwe Grund: Vergleichende Studien zu Rechtschreibleistungen in Schülertexten vor und nach der Rechtschreibreform. Erste Ergebnisse und Desiderate der Forschung (Freiburg i.Br.) 2014

15 Tobias Kuhl & Una M. Röhr-Sendlmeier: Rechtschreiberfolg nach unterschiedlichen Didaktiken – eine kombinierte Längsschnitt-Querschnittstudie in der Grundschule. 2018