Gab es nach Ansicht der Landesregierung keine alliierten Kriegsverbrechen?

Kleine Anfrage
vom 07.08.2018

Kleine Anfrage 1352des Abgeordneten Thomas Röckemann vom 13.07.2018

 

Gab es nach Ansicht der Landesregierung keine alliierten Kriegsverbrechen?

Auf Seite 49 des Verfassungsschutzberichts des Landes Nordrhein-Westfalen für das Jahr 2017 wird über eine Veranstaltung von Neonazis berichtet, die dort „[…] vermeintliche Kriegsverbrechen der Alliierten [instrumentalisieren]“.

Unabhängig von der absolut richtigen Verurteilung neonazistischen Gedankenguts lässt die Formulierung „vermeintlich“ bei alliierten Kriegsverbrechen den Schluss zu, dass es nach Ansicht des Verfassers dieser Textpassage keine Kriegsverbrechen auf Seiten der Alliierten gegeben hat.

Obwohl die Alliierten ihre Militärs anwiesen die Genfer Konvention einzuhalten kam es dennoch zu mehreren Verstößen gegen das Kriegsvölkerrecht. So berichtet der renommierte britische Historiker Sir Antony James Beevor1 von mehreren Fällen westalliierter Kriegsverbrechen, bei denen meist deutsche Kriegsgefangene erschossen wurden.2 Außerdem legte Beevor eine umfangreiche Arbeit zu Kriegsverbrechen von sowjetischer Seite während der Schlacht um Berlin vor.3 Zusätzlich zu Gefangenenerschießungen kam es immer wieder zu Vergewaltigungen durch Soldaten der Alliierten. Beispielsweise belegt das Werk Als die Soldaten kamen. Die Vergewaltigung deutscher Frauen am Ende des Zweiten Weltkriegs der Historikerin Miriam Gebhardt, dass es beim Einmarsch US-amerikanischer Streitkräfte in Bayern zu zahlreichen Vergewaltigungen kam.

Der Historiker Klaus-Dietmar Henke, ehemaliger Inhaber des Lehrstuhls für Zeitgeschichte an der Tu Dresden und ehemaliger Chefredakteur der Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, urteilt insgesamt zur Forschungslage bezüglich alliierter, insbesondere US-amerikanischer Kriegsverbrechen: „Die [US] Army selbst ist Hinweisen und Gerüchten dazu offenbar weder 1945 noch später nachgegangen, so daß dieses düstere Kapitel wohl nie zweifelsfrei geklärt und der Aura eines zwielichtigen Lieblingsthemas apologetischer Autoren entkleidet werden kann.“4

Ich frage daher die Landesregierung:

1. Ist die Landesregierung der Ansicht, dass Soldaten der Alliierten keine Kriegsverbrechen begangen haben?

2. Ist die Landesregierung der Ansicht, dass der Verweis auf oder das Gedenken an Opfer alliierter Kriegsverbrechen per se rechtsextremistisch bzw. rechtsradikal sei?

3. Auf welche Art und Weise wurde in Nordrhein-Westfalen der Opfer alliierter Kriegsverbrechen gedacht?

4. Auf welche Weise beteiligte sich das Land Nordrhein-Westfalen bisher am Gedenken an die Opfer alliierter Kriegsverbrechen?

5. Wie wurden bzw. werden die Opfer alliierter Kriegsverbrechen in Nordrhein-Westfalen unterstützt?

Thomas Röckemann

 

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1 https://de.wikipedia.org/wiki/Antony_Beevor

2 Antony Beevor: D-Day. Die Schlacht um die Normandie. C. Bertelsmann Verlag, München 2010

3 Antony Beevor: Berlin 1945 Das Ende. München 2002

4 Klaus-Dietmar Henke: Die amerikanische Besetzung Deutschlands, München 1995, S. 926.


Nachfolgend die Antwort der Landesregierung, verfasst am 05.09.2018

 

Der Minister des Innern hat die Kleine Anfrage 1352 mit Schreiben vom 5. September 2018 namens der Landesregierung im Einvernehmen mit dem Ministerpräsidenten, dem Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales, dem Minister der Justiz und der Ministerin für Kultur und Wissenschaft beantwortet.

Vorbemerkung der Landesregierung

Die Landesregierung sieht es als ihre Aufgabe an, vor einer Instrumentalisierung der Geschichte durch Rechtsextremisten zu warnen.

Um den inhaltlichen Kontext zu verdeutlichen, in dem das in der Fragestellung thematisierte Zitat gefallen ist, wird zunächst der vollständige Absatz des Verfassungsschutzberichtes 2017 wiedergegeben. Die Textpassage thematisiert den „Gedenkmarsch für die Toten in den alliierten Rheinwiesenlagern“ in Remagen (Rheinland-Pfalz) am 19. November 2017 und die in diesem Zusammenhang von Rechtsextremisten behaupteten Kriegsverbrechen:

„Wie in den vorangegangenen Jahren prägten Neonazis aus Nordrhein-Westfalen den ‚Gedenkmarsch für die Toten in den alliierten Rheinwiesenlagern‘ in Remagen (Rheinland-Pfalz). Am 19. November 2017 beteiligten sich rund 250 Rechtsextremisten daran, wobei es sich um parteilose Neonazis, Mitglieder der NPD sowie der Partei Die Rechte handelte. Die Veranstaltung meldete der gleiche Rechtsextremist an, der auch für die Hess-Demonstration verantwortlich war. Die meisten Redner kamen aus Nordrhein-Westfalen. Mit der Veranstaltung instrumentalisiert die Neonazi-Szene vermeintliche Kriegsverbrechen der Alliierten im 2. Weltkrieg, um Deutschland als ein Opfer des Krieges darzustellen, die Verbrechen des NS-Regimes zu relativieren und letztlich die Legitimität der Bundesrepublik Deutschland in Abrede zu stellen. Ein Redner formulierte dies folgendermaßen: ‚Das, dass wir heute tun, kein Blick zurück ist, sondern ein Blick in die Zukunft. Ein Blick in die Zukunft, der dafür helfen wird, die Anklage zu formulieren, auf der wir diese Republik zu Fall bringen.‘“

Die Landeszentrale für politische Bildung Rheinland-Pfalz hat in der Ausgabe Nr. 63 ihrer Zeitschrift „Blätter zum Land“ den Forschungsstand zu dem Thema „Kriegsgefangenschaft in den Rheinwiesenlagern (1945 bis 1948)“ aufgearbeitet. Dort heißt es auf Seite 1 f.:

„In den letzten Monaten des Zweiten Weltkriegs – im März, April und Mai 1945 – gerieten Millionen deutscher Soldaten in Kriegsgefangenschaft. Die alliierten Streitkräfte waren auf eine solch große Zahl von Kriegsgefangenen in einer so kurzen Zeitspanne nicht ausreichend vorbereitet. Daher wurden die Soldaten sowie uniformierte oder verdächtige Zivilisten zunächst in provisorischen Lagern am Rhein – den sogenannten Rheinwiesenlagern – interniert. Während es an Unterkünften, Nahrung und Medizin für alle Menschen in Deutschland mangelte, war auch das Leben der Kriegsgefangenen gekennzeichnet von Hunger, Krankheiten und völlig unzureichenden hygienischen Verhältnissen. […] Vertreter der extremen Rechten nutzen die Thematik und verbreiten falsche, übertriebene oder aus dem Zusammenhang gerissene Darstellungen der Bedingungen in den Kriegsgefangenenlagern.

Die Rheinwiesenlager müssen aber mit dem politischen und militärischen Geschehen vor 1945 in Verbindung gebracht werden, denn die Lager sind eine Folge der NS-Diktatur, des von Deutschland ausgehenden Zweiten Weltkriegs sowie der nationalistischen Verbrechen gegen die Menschlichkeit.“

1. Ist die Landesregierung der Ansicht, dass Soldaten der Alliierten keine Kriegsverbrechen begangen haben?

Der Landesregierung ist nicht bekannt, ob und in welcher Weise alliierte Soldaten auf dem Gebiet des heutigen Nordrhein-Westfalens Kriegsverbrechen begangen haben. Davon unabhängig verurteilt die Landesregierung jede Form von Kriegsverbrechen.

2. Ist die Landesregierung der Ansicht, dass der Verweis auf oder das Gedenken an Opfer alliierter Kriegsverbrechen per se rechtsextremistisch bzw. rechtsradikal sei?

Nein. Allerdings ist die verzerrte Darstellung alliierter Kriegshandlungen und deren Herauslösung aus dem geschichtlichen Kontext ein wesentliches Element rechtsextremistischer Erinnerungspolitik, um die nationalsozialistischen Verbrechen zu relativieren und den eigenen Nationalismus zu legitimieren.

3. Auf welche Art und Weise wurde in Nordrhein-Westfalen der Opfer alliierter Kriegsverbrechen gedacht?

4. Auf welche Weise beteiligte sich das Land Nordrhein-Westfalen bisher am Gedenken an die Opfer alliierter Kriegsverbrechen?

Die Fragen 3 und 4 werden aufgrund des Sachzusammenhangs gemeinsam beantwortet. In Nordrhein-Westfalen wird unabhängig von der Bewertung, ob es sich um Opfer von Kriegsverbrechen handelt, an vielen Orten und in vielfältiger Weise der Kriegsopfer gedacht. Das Land erinnert etwa an das Leid von Spätheimkehrern, Opfern alliierter Luftangriffe und Vertriebenen und unterstützt bis heute immer wieder entsprechende Initiativen und Aktivitäten.

5. Wie wurden bzw. werden die Opfer alliierter Kriegsverbrechen in Nordrhein-Westfalen unterstützt?

Soweit Betroffene in Zusammenhang mit den kriegerischen Ereignissen des 2. Weltkrieges zu Schaden gekommen sind, haben sie für die gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen der Schädigung Anspruch auf Leistungen des Bundesversorgungsgesetzes. Dieser Anspruch umfasst auch Maßnahmen der Heil- und Krankenbehandlung.

 

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