RKI-Chef: „Es ist ein Tabu“ – Hoher Anteil von Intensivpatienten mit Migrationshintergrund

Kleine Anfrage
vom 04.03.2021

Kleine Anfrage 5078der Abgeordneten Gabriele Walger-Demolsky und Dr. Martin Vincentz vom 04.03.2021

 

RKI-Chef: „Es ist ein Tabu“ – Hoher Anteil von Intensivpatienten mit Migrationshintergrund

Wie die BILD-Zeitung berichtet, geht aus einem Gespräch von RKI-Chef Prof. Lothar Wieler und einigen Chefärzten hervor, dass ein sehr großer Teil der schweren Coronafälle, die auf den Intensivstationen in Deutschland behandelt werden, Patienten mit Migrationshintergrund sind.1 Diese Tatsache werde offenbar in der Bundesregierung als Tabu empfunden – aus Angst vor einer Rassismus-Debatte. Mutmaßlich gäbe es aufgrund sprachlicher Barrieren hohe Ansteckungszahlen.

Der Chef der Lungenklinik Moers habe durch eine telefonische Umfrage unter Chefärzten Zahlen über die Parienten auf Intensivstationen in Deutschland ermittelt. Die Politik würde man mit Corona-Warnungen über Menschen mit Migrationshintergrund oftmals allerdings nicht erreichen. Der Moerser Facharzt führte in diesem Zusammenhang aus:

„Nach meiner Erhebung hatten immer über 90 Prozent der intubierten, schwerst kranken Patienten einen Migrationshintergrund. Wir haben uns intern darauf geeinigt, dass wir solche Kranke als ‚Patienten mit Kommunikationsbarriere‘ bezeichnen wollen. Die scheinen wir nicht zu erreichen.“

RKI-Chef Wieler spezifizierte diese Aussagen wie folgt:

„Ich habe das genauso gehört. Aber es ist ein Tabu. Ich habe versucht, auf bestimmte Menschen zuzugehen. Wir müssen über Imame auf diese Religionsgruppe eingehen. Das Ganze hat für Berlin riesige Auswirkungen. Das ist ein echtes Problem […] Da sind Parallelgesellschaften mitten in unserem Land. Wenn man dort etwas ausrichten will, klappt das nur mit beinharter Sozialarbeit in den Moscheen. Und da kommen wir nicht rein. Und das ist Mist. Diese Gruppe besteht aus vier Millionen Menschen in Deutschland. Das entspricht einem Anteil von 4,8 Prozent. Auf den Intensivstationen liegen aber deutlich über 50 Prozent aus dieser Gruppe.“

Auf Nachfrage der BILD habe ein Regierungssprecher erklärt, dass Gesundheitsminister Spahn entsprechende Warnungen nicht ans Kanzleramt weitergeleitet habe. Bei den Corona-Gipfeln der Kanzlerin mit den Länderchefs waren diese Erkenntnisse der Mediziner angeblich nie Thema.

Die BILD-Zeitung mutmaßt, dass die Bundesregierung offenbar damit gescheitert ist, ihre Corona-Strategie auch jenen Menschen verständlich zu machen, die nur wenig oder gar kein Deutsch sprechen.

Vom 08. September bis zum 29. Dezember 2020 hatte sich die Anzahl der Covid-19-Patienten in den Krankenhäusern Nordrhein-Westfalens von 206 auf 5903 (davon 369 Patienten auf Intensivstationen – ohne Beatmung und 769 beatmete Covid-19-Patienten) erhöht. Seit dieser Zeit sind die Zahlen stark rückläufig.

Wir fragen daher die Landesregierung:

  1. RKI-Chef Prof. Lothar Wieler sowie der Chef der Lungenklinik Moers konnten ihre Vermutungen bezüglich des Migrationshintergrunds vieler schwerst erkrankter Covid-19-Patienten nicht mit Daten oder mit einer statistischen Auswertung hinterlegen. Welche derartigen Daten oder statistischen Auswertungen gibt es auf Landesebene bzw. nach Kenntnis der Landesregierung auf Bundesebene?
  2. Welche Erkenntnisse lassen sich aus etwaigen Statistiken ziehen, insbesondere seit der deutlichen Zunahme der Covid-19 Patienten in den Krankenhäusern seit dem 8. September 2020?
  3. RKI-Chef Prof. Lothar Wieler deutete an, dass wir über „Imame auf diese Religionsgruppe eingehen müssen“. Gibt es demnach Hinweise oder Belege, dass insbesondere Muslime überdurchschnittlich häufig von schwersten Krankheitsverläufen betroffen sind?
  4. Mit welchen Maßnahmen hat die Landesregierung in der Vergangenheit die verschiedenen, in Teilen nicht-deutschsprachigen Gemeinden in NRW auf die Pandemie und die verordneten Schutzmaßnahmen hingewiesen?

Gabriele Walger-Demolsky
Dr. Martin Vincentz

 

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1 Vgl. https://www.bild.de/bild-plus/politik/inland/politik-inland/corona-patienten-mit-migrationshintergrund-rki-chef-es-ist-ein-tabu-75598632.bild.html#remId=1658238706568645278


Der Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales hat die Kleine Anfrage 5078 mit Schreiben vom 30. März 2021 namens der Landesregierung im Einvernehmen mit dem Minister für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration beantwortet.

Vorbemerkung der Landesregierung

Die Aussagen des zitierten Chefarztes sowie des Präsidenten des Robert Koch-Instituts (RKI) wurden laut Stellungnahme der Institutionen in einigen Teilen nicht korrekt wiedergegeben. So bezogen sich die zitierten Zahlen auf konkrete Berichte von Ärzten dreier Intensivstationen in drei Großstädten in Deutschland und spiegeln damit nicht die Situation in ganz Deutschland wider.

Grundsätzlich sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass Unterschiede im Infektions- und Erkrankungsrisiko häufig auf sozioökonomische Ungleichheiten zurückzuführen sind. So haben Unterschiede in Teilhabechancen, u.a. hinsichtlich Bildung, Wohnraum und Arbeitsmarkt, einen Einfluss auf die Lebens- und Arbeitsbedingungen. In vielen Fällen hat dies zur Folge, dass Bevölkerungsgruppen mit geringerem sozioökonomischen Status häufig in beengten Wohnverhältnissen leben, im informellen Sektor oder in geringbezahlten und/oder gesundheitsgefährdenden Tätigkeiten beschäftigt sind sowie einen schwereren Zugang zu Versorgung und Information haben. All diese Faktoren spielen auch eine bedeutende Rolle für die Übertragungswahrscheinlichkeit von SARS-CoV-2. Hinzu kommt, dass Erkrankungen, die zu den Risikofaktoren für schwere COVID-19-Krankheitsverläufe zählen (z.B. Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes, Lungenkrebs) in Bevölkerungsgruppen mit geringerem sozioökonomischen Status häufiger auftreten. Dadurch entstehen in diesen Bevölkerungsgruppen spezifische Erkrankungsrisiken, die bei einer Bewertung Berücksichtigung finden müssen.

  1. RKI-Chef Prof. Lothar Wieler sowie der Chef der Lungenklinik Moers konnten ihre Vermutungen bezüglich des Migrationshintergrunds vieler schwerst erkrankter Covid-19-Patienten nicht mit Daten oder mit einer statistischen Auswertung hinterlegen. Welche derartigen Daten oder statistischen Auswertungen gibt es auf Landes- bzw. Bundesebene?
  2. Welche Erkenntnisse lassen sich aus etwaigen Statistiken ziehen, insbesondere seit der deutlichen Zunahme der Covid-19 Patienten in den Krankenhäusern seit dem 8. September 2020?
  3. RKI-Chef Prof. Lothar Wieler deutete an, dass wir über „Imame auf diese Religionsgruppe eingehen müssen“. Gibt es demnach Hinweise oder Belege, dass insbesondere Muslime überdurchschnittlich häufig von schwersten Krankheitsverläufen betroffen sind?

Die Fragen 1 bis 3 werden aufgrund des Sachzusammenhangs gemeinsam beantwortet.

Grundsätzlich werden für COVID-19-Patientinnen und Patienten keine individuellen Daten zu Migrationshintergrund oder Religionszugehörigkeit im Rahmen des Meldesystems gemäß Infektionsschutzgesetz (IfSG) erhoben. Entsprechend liegen diese Daten weder der Landesregierung, dem Robert Koch-Institut (RKI) noch der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) regelhaft vor.

Eine Übersicht zum internationalen Forschungsstand sowie erste Ergebnisse aus einer bundesweiten Analyse des RKI zur sozioökonomischen Ungleichheit und dem Infektionsrisiko mit SARS-CoV-2 wurden im letzten Jahr im Journal of Health Monitoring veröffentlicht. Des Weiteren erhebt das RKI im Rahmen des Gesundheitsmonitorings regelmäßig Daten zur Gesundheit von Personen mit Migrationshintergrund. Die daraus gewonnenen Daten können helfen, mögliche Unterschiede in Risikofaktoren und Gesundheitsstatus besser einzuordnen.

  1. Mit welchen Maßnahmen hat die Landesregierung in der Vergangenheit die verschiedenen, in Teilen nicht-deutschsprachigen Gemeinden in NRW auf die Pandemie und die verordneten Schutzmaßnahmen hingewiesen?

Die Effektivität von Verhaltensregeln und Infektionsschutzmaßnahmen in einer Pandemie ist maßgeblich von der Mitwirkung der betroffenen Bevölkerung abhängig. Um Mitwirkung zu ermöglichen, sind ein barrierefreier Zugang zu Informationen sowie eine effektive Kommunikation eine wichtige Voraussetzung. Die Informationsangebote der Landesregierung zu den Corona-Maßnahmen richten sich entsprechend an die gesamte Bevölkerung, dazu gehören auch Angebote in verschiedenen Sprachen. In einer aktuellen Studie der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) wird Deutschland als gutes Beispiel für mehrsprachige Informationen im Rahmen der Corona-Aufklärung genannt, mit denen Menschen mit Einwanderungsgeschichte erreicht werden sollen (OECD: International Migration Outlook (2020), https://www.oecd.org/migration/international-migration-outlook-1999124x.htm).

Die Informationsangebote über Schutz- und Verhaltensweisen in Zeiten der Pandemie umfassen unterschiedliche Materialien und Medien. Dazu gehört beispielsweise das mehrsprachige Angebot auf der Corona-Homepage des Landes NRW (abrufbar unter https://www.land.nrw/corona-multilingual) und in den Sozialen Medien. Integrationsvorbilder der Wertschätzungskampagne #IchDuWirNRW haben auf den Social-Media-Kanälen des Ministeriums für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration (MKFFI) in verschiedensprachigen Videos die AHA-Regeln erklärt und zur Einhaltung der Pandemieregeln aufgerufen. Im Rahmen dieser Kampagne fand auch eine landesweite Sonderplakatierung mit Botschaften zu Verhaltensregeln während der Corona-Pandemie statt. Zudem wurden mehrsprachige Informationen zu Hygiene- und weiteren Verhaltensregeln (z.B. von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung) vom MKFFI gedruckt und über die integrationspolitische Infrastruktur landesweit verteilt. Neben diesen allgemeinen werden auch spezifische Informationsangebote geschaffen, beispielsweise hat das MKFFI Informationen zu Impfungen in 17 Sprachen (gesammelte Materialien abrufbar unter https://www.mags.nrw/coronavirus-impfzentren-nrw-materialien) und zu grundlegenden Angeboten der Kindertagesbetreuung oder Brückenprojekten während der Pandemie in bis zu 15 Sprachen übersetzen lassen.

Eine Verbreitung der bereitgestellten landesseitigen mehrsprachigen Informationen erfolgt dann unter anderem durch Einrichtungen oder Institutionen. So hat der durch das MKFFI institutionell geförderte Landesintegrationsrat NRW die Informationen über die örtlichen Integrationsräte und weitere eigene Netzwerke verbreitet und auf seiner Internetseite die Informationen der Bundes- und Landesregierung wie auch des Mediendienstes Integration in unterschiedlichen Herkunftssprachen zusammengestellt. Auch die Kommunalen Integrationszentren (KI) informieren über vielfältige Wege zum Coronavirus, indem sie Informationsmaterial in verschiedenen Sprachen anfertigen und bereitstellen sowie über direkte Ansprache, Social-Media-Kanäle oder Beiträge im Lokalradio verbreiten. Zusätzlich wurden die zahlreichen Beratungsgespräche zum Beispiel zum Schulbesuch genutzt, um die AHA-Regeln aber auch Quarantänevorschriften direkt an die Familien zu transportieren. Ein weiteres Kommunikationsinstrument sind die Laiensprachmittlerpools bei den KI. Diese leisten unbürokratisch Hilfe bei der Verständigung und somit bei der Erhöhung der Chancen auf Teilhabe und Integration für Menschen, die noch nicht oder nicht gut Deutsch sprechen. Die ehrenamtlichen Sprachmittlerinnen und Sprachmittler unterstützen seit 2020 auch verstärkt die kommunalen Verwaltungen (z.B. auch Gesundheitsämter) dabei, alle notwendigen Informationen weiterzugeben. Über das Programm „Zuwanderung aus Südosteuropa“ fördert die Landesregierung 22 Standorte mit 18 KI, die überdurchschnittlich viel Zuzug aus den EU-Staaten Südosteuropas erfahren.

Die Integrationsagenturen sind über die Vertreter der Freien Wohlfahrtspflege über verschiedensprachige Informationen zu den Corona-Schutzmaßnahmen informiert worden, wie beispielsweise zur Betreuung von Kindern von Schlüsselpersonen in arabischer und türkischer Sprache.

Die muslimisch und alevitisch geprägten Vereine und Organisationen, mit denen die Koordinierungsstelle Muslimisches Engagement in Kontakt steht, wurden per E-Mail über die Schutzmaßnahmen und zu den Abrufmöglichkeiten der mehrsprachig verfügbaren Informationen zur weiteren Verwendung informiert.

In allen Landeseinrichtungen für Asylsuchende wird an verschiedenen Stellen mit unterschiedlichsten Mitteln über die COVID-19-Pandemie sowie über die Schutzmaßnahmen informiert. Dazu zählen Informationsveranstaltungen, kurze Hygieneschulungen, persönliche Gespräche, Aushänge mit Grafiken sowie Videos auf Infoscreens für die Bewohnerinnen und Bewohner. Das Rahmenkonzept des MKFFI zur Vermeidung des Ausbruchs und der Ausbreitung von COVID-19 in den Landeseinrichtungen in NRW enthält entsprechende Empfehlungen sowie Anregungen über Informationswege und -inhalte.

 

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