Zur Dauer und zum Verlauf von Ermittlungsverfahren in NRW

Kleine Anfrage

Kleine Anfrage 739
der Abgeordneten Dr. Hartmut Beucker und Klaus Esser vom 10.11.2022

Zur Dauer und zum Verlauf von Ermittlungsverfahren in NRW

Ermittlungsverfahren werden durch Strafverfolgungsbehörden, insbesondere die Staatsan­waltschaft oder Polizei, aufgrund einer Strafanzeige oder von Amts wegen eingeleitet.

Das Ermittlungsverfahren dient nicht nur der Feststellung aller belastenden, sondern in glei­cher Weise aller entlastenden Umstände. Am Ende des Ermittlungsverfahrens entscheidet die Staatsanwaltschaft, ob sich ein hinreichender Tatverdacht, mit anderen Worten: ein genügen­der Anlass zur Erhebung der öffentlichen Klage ergeben hat, ob also nach Prognose der Staatsanwaltschaft eine Verurteilung wahrscheinlich ist. In diesem Falle entscheidet die Staatsanwaltschaft weiter, ob eine Verfolgung durch Strafbefehl oder die Erhebung einer Anklage vor Gericht erforderlich ist oder ob – bei geringfügigen Straftaten – auch eine Einstel­lung wegen geringfügiger Schuld, möglicherweise nach Zahlung einer Geldbuße, in Betracht kommt. Besteht kein hinreichender Tatverdacht, stellt die Staatsanwaltschaft das Ermittlungs­verfahren ein.

Grundsätzlich ist kein zeitlicher Rahmen für Ermittlungsverfahren durch das Gesetz bestimmt. Die Staatsanwaltschaft ermittelt solange, bis es in der Sache zu einer Entscheidung kommen kann. Dementsprechend hängt die Dauer des Ermittlungsverfahrens in der Praxis vom Umfang der Ermittlungen sowie von der Schnelligkeit der Ermittlungsbehörden ab.

Wir fragen daher die Landesregierung:

  1. Wie lange dauern Ermittlungsverfahren bei angezeigten Offizialdelikten durchschnittlich in NRW (insbesondere in Fällen von Bedrohungen, Nötigungen oder Beleidigungen)?
  2. Welchen Verlauf nahmen Ermittlungsverfahren von Anzeigen in 2021 und 2022 (Bitte aufschlüsseln nach konkreten Delikten, Fallzahlen, Einstellung, Hauptverfahren, Verurteilung)?
  3. Begegnet eine durch Personalmangel überlastete Polizei und Justiz der einhergehenden Aktenflut durch zunehmende Einstellung von Verfahren wegen Geringfügigkeit – § 153 StPO?
  4. Wie bewertet das Justizministerium die aktuelle Lage, insbesondere des Bearbeitungszeitraums von Ermittlungsverfahren in NRW?
  5. Befragt das Justizministerium die ermittelnden Behörden zu Beschwerden über langwierige Ermittlungsverfahren?

Dr. Hartmut Beucker
Klaus Esser

 

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Der Minister der Justiz hat die Kleine Anfrage 739 mit Schreiben vom 12. Dezember 2022 namens der Landesregierung im Einvernehmen mit dem Minister des Innern beantwortet.

  1. Wie lange dauern Ermittlungsverfahren bei angezeigten Offizialdelikten durch­schnittlich in NRW (insbesondere in Fällen von Bedrohungen, Nötigungen oder Beleidigungen)?

Die durchschnittliche Dauer von Ermittlungsverfahren wird im Rahmen der Anordnung über die Erhebung von statistischen Daten bei den Staats- und Amtsanwaltschaften (StA-Statistik) erfasst. Sie liegt seit vier Jahren konstant bei 1,8 Monaten. Im dritten Quartal dieses Jahres liegt sie bei 1,9 Monaten. Daten für das vierte Quartal 2022 liegen naturgemäß noch nicht vor.

Die Frage nach der durchschnittlichen Dauer von Ermittlungsverfahren, denen angezeigte Of­fizialdelikte zugrunde liegen, lässt sich nicht beantworten, da bei der vorgenannten statisti­schen Erfassung eine Unterscheidung zwischen Offizial- und Antragsdelikten oder nach der hier erfragten Einleitungsart (Strafanzeige) nicht stattfindet. Auch kann nicht nach den erfrag­ten Straftatbeständen der Bedrohung (§ 241 StGB), der Nötigung (§ 240 StGB) oder der Be­leidigung (§ 185 StGB) differenziert werden, da die statistische Erhebung nicht nach Straftaten, sondern nach Sachgebieten erfolgt und die hier betroffenen Sachgebiete eine Vielzahl von weiteren Straftaten enthalten.

  1. Welchen Verlauf nahmen Ermittlungsverfahren von Anzeigen in 2021 und 2022 (Bitte aufschlüsseln nach konkreten Delikten, Fallzahlen, Einstellung, Hauptver­fahren, Verurteilung)?

Die Beantwortung der Frage ist nicht möglich. Sie setzte mangels einer Verlaufsstatistik die händische Auswertung aller in den Jahren 2021 und 2022 bei den Staatsanwaltschaften des Landes Nordrhein-Westfalen geführten Verfahren, die auf Strafanzeigen beruhen, voraus (bzw. aller Verfahren, die auf Strafanzeigen aus den Jahren 2021 und 2022 beruhen). Dies ist mit vertretbarem Verwaltungsaufwand nicht zu leisten. Im Übrigen wird auf die Vorlagen 17/6384 und 18/435 Bezug genommen.

  1. Begegnet eine durch Personalmangel überlastete Polizei und Justiz der einherge­henden Aktenflut durch zunehmende Einstellung von Verfahren wegen Geringfü­gigkeit 153 StPO?

Verfahrenseinstellungen können nur durch Gerichte, deren Unabhängigkeit grundgesetzlich garantiert ist, und Staatsanwaltschaften vorgenommen werden. Aus den vorliegenden Daten der StA-Statistik ergibt sich im Jahresvergleich von 2015 bis heute keine signifikante Zunahme bei den Verfahrenseinstellungen wegen Geringfügigkeit nach § 153 StPO:

Einstellung wegen Geringfügig-
keit durch die Staatsanwalt-
schaften (§ 153 Abs. 1 StPO)
 
Jahr prozentualer Anteil an Erledigungen
2015   12,4
2016   11,9
2017   11,4
2018   10,7
2019   10,8
2020   10,6
2021   9,6
1. Quartal 2022 9,7
2. Quartal 2022 10,5
3. Quartal 2022 10,2

 

Einstellung wegen Geringfügig-
keit durch die Gerichte (§ 153
Abs. 2 StPO)
 
Jahr prozentualer Anteil an Erledigungen
  2015   5,3
  2016   5,0
  2017   5,0
  2018   5,1
  2019   5,1
  2020   5,2
  2021   5,4
1. – 2.  Quartal 2022 5,2

 

  1. Wie bewertet das Justizministerium die aktuelle Lage, insbesondere des Bearbei­tungszeitraums von Ermittlungsverfahren in NRW?

Die durchschnittliche Dauer von Ermittlungsverfahren und die Anzahl von Verfahrenseinstel­lungen hängen von vielen Faktoren ab und lassen für sich genommen keinen unmittelbaren Rückschluss auf die Effektivität oder die Qualität der Arbeit der Justiz zu. Die vorliegenden statistischen Werte geben dem Ministerium der Justiz zu Maßnahmen keinen Anlass.

  1. Befragt das Justizministerium die ermittelnden Behörden zu Beschwerden über langwierige Ermittlungsverfahren?

Nein. Über Beanstandungen staatsanwaltschaftlicher Maßnahmen befindet im Geschäftsbe­reich des Ministeriums der Justiz zunächst die örtlich und sachlich zuständige Behörde. Staatsanwältinnen und Staatsanwälte unterliegen einer dreistufigen Aufsicht und Leitung: durch ihre Behördenleitung, durch die zuständige Generalstaatsanwältin beziehungsweise den zuständigen Generalstaatsanwalt und – erst in letzter Instanz – durch das Ministerium der Justiz. Das Gerichtsverfassungsgesetz sieht dies so vor. Nach ständiger Übung pflegt das Ministerium der Justiz der Entscheidung der zunächst zuständigen Behörden nicht vorzugrei­fen. Etwaig beim Ministerium der Justiz angebrachte Beschwerden über die Verfahrensdauer von Ermittlungsverfahren werden daher zur Prüfung und ggfs. weiteren Veranlassung stets an die Behördenleitungen der zuständigen Staatsanwaltschaften weitergeleitet.

 

MMD18-2127