Kleine Anfrage 3722des Abgeordneten Thomas Röckemann vom 13.05.2020
Gerichtsprozesse in der Corona-Zeit
Die Verbreitung des Corona-Virus hat auch die Justiz in NRW getroffen. So wurde der Dienstbetrieb an Gerichten in Nordrhein-Westfalen dahingehend reduziert, dass primär Eilt-Sachen und anhängige Verfahren, die keinen Aufschub dulden, durchgeführt werden.1
Dies hat jedoch zur Folge, dass einige Prozesse auf Grund der durch das Corona-Virus bedingten Umstände zu scheitern drohen, bevor sie ausgeurteilt werden können.
So droht der sogenannte „Essener Ehrenmord-Prozess“, bei dem elf syrische Angeklagte (Angehörige einer Clan-Familie) beschuldigt werden, einen Landsmann mit Holzlatten und Messern getötet zu haben, kurz vor der Aburteilung zu scheitern.
Auch in einem laufenden Verfahren gegen eine „Geldtransporterbande“ mit sieben Angeklagten liegen besondere Herausforderungen örtlicher Art vor, die möglicherweise verhindern, dass dieses Verfahren weitergeführt werden kann.2
Das Loveparade-Verfahren, einer der bis dahin umfangreichsten Prozesse der Nachkriegszeit in Deutschland, wurde eingestellt, da auf Grund der coronabedingten Unterbrechung die Verjährung drohte.3
Ich frage daher die Landesregierung:
1. Wie viele Verfahrenseingänge sind in den letzten fünf Jahren in der nordrhein-westfälischen Justiz im ersten Halbjahr zu verzeichnen gewesen? (Bitte auflisten nach Gerichtsbarkeit und dem jeweiligen Gerichtsbezirk)
2. Wie viele der unter Nummer 1. bezeichneten Verfahren sind im oben bezeichneten Zeitraum jeweils abschließend erledigt worden? (Bitte auflisten nach Gerichtsbarkeit, dem jeweiligen Gerichtsbezirk, sowie Beendigung durch Urteil, Einstellung, Vergleich etc.)
3. Wie viele Verfahren wurden bisher nachweislich auf Grund der Corona-Problematik unterbrochen bzw. ausgesetzt? (Bitte auflisten nach Gerichtsbarkeit und dem jeweiligen Gerichtsbezirk)
4. Wie vielen der unter Nr. 3 bezeichneten Verfahren droht nachweislich auf Grund der Corona-Problematik die Verjährung oder ein sonstiger Grund zur vorzeitigen Verfahrensbeendigung? (Bitte auflisten nach Gerichtsbarkeit und dem jeweiligen Gerichtsbezirk)
5. Durch welche Maßnahmen versucht die nordrhein-westfälische Justiz eine Häufung von vorzeitigen, coronabedingten Prozessbeendigungen zu verhindern?
Thomas Röckemann
1 https://www.justiz.nrw/Mitteilungen/2020_03_19_Minister_Botschaft/index.php (abgerufen am 24.04.2020).
2 https://www.derwesten.de/region/nrw-corona-coronavirus-gericht-justiz-ehrenmord-prozess-in-essen-loveparade-duisburg-id228821255.html (abgerufen am 23.04.2020).
3 https://www.lto.de/recht/nachrichten/n/loveparade-prozess-einstellung-zustimmung-staatsanwaltschaft/ (abgerufen am 23.04.2020).
Nachfolgend die Antwort der Landesregierung, verfasst am 09.06.2020
Der Minister der Justiz hat die Kleine Anfrage 3722 mit Schreiben vom 9. Juni 2020 namens der Landesregierung beantwortet.
Vorbemerkung der Landesregierung
Entgegen der Darstellung in der Vorbemerkung auf die Kleine Anfrage hat das Landgericht Duisburg das so genannte Loveparade-Verfahren ausweislich eines Berichts des Leitenden Oberstaatsanwalts in Duisburg vom 5. Mai 2020 nicht wegen der Corona-Pandemie eingestellt. Wegen der tatsächlichen Gründe wird auf den Bericht der Landesregierung vom 11. Mai 2020 (Vorlage 17/3350) Bezug genommen. Zu den beiden weiteren in der Vorbemerkung der Kleinen Anfrage angesprochenen Strafverfahren hat der Leitende Oberstaatsanwalt in Essen unter dem 27. Mai 2020 berichtet, dass das Landgericht Essen sie ungeachtet der Corona-Pandemie durch Urteile hat abschließen können. Im so genannten Ehrenmord-Prozess sei der Abschluss bereits am 9. April 2020 erfolgt.
1. Wie viele Verfahrenseingänge sind in den letzten fünf Jahren in der nordrhein-westfälischen Justiz im ersten Halbjahr zu verzeichnen gewesen? (Bitte auflisten nach Gerichtsbarkeit und dem jeweiligen Gerichtsbezirk)
Die erbetenen Daten zu den Verfahrenseingängen, differenziert nach Gerichtsbarkeit und – bezirk, ergeben sich aus der Anlage. Die Daten wurden den bundesweit abgestimmten Justizgeschäftsstatistiken entnommen. Im Hinblick auf die ordentliche Gerichtsbarkeit sind die Eingangszahlen in Straf-, Zivil, Ordnungswidrigkeiten- und Familienverfahren enthalten. Daten zu Verfahren, in denen keine Gerichtsprozesse im eigentlichen Sinne stattfinden, sind mit Blick auf die Vorbemerkung der Kleinen Anfrage in der Tabelle nicht enthalten.
2. Wie viele der unter Nummer 1. bezeichneten Verfahren sind im oben bezeichneten Zeitraum jeweils abschließend erledigt worden? (Bitte auflisten nach Gerichtsbarkeit, dem jeweiligen Gerichtsbezirk, sowie Beendigung durch Urteil, Einstellung, Vergleich etc.)
Die zur Beantwortung der Frage erforderlichen Daten liegen dem Ministerium der Justiz nicht vor. Ob das Eingangs- und das Erledigungsdatum im genannten Zeitraum liegen, ließe sich allenfalls über eine Sonderauswertung der Einzeldatensätze ermitteln. Dies würde allerdings eine komplexe Sonderauswertung voraussetzen, die innerhalb der zur Beantwortung einer Kleinen Anfrage zur Verfügung stehenden Zeit nicht realisierbar ist.
3. Wie viele Verfahren wurden bisher nachweislich auf Grund der Corona-Problematik unterbrochen bzw. ausgesetzt? (Bitte auflisten nach Gerichtsbarkeit und dem jeweiligen Gerichtsbezirk)
4. Wie vielen der unter Nr. 3 bezeichneten Verfahren droht nachweislich auf Grund der Corona-Problematik die Verjährung oder ein sonstiger Grund zur vorzeitigen Verfahrensbeendigung? (Bitte auflisten nach Gerichtsbarkeit und dem jeweiligen Gerichtsbezirk)
Die Fragen 3. und 4. werden zusammen beantwortet. Auf Grundlage der amtlichen Statistiken können die Fragen nicht beantwortet werden. Insoweit bedürfte es einer Einzelauswertung sämtlicher in Frage kommenden Verfahrensakten aus den letzten fünf Jahren. Dies wäre mit vertretbarem Aufwand innerhalb der zur Beantwortung einer Kleinen Anfrage zur Verfügung stehenden Zeit nicht zu leisten.
5. Durch welche Maßnahmen versucht die nordrhein-westfälische Justiz eine Häufung von vorzeitigen, coronabedingten Prozessbeendigungen zu verhindern?
Aufgrund der Entwicklung der Coronavirus-Pandemie, insbesondere der Fortschritte bei ihrer Eindämmung, hat das Landeskabinett am 16. April 2020 weitere Maßnahmen zum Umgang mit dieser Pandemie beschlossen. Zugleich wurde eine Änderung der Coronaschutzverordnung NRW beschlossen, die am 20. April 2020 in Kraft getreten ist. Vor diesem Hintergrund ist es der nordrhein-westfälischen Justiz möglich und geboten, unter gleichzeitiger Beachtung einer Minimierung der Ansteckungsgefahr schrittweise in einen geordneten Dienstbetrieb zurückzukehren.
Mit Erlass vom 23. April 2020 hat das Ministerium der Justiz den Obergerichten und Mittelbehörden hierzu Hinweise und Empfehlungen gegeben. Grundsätzlich wurde unter Bezug auf die Empfehlungen des Robert Koch-Instituts geraten, dass oberstes Gebot für die Rückkehr in den geordneten Dienstbetrieb die zwingende Beachtung der Abstandsregel sein solle. Hinsichtlich des Sitzungsbetriebs wurde darauf hingewiesen, dass dessen Gestaltung in erster Linie den Richterinnen und Richtern im Lichte ihrer richterlichen Unabhängigkeit und der Wahrnehmung der Sitzungspolizei obliegt. Es wurde u. a. empfohlen, die Abstandsregel auch im Sitzungssaal einzuhalten. Durch ein geeignetes Sitzungssaalmanagement sei auf unterschiedliche Anforderungen zu Raumgrößen Rücksicht zu nehmen. Auf eine gute Be- und Durchlüftung der Sitzungssäle sei zu achten; dabei dürften die Anforderungen der Suizid- und Fluchtprophylaxe nicht aus dem Blick geraten. Die regelmäßige Reinigung von Sitzungssälen und Sanitärräumen sei sicherzustellen; ggf. sei die Reinigungsfrequenz zu erhöhen. Bei der Vorführung von Gefangenen zu Terminen wurde auf die Praxis des Justizvollzugs hingewiesen, dass nur solche Gefangene vorgeführt werden, die nach menschlichem Ermessen keine COVID 19-verdächtigen Krankheitssymptome aufweisen. Ggf. sei mit den Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartnern aus den Justizvollzugseinrichtungen Kontakt aufzunehmen. Zur Entzerrung des Sitzungsbetriebs und zum Abbau mittlerweile aufgelaufener Rückstände könne es sich empfehlen, die Sitzungszeiten auszuweiten.
Durch das Gesetz zur Abmilderung der Folgen der COVID-19-Pandemie im Zivil-, Insolvenz-und Strafverfahrensrecht vom 27. März 2020 (BGBl. I S. 569) ist in § 10 des Einführungsgesetzes zur Strafprozessordnung (EGStPO) ein befristeter Hemmungstatbestand eingeführt worden. Unabhängig von der Dauer der Hauptverhandlung ist hiernach der Lauf der in § 229 Absatz 1 und 2 der Strafprozessordnung (StPO) genannten Unterbrechungsfristen gehemmt, solange die Hauptverhandlung aufgrund von Schutzmaßnahmen zur Verhinderung der Verbreitung von Infektionen mit dem SARS-CoV-2-Virus (COVID-19-Pandemie) nicht durchgeführt werden kann, längstens jedoch für zwei Monate; diese Fristen enden frühestens zehn Tage nach Ablauf der Hemmung. Dies gilt entsprechend für die in § 268 Absatz 3 Satz 2 der StPO genannte Frist zur Urteilsverkündung. Da das Gericht Beginn und Ende der Hemmung durch unanfechtbaren Beschluss feststellen muss, hat das Ministerium der Justiz mit Erlass vom 25. März 2020 die Generalstaatsanwältin und die Generalstaatsanwälte des Landes gebeten, in Fällen, die keine Priorität genießen, zu prüfen, ob auf einen entsprechenden Gerichtsbeschluss hingewirkt werden kann. Fälle, in denen Verjährung droht oder sonstige Fristen zwingend einzuhalten sind, sollen demgegenüber mit Priorität behandelt werden.