Kleine Anfrage 2241
des Abgeordneten Carlo Clemens AfD
Wohnungsbedarfsprognose für Nordrhein-Westfalen – Sachstand und Handlungsbedarf gegen die Wohnungsnot
Vorbemerkung der Kleinen Anfrage
In der im Auftrag der letzten Landesregierung erstellten Wohnungsbedarfsprognose des Ge-wos-Institutes aus dem Jahr 2020 (Vorlage 17/4113) wurde der Neubedarf an Wohnungen in Nordrhein-Westfalen bis 2040 ermittelt: Danach bestehe im Zeitraum 2018–2040 ein zusätzlicher Bedarf von durchschnittlich 45.860 neuen Wohnungen pro Jahr (Szenario 0), wobei der Bedarf bis 2025 auf 51.210 neue Wohnungen geschätzt wurde. Für das Szenario 2 (Fachkräftezuwanderung) wurde ein zusätzlicher Bedarf von 3.690 Wohnungen p. a. ermittelt.
Der notwendige jährliche Neubau im gesamten Zeitraum setzt sich für das Szenario 0 zusammen aus den quantitativen Neubaubedarfen von rund 30.900 Wohneinheiten pro Jahr und einer qualitativen Neubaunachfrage von rund 14.960 Wohneinheiten pro Jahr. Das bedeutet, dass bis 2040 der Bau von mehr als einer Million Wohnungen in NRW als erforderlich angesehen werde.1 Der quantitative Neubaubedarf über den gesamten Zeitraum setzt sich zusammen aus 31.920 Wohneinheiten Nachholbedarf, 313.030 Wohneinheiten Zusatzbedarf (De-mografie), 9.680 Wohneinheiten Fluktuationsreserve und 325.270 Wohneinheiten Ersatzbedarf (Abgang, Abriss).
Der Wanderungssaldo p. a. im Szenario 0 wurde im Prognosezeitraum wie folgt angenom-men2:
- 2018–2020: +58.000,
- 2021–2029: +60.000,
- ab 2030: +55.000 Personen
Im Szenario 2 (Fachkräftezuwanderung) wurde ein jeweils um 9.000 Personen p. a. höherer Wanderungssaldo angenommen. Für den Zeitraum 2018–2022 ergibt sich laut Szenario 0 der Prognose ein kumulierter Wanderungssaldo von 294.000 Personen. Der tatsächliche Wanderungssaldo lag aber in diesem Zeitraum bei 453.168 Personen.3 Das ist eine Überschreitung um 54 Prozent oder 159.168 Personen und entspricht mittelfristig ca. 80.000 zusätzlichen Haushalten mit einem entsprechenden Wohnungsbedarf. Gegenüber dem Szenario 2 ergibt sich eine Überschreitung um 114.168 Personen oder 39 Prozent.
Es zeichnet sich ab, dass die Bautätigkeit selbst den ursprünglichen – viel zu niedrigen – auf knapp 46.000 Wohnungen geschätzten Bedarf immer weniger erfüllen kann – mit der Folge, dass sich die Bedarfslücke im Verlauf immer weiter erhöhen wird:
- Die Wohnungsfertigstellungen in NRW haben 2020 und 2021 jeweils knapp 50.000 betragen, sind aber in 2022 um 4,4 Prozent auf 47.354 Einheiten zurückgegangen,4 während sie bundesweit noch um 0,6 Prozent gestiegen sind.5
- Die Wohnungsbaugenehmigungen sind in NRW 2022 um 3,0 Prozent gefallen.6 Im Zeitraum Januar bis Mai 2023 sind sie um 34,5 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum zurückgegangen7 (bundesweiter Rückgang -27 Prozent).
- Der Bauüberhang betrug zum Jahresende 2022 118.783 Wohnungen. 38 Prozent der genehmigten Wohngebäude waren noch nicht begonnen.8
- Der Auftragseingang im Wohnungsbau NRW lag im ersten Quartal 2023 um 6,4 Prozent unter dem Wert desselben Vorjahresquartals (bundesweiter Rückgang 2,7 Prozent).9
- Die Länderexperten des EUROCONSTRUCT-Netzwerks erwarten bis 2025 einen Rückgang der Wohnungsfertigstellungen in Deutschland um 31,8 Prozent gegenüber 2021 auf dann nur noch 200.000 Wohneinheiten.10
- Das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans-Böckler-Stif-tung geht davon aus, dass im schlechtesten Fall im Jahr 2023 nur 223.000 Wohneinheiten in Mehr- und Einfamilienhäusern fertig werden. Für 2024 hält das IMK einen weiteren Rückgang auf 177.000 Wohnungen für möglich.
- Der Bundesverband deutscher Wohnungs- und Immobilienunternehmen (GdW) schätzte Anfang Juli die Zahl der 2023 bundesweit fertiggestellten Wohnungen auf etwas mehr als 240.000 Einheiten und erwartet für 2024 etwa 214.000 neue Wohnungen.
Die Wohnungsbedarfsprognose von 2020 hat die tatsächliche demografische Entwicklung also weit unterschätzt und es ist außerdem mit einem deutlichen Rückgang der Wohnungsfertigstellungen bis 2025 zu rechnen. Diese Entwicklungen treffen auf in Teilräumen NRWs bereits höchst angespannte Wohnungsmärkte:
- Nach dem Wohnungsmarktbericht NRW 2022 hat sich der Anstieg der Wiedervermietungsmieten in NRW zuletzt mit steigender Dynamik fortgesetzt (+ 3,2 Prozent im ersten Halbjahr 2022). Seit 2011 ist die mittlere Wiedervermietungsmiete insgesamt um 2,11 Euro auf über 8 Euro je m2 gestiegen (+ 35 Prozent). Nach einer Analyse von JLL haben die mittleren Angebotsmieten seit dem ersten Halbjahr 2022 weiter angezogen. In Köln lag die Angebotsmiete im ersten Halbjahr 2023 im Mittel bei 14,80 Euro und in Düsseldorf bei 13,00 Euro (plus 28 bzw. plus 17 Prozent in den letzten fünf Jahren).11
- Der Wohnungsleerstand auf Basis der Bewirtschaftungsdaten von CBRE liegt NRW-weit inzwischen deutlich unter 3 Prozent – in den Brennpunkten des Wohnungsbedarfs noch deutlich darunter: Düsseldorf 1,4 Prozent, Köln 1,0 Prozent und Münster 0,3 Prozent (Angaben jeweils für 2021). Insbesondere erschwingliche Wohnungen im mittleren und unteren Preissegment sind äußerst knapp.
- Nach einer repräsentativen infratest-dimap-Umfrage im Auftrag des WDR sind die Wohnkosten in den vergangen drei Jahren für jeden zweiten Haushalt in NRW stark bzw. sehr stark gestiegen. Fast jeder dritte Befragte gab an, sich wegen der höheren Wohnungskosten stark bzw. sehr stark einschränken zu müssen.12
Die Ministerin für Heimat, Kommunales, Bau und Digitalisierung hat die Kleine Anfrage 2241 mit Schreiben vom 28. August 2023 namens der Landesregierung beantwortet.
- Wie hoch schätzt die Landesregierung den zusätzlichen demografisch bedingten Wohnungsbedarf aus der eingetretenen deutlichen Überschreitung der in der Wohnungsbedarfsprognose des Gewos-Institutes angenommenen Wanderungszahlen für den Zeitraum 2018–2022 ein? (Bitte insgesamt und p. a. bis 2040 angeben)
In den Jahren 2018 bis 2021 lag die Bilanz der Zu- und Fortzüge im Land Nordrhein-Westfalens mit durchschnittlich + 42.000 Menschen niedriger als die + 58.000 (2018 bis 2020) bzw. + 60.000 (2021 ff.) Personen, von denen der Landesbetrieb IT.NRW in der Bevölkerungsvo-rausberechnung 2018 bis 2050 ausgeht. Im Jahr 2020 konnte der Nettozuzug das Geburtendefizit Nordrhein-Westfalens nicht wie sonst ausgleichen. Infolge des Angriffs Russlands auf die Ukraine stieg der Wanderungssaldo im Jahr 2022 auf + 283.000 Menschen. Dies bedeutet zumindest aktuell einen erheblichen Mehrbedarf gegenüber der GEWOS-Berechnung.
- Wie schätzt die Landesregierung angesichts der vorliegenden Prognosen und Frühindikatoren die weitere Entwicklung der Wohnungsfertigstellungen in NRW bis 2025 ein? (Bitte nach Möglichkeit die absolute und prozentuale Veränderung gegenüber 2022 beziffern)
Angesichts der Gesamtsituation steht die Planung von Neubauvorhaben sowie von Nachver-dichtungspotentialen unter einem erheblichen wirtschaftlichen Druck. Dies ist auch ablesbar in den Baugenehmigungszahlen und den Baufertigstellungszahlen. Des Weiteren gibt es im Land Nordrhein-Westfalen einen hohen Bauüberhang bereits genehmigter, aber nicht begonnener Bauvorhaben. Auch hierauf wirkt die aktuelle Gesamtsituation aus volkswirtschaftlichen Parametern in Verbindung mit bundes- und europapolitischen Unsicherheiten in der Frage der künftigen Ausgestaltung energetischer Versorgungen von Städten, Wohnvierteln bis hin zum einzelnen Wohngebäude. Immobilien- und Bauwirtschaft brauchen sichere Planungsumgebungen, da es sich um Branchen mit langfristigen Investitionszyklen handelt.
- Welche voraussichtlichen Folgen hätte ein schrittweiser, linearer Rückgang der Wohnungsfertigstellungen in NRW auf ein Niveau von 35.000 im Jahr 2025 bei einem Wanderungssaldo von +69.000 Personen jährlich für die Marktsituation an den Wohnungsmärkten, insbesondere für die Angebotsmieten und die Entwicklung des marktaktiven Leerstandes? (Angaben bitte für NRW insgesamt sowie im Einzelnen für die Städte ab 300.000 Einwohner)
Ein starker Rückgang der Bautätigkeit würde erfahrungsgemäß zu einer weiteren Marktanspannung beitragen und auch die Angebotsmieten weiter steigen lassen.
- Welche Maßnahmen plant die Landesregierung, um die weitere Verschärfung der Wohnungsnot in NRW abzumildern?
Die Landesregierung hat mit den Bestimmungen für den öffentlichen Wohnungsbau, die zu Beginn des Jahres 2023 veröffentlicht worden sind, proaktiv – das Marktumfeld aufnehmend – strukturelle Änderungen in der öffentlichen Wohnraumförderung des Landes vorgenommen. Gleichsam wurden Änderungen an Programmen der landeseigenen Förderbank proaktiv zum Jahresanfang 2023 vorgenommen. Des Weiteren stehen mit zwei Sonderprogrammen Unterstützungen für weitere Abfederungen marktseitiger Belastungen zur Verfügung.
- Wann plant die Landesregierung einen Auftrag für eine neue Wohnungsbedarfs-prognose zu vergeben?
Eine neue Prognose erscheint dann sinnvoll, wenn abgesehen von Einzeljahreseffekten der Wanderungssaldo dauerhaft von der Bevölkerungsprognose des Landesbetriebes IT.NRW abweicht.
1 Ergebnisbericht: Wohnungsmarktgutachten über den quantitativen und qualitativen Wohnungsneu-baubedarf in Nordrhein-Westfalen bis 2040, online unter: https://www.landtag.nrw.de/por-tal/WWW/dokumentenarchiv/Dokument/MMV17-4113.pdf.
2 Methodenbericht Wohnungsmarktgutachten über den quantitativen und qualitativen Wohnungsneu-baubedarf in Nordrhein-Westfalen bis 2040, ebd.
3 Information und Technik Nordrhein-Westfalen: Gesamtwanderungen 2013-2022, https://www.it.nrw/node/510/pdf.
4 Statistische Berichte Baufertigstellungen und Bauabgänge in Nordrhein-Westfalen 2022, https://webshop.it.nrw.de/gratis/F229%20202200.pdf.
5 Pressemitteilung des Statistischen Bundesamtes Nr. 199 vom 23. Mai 2023: 0,6 % mehr neue Wohnungen im Jahr 2022, https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilun-gen/2023/05/PD23_199_31121.html.
6 IT.NRW Pressemitteilung: 076 / 23 v. 14.03.2023, https://www.it.nrw/nrw-30-prozent-weniger-bau-genehmigungen-fuer-wohnungen-im-jahr-2022-120524.
7 Statistische Berichte Baugenehmigungen in Nordrhein-Westfalen Mai 2023, https://webshop.it.nrw.de/gratis/F209%20202305.pdf.
8 Statistische Berichte Bauüberhang in Nordrhein-Westfalen am 31. Dezember 2022, https://webshop.it.nrw.de/gratis/F239%20202200.pdf.
9 Bauindustrie Nordrhein-Westfalen: Schnell-Info zur Baukonjunktur, Stand 29.06.2023, Berichtsmonat April 2023.
10 Dorffmeister, L.: Europäisches Bauvolumen wird bis 2024 moderat schrumpfen: Ausgewählte Ergebnisse der EUROCONSTRUCT-Sommerkonferenz 2023, in: ifo Schnelldienst 7 / 2023 76. Jahrgang 12. Juli 2023, S. 72-75.
11 JLL-Pressemitteilung v. 25.07.2023: Angebotsmieten für Berliner und Leipziger Wohnungen legen zweistellig zu: Inserierte Kaufpreise für Eigentumswohnungen geben im ersten Halbjahr 2023 zum Teil deutlich nach, https://www.jll.de/de/presse/Angebotsmieten-fuer-Berliner-und-Leipziger-Woh-nungen-legen-zweistellig-zu.
12 https://www1.wdr.de/verbraucher/geld/wie-wohnt-nrw-miete-100.html.