Kleine Anfrage 627
des Abgeordneten Markus Wagner vom 17.10.2022
Syrer, Iraker und Algerier: Neue Clanstrukturen in Nordrhein-Westfalen? – Nachfrage
Mit Antwort der Landesregierung vom 29. August 2022, Drucksache 18/708, auf unsere Kleine Anfrage vom 2. August 2022, Drucksache 18/402, hat die Landesregierung auf die von uns gestellten Fragen 1 und 2
„Wie viele Clanstrukturen oder clanähnliche, auf kriminellen Märkten operierende Personenzusammenschlüsse, die sich beispielsweise aus syrischen und irakischen Zuwanderern – teils mit aktuellen Kriegserfahrungen (vgl. dazu LKA NRW (2019): Clankriminalität – Lagebild NRW 2018, Düsseldorf, S. 24 Abs. 4) – rekrutieren und dezidiert nicht den Strukturen krimineller Angehöriger türkisch-libanesischstämmiger Clanfamilien mit Mahallmyie-Bezug zuzurechnen sind, sind der Landesregierung landesweit bekannt?“1
„Wie viele (gewalttätige) Konflikte zwischen kriminellen Angehörigen türkisch-libane-sischstämmiger Clanfamilien mit Mahallmyie-Bezug und Personengruppen anderer ethnischer Herkunft sind der Landesregierung in Nordrhein-Westfalen bis zum Zeitpunkt der Anfrage bekannt geworden?2
Folgendes geantwortet:
„Statistische Erhebungen im Sinne der Fragestellung liegen nicht vor.“3
Dies verwundert sehr, da bereits von KEEAS (Kriminalitäts- und Einsatzbrennpunkte geprägt durch ethnisch abgeschottete Subkulturen) 2018 darauf hingewiesen wurde, dass
„die Polizei und die Justiz […] auch in Zukunft aufgrund des hohen Abschottungsgrades innerhalb der Familienclans, eines hohen Mobilisierungspotentials, der aufgrund hoher Geburtenrate weiter steigenden Zahl der Clanmitglieder und der Ablehnung deutscher Gesetze und Normen vor besondere Herausforderungen gestellt“ werden.4
„Ebenfalls wird von der Zusammenarbeit der Familienclans mit aus Albanien stammenden Organisationen berichtet. Perspektivisch ist eine zunehmend polykriminelle und insbesondere ethnienübergreifende Kooperation mit anderen kriminellen Organisationen wahrscheinlich. Dabei sind Auseinandersetzungen um kriminelle Märkte zu erwarten, die sich auch in öffentlich wahrnehmbaren Gewaltaktionen dokumentieren werden.“ Es gab bereits Hinweise, die „auf sich verstärkende Konflikte mit kriminellen Angehörigen von in Deutschland ansässigen irakischen, palästinensischen und syrischen Großfamilien“ hindeuteten. „Die weiterhin hohen Gewinnpotentiale, insbesondere der Markt illegaler Betäubungsmittel, lassen Verteilungskämpfe zwischen türkisch‐arabischstämmigen Familienclans und anderen sich neu etablierenden arabischstämmigen Strukturen erwarten.“5
Außerdem verweist bereits der Bericht über die Clankriminalität – Lagebild NRW 2018 auf Folgendes:
„Die kriminellen Angehörigen türkisch-arabischstämmiger Familienverbände sehen sich in den letzten Monaten einem Verdrängungswettbewerb um kriminelle Märkte ausgesetzt, der durch Personen mit Herkunft aus Syrien bzw. dem Irak forciert scheint. Diese konkurrierenden Gruppierungen werden – auch vor dem Hintergrund teilweise aktueller Kriegserfahrungen – im Milieu als besonders durchsetzungsstark und gewalttätig wahrgenommen.“6
Des Weiteren wurde auf unsere Frage:
„Wie beabsichtigt die Landesregierung die Implementierung einer gesonderten statistischen Erfassung von Rückführungen von kriminellen Clanangehörigen mit ausländischer Staatsangehörigkeit zu realisieren?“7
wie folgt geantwortet:
„Im Rahmen des durch das Ministerium für Kinder, Jugend, Familie, Gleichstellung, Flucht und Integration etablierten Fallmanagements Nordrhein-Westfalen wird die Zusammenarbeit mit dem Ministerium des Innern sowie dem Landeskriminalamt Nordrhein-Westfalen im Rahmen einer erweiterten Sicherheitskooperation mit dem Fokus auf ausländische Mehrfach- und Intensivtäter sowie organisierte kriminelle Strukturen kontinuierlich ausgebaut.
Neben diesem operativen Handlungsansatz ist die Implementierung einer gesonderten statistischen Erfassung von Rückführungen von straffälligen Clanangehörigen mit ausländischer Staatsangehörigkeit derzeit nicht vorgesehen.“8
Obschon es in ihren eigenen Berichten heißt, dass aufenthaltsbeendende Maßnahmen angewandt werden sollten. So heißt es zum Beispiel im Lagebild NRW 2018, dass Behörden betonen,
„dass aufenthaltsbeendende Maßnahmen auch im Einzelfall im Millieu der Clanfamilien eine nicht zu unterschätzende Signalwirkung ausüben.“9
Auch KEEAS verweist darauf:
„deutliche generalpräventive und kriminalitätsbegrenzende Wirkungen gegenüber dieser Personengruppe dürften in erster Linie aufenthaltsbeendende Maßnahmen haben.“10
Darüber hinaus wurden unsere Fragen 3 und 4
„Kann die Landesregierung einen Kausalzusammenhang zwischen massenhafter Zuwanderung aus dem arabischen Raum und der Genese neuer Clanstrukturen erkennen?“11
„Wie bewertet die Landesregierung die sich abzeichnende Entwicklung aus migrations- und sicherheitspolitischer Perspektive?“12
aufgrund des Sachzusammenhangs wie folgt gemeinsam beantwortet:
„Die den Fragestellungen zugrundeliegenden Prämissen werden von der Landesregierung nicht geteilt.“13
Ich frage daher die Landesregierung:
- Warum wurde bisher noch nicht mit einer statistischen Erhebung von nicht-türkischarabischen Clans, wie zum Beispiel solchen mit Bezug zu syrischen, irakischen, nigerianischen oder anderweitigen familiär-ethnischen Hintergründen, begonnen?
- Ab wann ist damit zu rechnen, dass eine statistische Erhebung im Sinne von Frage 1 eingeführt wird?
- Warum teilt die Landesregierung in ihrer Antwort nicht die den oben vorbezeichneten Fragen 3 und 4 zugrundeliegenden Prämissen, wonach es einen offenkundigen Zusammenhang zwischen der Zuwanderung und der türkisch-arabischen, aber auch syrisch-irakischen und nigerianischen Clankriminalität gibt?
- Warum ist die Implementierung einer gesonderten statistischen Erfassung von Rückführungen von straffälligen Clanangehörigen mit ausländischer Staatsangehörigkeit nicht vorgesehen, obwohl diese Thematik ein hohes öffentliches Interesse aufweist?
- Ist der Landesregierung nicht daran gelegen, durch eine gesonderte statistische Erfassung von Rückführungen von straffälligen Clanangehörigen mit ausländischer Staatsangehörigkeit eine Erfolgsbilanz vorzuweisen?
Markus Wagner
1 Vgl. Drs. 18/708, S. 2.
2 Ebenda.
3 Ebenda.
4 Vgl. KEEAS, 2018, S. 27.
5 Vgl. KEEAS, 2018, S. 23.
6 Vgl. Clankriminalität – Lagebild NRW 2018, S. 24.
7 Vgl. Drs. 18/708, S. 2.
8 Ebenda.
9 Vgl. Clankriminalität – Lagebild NRW 2018, S. 24.
10 Vgl. KEEAS, 2018, S. 22.
11 Drs. 18/708, S. 2.
12 Ebenda.
13 Ebenda.
Der Minister des Innern hat die Kleine Anfrage 627 mit Schreiben vom 11. November 2022 namens der Landesregierung im Einvernehmen mit der Ministerin für Kinder, Jugend, Familie, Gleichstellung, Flucht und Integration beantwortet.
- Warum wurde bisher noch nicht mit einer statistischen Erhebung von nichttürkisch-arabischen Clans, wie zum Beispiel solchen mit Bezug zu syrischen, irakischen, nigerianischen oder anderweitigen familiär-ethnischen Hintergründen, begonnen?
- Ab wann ist damit zu rechnen, dass eine statistische Erhebung im Sinne von Frage 1 eingeführt wird?
Die Fragen 1 und 2 werden aufgrund des Sachzusammenhangs gemeinsam beantwortet.
Eine anlasslose statistische Erhebung von familiären Strukturen ohne Bezug zur Strafverfolgung oder Gefahrenabwehr ist von den Aufgaben und Befugnissen der Polizei Nordrhein-Westfalen nicht umfasst.
Das Landeskriminalamt Nordrhein-Westfalen (LKA NRW) erstellt öffentlich zugängliche statistische Lagedarstellungen zu bestimmten Kriminalitätsphänomenen (z. B. Organisierte Kriminalität, Rauschgiftkriminalität) oder zur Kriminalität bestimmter Personengruppen (z. B. Jugendkriminalität). Voraussetzung ist eine landesweite Bedeutung des jeweiligen Kriminalitätsphänomens oder der Kriminalität der jeweiligen Personengruppe.
Erkenntnisse hinsichtlich einer solchen landesweiten Bedeutung wurden mit dem Projekt KEEAS (Kriminalitäts- und Einsatzschwerpunkte ethnisch abgeschotteter Subkulturen) in Bezug auf die Kriminalität einer bestimmten Personengruppe publiziert und infolgedessen wurde das „Lagebild Clankriminalität NRW 2018“ veröffentlicht. Den spezifischen Auswertungen zum Thema Clankriminalität lagen Hinweise aus den Kreispolizeibehörden zugrunde, wonach Personen unter besonderer Einbindung ihres Familienverbundes zunehmend in die Begehung von Straftaten – insbesondere im Kontext der Betäubungsmittelkriminalität – involviert waren. Aggressives Auftreten in der Öffentlichkeit und daraus resultierende Tumultlagen erschwerten bzw. gefährdeten polizeiliches Handeln und beeinträchtigten zudem das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung. In erster Linie waren Personen aus der Volksgruppe der Mhallamiye oder aber mit Bezügen zum Libanon diesbezüglich auffällig.
Ziel der statistischen Lagedarstellung in Bezug auf Clankriminalität war und ist es daher, eine Basis für eine allgemeine Einschätzung der von türkisch-arabischstämmigen Großfamilien ausgehenden Kriminalität zu schaffen und regionale sowie phänomenologische Schwerpunkte zu erkennen, ohne zu stigmatisieren.
Auch die Kriminalität von Personen, die nicht der türkisch-arabischen Clankriminalität zugerechnet werden, findet Eingang in spezifische statistische Lagedarstellungen, z.B. in die Lagebilder zur Organisierten Kriminalität oder zur Rauschgiftkriminalität.
Die Kriminalitätsentwicklung ist Gegenstand fortlaufender Auswertungen der Polizei Nordrhein-Westfalen. Lagedarstellungen, auch im Kontext der Bekämpfung Organisierter Kriminalität, werden unter Berücksichtigung kriminalfachlicher Erfordernisse regelmäßig aktualisiert und angepasst. Die statistische bzw. kriminalistische Relevanz der Kriminalität anderer, ebenfalls aus clanähnlichen Strukturen heraus agierender Personengruppen, rechtfertigen aus polizeilicher Sicht aktuell keine Erweiterung der in Nordrhein-Westfalen gewählten Schwerpunktsetzung mit Blick auf die Erstellung polizeilicher statistischer Lagedarstellungen. Dies bezieht sich sowohl auf eine Erweiterung des Lagebildes Clankriminalität um andere Personengruppen als auch die Erstellung spezifischer Lagebilder zu anderen Phänomenen.
3. Warum teilt die Landesregierung in ihrer Antwort nicht die den oben vorbezeichneten Fragen 3 und 4 zugrundeliegenden Prämissen, wonach es einen offenkundigen Zusammenhang zwischen der Zuwanderung und der türkischarabischen, aber auch syrisch-irakischen und nigerianischen Clankriminalität gibt?
Empirische Erhebungen im Sinne der Prämissen sind der Landesregierung nicht bekannt.
4. Warum ist die Implementierung einer gesonderten statistischen Erfassung von Rückführungen von straffälligen Clanangehörigen mit ausländischer Staatsangehörigkeit nicht vorgesehen, obwohl diese Thematik ein hohes öffentliches Interesse aufweist?
5. Ist der Landesregierung nicht daran gelegen, durch eine gesonderte statistische Erfassung von Rückführungen von straffälligen Clanangehörigen mit ausländischer Staatsangehörigkeit eine Erfolgsbilanz vorzuweisen?
Zur Beantwortung der Fragen 4 und 5, die aufgrund des Sachzusammenhangs gemeinsam beantwortet werden, hat mir das Ministerium für Kinder, Jugend, Familie, Gleichstellung, Flucht und Integration des Landes Nordrhein-Westfalen folgenden Beitrag übersandt:
„Seit Einrichtung des Fallmanagements Nordrhein-Westfalen durch das ehemalige Ministerium für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration im Jahr 2018 haben die Regionalen Rückkehrkoordinationsstellen (RRK) bei den fünf Bezirksregierungen insgesamt 1.993 Fälle ausländischer strafrechtlich auffälliger Personen sowie ausländischer Personen mit erheblich negativem Sozialverhalten durch Fallkonferenzen begleitet. Davon konnten 838 Fälle aus dem Fallmanagementspektrum erfolgreich abgeschoben werden (Stand 31.08.2022). Zu diesen bezüglich der Fallmanagementbegleitung erfassten Fälle kommen sonstige Abschiebungen von strafrechtlich auffälligen Personen durch die zuständigen örtlichen Ausländerbehörden hinzu, die statistisch nicht gesondert erfasst werden.
Die Einführung einer gesonderten statistischen Erfassung von Rückführungen straffälliger Clanangehöriger mit ausländischer Staatsangehörigkeit wäre insbesondere mit einem erheblichen Mehraufwand für die landesweit beteiligten Behörden verbunden. Dieser würde in Relation zu dem potentiellen Nutzen außer Verhältnis stehen.
Im Rahmen des Fallmanagements Nordrhein-Westfalen soll vielmehr die Zusammenarbeit mit dem Ministerium des Innern sowie dem Landeskriminalamt Nordrhein-Westfalen im Rahmen einer erweiterten Sicherheitskooperation mit dem Fokus auf ausländische Mehrfach- und Intensivtäter sowie organisierte kriminelle Strukturen im operativen Bereich kontinuierlich fortgeführt werden.“