Bestrafung für die Aufnahme von Ukraine-Flüchtlingen? Wie gerecht ist das aktuelle Zuweisungssystem auf die Kommunen in NRW?

Kleine Anfrage 397
der Abgeordneten Enxhi Seli-Zacharias vom 31.08.2022

 

Bestrafung für die Aufnahme von Ukraine-Flüchtlingen? Wie gerecht ist das aktuelle Zuweisungssystem auf die Kommunen in NRW?

Wie aus dem bisher letzten Quartalsbericht „Sachstand staatliches Asylsystem“ für das 4. Quartal 20211 hervorgeht, gab es im Jahre 2021 insgesamt 15.122 Zuweisungen gem. § 3 Flüchtlingsaufnahmegesetz (FlüAG) und 5.916 Zuweisungen gem. § 12a Aufenthaltsgesetz (AufenthG) an die aufnahmepflichtigen Gemeinden in NRW.

Der Zuweisungsschlüssel gem. § 3 FlüAG errechnet sich grundsätzlich aus den Parametern Einwohnerschlüssel und Flächenschlüssel im Verhältnis 9:1. Sondereffekte, wie das Vorhandensein von Unterbringungseinrichtungen des Landes, führen zu einer geringeren Zuteilung.

Bei der Zuweisung gem. § 12a AufenthG erfolgt die Zuteilung auf die 396 Kommunen in NRW dagegen grundsätzlich nach dem Integrationsschlüssel. Anders als bei der Verteilung gem. FlüAG kann der Verteilschlüssel – wenn auch nur geringfügig – reduziert werden, wenn in Gemeinden die ausreichende Versorgung der Bevölkerung mit Mietwohnungen zu angemessenen Bedingungen besonders gefährdet ist.

Wie aus der „Verteilstatistik Wohnsitzauflage“ hervorgeht, kommt es in verschiedenen Städten zu einer enormen Übererfüllung, was Zweifel an der Effektivität des Zuweisungssystems aufkommen lässt.2 In sechs Städten gibt es derzeit eine Übererfüllung von jenseits 200 % (Bielefeld 212 %, Dortmund 234 %, Essen 203 %, Gelsenkirchen 238 %, Herne 227 %, Minden 286 %).

Dieses grundsätzliche Zuweisungssystem gerät aktuell durch die Aufnahme zahlreicher Ukraineflüchtlinge endgültig an seine Grenzen, da die vor dem russischen Angriffskrieg geflohenen Ukrainer bei der Flüchtlingsverteilung nicht berücksichtigt werden. Grund dafür ist der Rechtskreiswechsel gem. SGB II oder XII, wonach diese Personen nicht mehr in die FlüAG-Erfüllungsquote einbezogen werden, obwohl sie rein faktisch natürlich trotzdem in der jeweiligen Gemeinde verweilen.3

Da die Verteilung der Ukrainer innerhalb von NRW im Rahmen der Visafreiheit mehr oder wenige zufällig und nicht per fester Quote erfolgte, stehen Städte wie z.B. Gelsenkirchen, die schon vorher stark belastet waren – insbesondere auch durch die Zuwanderung aus Südosteuropa –, jetzt vor einem weiteren Problem. Gelsenkirchen steht dabei exemplarisch für eine vollkommen überforderte Stadt, die gleichzeitig die Flüchtlingsaufnahme seit 2015, eine hohe Anzahl von EU-Binnenmigranten aus den Staaten der Sechsten EU-Erweiterung (Osterweiterung Teil II) und jetzt noch eine hohe Anzahl an Ukraine-Flüchtlingen schultern soll. Diese Kombination ist in einer Stadt mit einem derart niedrigen Durchschnittseinkommen kaum noch tragbar. Nicht unerwähnt bleiben dürfen in diesem Zusammenhang die Auswirkungen auf den Wohnungsmarkt und das Schulwesen.

Von Seiten des NRW-Städtetags wird vor dem Hintergrund der aktuellen Problemlage daher gefordert, dass die Ukrainer auch nach dem Rechtskreiswechsel als Zahlfälle berücksichtigt werden.4 Für Städte wie Gelsenkirchen wäre auch das allerdings nur ein kleiner Zwischenschritt.

Ich frage daher die Landesregierung:

  1. Inwiefern wird sich die Landesregierung dafür einsetzen, bei der zukünftigen Zuweisung gem. § 3 FlüAG bzw. § 12a AufenthG die Anzahl der aufgenommenen Ukraineflüchtlinge zu berücksichtigen?
  2. Inwiefern hält die Landesregierung die Zuweisungsschlüssel gem. § 3 FlüAG bzw. § 12a AufenthG generell noch für tragbar vor dem Hintergrund der fehlenden bzw. nur geringen Berücksichtigung der Situation auf dem jeweiligen kommunalen Wohnungsmarkt?
  3. Inwiefern gibt es von Seiten der Landesregierung Überlegungen zu einer grundsätzlichen Überarbeitung der Zuweisungsschlüssel gem. § 3 FlüAG bzw. § 12a AufenthG5, beispielsweise durch eine möglichen Anrechnung der EU-Binnenmigranten aus den Staaten der Sechsten EU-Erweiterung (Osterweiterung Teil II)?
  4. Wie hat sich die Anzahl der Zuweisungen gem. § 3 FlüAG bzw. § 12a AufenthG seit dem bisher letzten Quartalsbericht entwickelt? (Bitte jeweils nach Monat und Anzahl differenziert auflisten)
  5. Inwiefern hält es die Landesregierung für vertretbar, wenn aus Städten wie Gelsenkirchen, die sich in einer derart prekären Lage befinden, trotz fehlender Zuständigkeit die Forderung nach einem Selbsteintrittsrecht gem. Dublin-III-Verordnung für Mittelmeer-Flüchtlinge („Sichere Häfen“)6 erhoben wird?

Enxhi Seli-Zacharias

 

Anfrage als PDF

 

1 Vgl. Lt.-Vorlage 17/6541

2 Vgl. https://www.bra.nrw.de/system/files/media/document/file/verteilstatistik-wsa-2022-08-28.pdf

3 Vgl. https://www.waz.de/politik/landespolitik/aerger-um-fluechtlingsverteilung-ukrainer-zaehlen-nicht-mehr-id236168761.html

4 Vgl. https://www.waz.de/staedte/gelsenkirchen/unsinn-ob-welge-aergert-sich-ueber-fluechtlingsverteilung-id236199557.html

5 Vgl. https://ratsinfo.gelsenkirchen.de/ratsinfo/gelsenkirchen/17787/MTQtMjAuODkxNw==/14/n/117821.doc

6 Ebenda


Die Ministerin für Kinder, Jugend, Familie, Gleichstellung, Flucht und Integration hat die Kleine Anfrage 397 mit Schreiben vom 7. Oktober 2022 namens der Landesregierung im Ein­vernehmen mit der Ministerin für Heimat, Kommunales Bau und Digitalisierung beantwortet.

  1. Inwiefern wird sich die Landesregierung dafür einsetzen, bei der zukünftigen Zu­weisung gem. § 3 FlüAG bzw. § 12a AufenthG die Anzahl der aufgenommenen Uk­raineflüchtlinge zu berücksichtigen?

Die Landesregierung und die Kommunen in Nordrhein-Westfalen verfolgen bei der Anrech­nung der aus der Ukraine geflüchteten Personen auf die FlüAG-Erfüllungsquote die gleichen Ziele. Die FlüAG-Verteilstatistik soll zum einen ein möglichst realistisches Bild der Verteilung Geflüchteter in Nordrhein-Westfalen wiedergeben. Zum anderen sollen ungleiche Verteilun­gen zwischen den Kommunen perspektivisch sachgerecht ausgeglichen werden. In den ge­meinsamen Gesprächen mit den Kommunalen Spitzenverbänden wurde folgende Lösung er­arbeitet, die den Kommunen mit Schreiben vom 30. August 2022 mitgeteilt worden ist:

Aus der Ukraine geflüchtete Personen werden, solange alle sonstigen Voraussetzungen erfüllt sind, auch nach Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 24 AufenthG zu der Verteilquote hinzugerechnet (sog. Zählfall). Dies gilt unabhängig davon, ob für die Personen AsylbLG-Leis-tungen erbracht werden oder nicht. Die Bedingungen für die Beantragung der FlüAG-Pau-schale (Zahlfall) bleiben bestehen. Das elektronische Meldeverfahren bezüglich der Anrech­nung auf die FlüAG-Zuweisungsquote wird aktuell angepasst.

In der Konsequenz wird davon abgesehen, eine kommunalscharfe Wohnsitzzuweisung ge­mäß § 12a Abs.1 S.1, Abs. 3 AufenthG für diesen Personenkreis zu verfügen. Dies hat zur Folge, dass diese Geflüchteten innerhalb von Nordrhein-Westfalen freizügig bleiben. Gleich­zeitig nehmen die Kommunen die Geflüchteten aus der Ukraine unabhängig von ihrem aufenthaltsrechtlichen Status und unter Berücksichtigung von Zuzügen und Wegzügen weiter­hin in die monatliche Meldung zur FlüAG-Statistik auf.

Durch diese Vorgehensweise – also den Verbleib aller Geflüchteten aus der Ukraine in der FlüAG-Verteilstatistik – bleibt die jeweilige Belastung der einzelnen Kommune sichtbar und wird für die weiteren Zuweisungen gemäß § 50 Asylgesetz oder § 24 Abs. 4 AufenthG zu Grunde gelegt. Die Steuerung des belastungsgerechten Ausgleichs erfolgt somit in bewährter Form. Soweit Kommunen aus der Ukraine geflüchtete Personen aufgenommen haben, wird dies bei der Zuweisung weiterer Personen nach dem FlüAG also künftig auch dann noch be­rücksichtigt, wenn diese einen Aufenthaltstitel erhalten und den Rechtskreis gewechselt ha­ben.

  1. Inwiefern hält die Landesregierung die Zuweisungsschlüssel gem. § 3 FlüAG bzw. § 12a AufenthG generell noch für tragbar vor dem Hintergrund der fehlenden bzw. nur geringen Berücksichtigung der Situation auf dem jeweiligen kommunalen Wohnungsmarkt?

Gegenwärtig existieren zwei gleichgerichtete Systeme der Zuweisung und Verteilung von Ge­flüchteten an die Kommunen in Nordrhein-Westfalen.

Die Verteilung von Asylbewerberinnen und Asylbewerbern erfolgt gemäß § 50 AsylG i.V.m. § 3 FlüAG (Verteilung aus den Landeseinrichtungen nach Erstaufnahme). Regelmäßig soll die­ser Personenkreis zunächst in einer Zentralen Unterbringungseinrichtung (ZUE) leben und dort auf den Abschluss des Asylverfahrens durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) warten. Parallel zu diesem Verteilsystem läuft die Zuweisung von bereits anerkannten Schutzberechtigen und Inhaberinnen und Inhabern von bestimmten humanitären Aufenthalts­titeln gemäß § 12a AufenthG.

Während die allgemeine Verteilung aus den Landeseinrichtungen heraus mit Blick auf eine gleichmäßige Verteilung der Asylbewerberinnen und Asylbewerber auf die Kommunen des Landes erfolgt, wird die Wohnsitzregelung nach § 12a AufenthG aus integrationspolitischen Erwägungen gegenüber den anerkannten Schutzberechtigten erteilt, wobei insbesondere Kri­terien der Aufnahmefähigkeit des Arbeitsmarktes und des Wohnungsmarktes herangezogen werden. So erhalten Kommunen, die von § 1 der Mieterschutzverordnung vom 9. Juni 2020 in ihrer jeweils gültigen Fassung erfasst sind, bereits einen Abschlag von 10 Prozent im Rahmen ihrer Erfüllungsquote. Da der angespannte Wohnungsmarkt seit vielen Jahren ein flächende­ckendes Problem für die Menschen in Nordrhein-Westfalen darstellt, kann dieses nicht durch die Nachjustierung der Wohnsitzregelung ad hoc gelöst werden.

  1. Inwiefern gibt es von Seiten der Landesregierung Überlegungen zu einer grund­sätzlichen Überarbeitung der Zuweisungsschlüssel gem. § 3 FlüAG bzw. § 12a AufenthG, beispielsweise durch eine mögliche Anrechnung der EU-Binnenmig-ranten aus den Staaten der Sechsten EU-Erweiterung (Osterweiterung Teil II)?

Eine Verrechnung der unterschiedlichen Zuweisungsquoten nach dem Flüchtlingsaufnahme-gesetz und dem Aufenthaltsgesetz würde die Neuregelung beider Verteilsysteme nach ein­heitlichen Kriterien im Rahmen eines neuen Gesetzes erfordern. Mit den beiden Systemen werden jedoch unterschiedliche gesetzliche Ziele verfolgt. Das FlüAG regelt die landesinterne Verteilung von Asylbewerberinnen und -bewerbern, um eine gerechte und gleichmäßige Be­lastung der Kommunen sicherzustellen. Die Wohnsitzregelung nach § 12a AufenthG ist eine bundesrechtliche Regelung und soll mithilfe des Integrationsschlüssels dafür Sorge tragen, dass die nachhaltige Integration anerkannter Schutzberechtigter und Inhaberinnen und Inha­bern von bestimmten humanitären Aufenthaltstiteln durch eine gesteuerte Verteilung gefördert wird. Eine Synchronisierung der unterschiedlichen Zuweisungsschlüssel bedarf aus rechtli­chen und sozioökonomischen Gründen einer sorgfältigen Prüfung. Hierzu wird sich die Lan­desregierung eng mit den Kommunalen Spitzenverbände austauschen.

  1. Wie hat sich die Anzahl der Zuweisungen gem. § 3 FlüAG bzw. § 12a AufenthG seit dem bisher letzten Quartalsbericht entwickelt? (Bitte jeweils nach Monat und An­zahl differenziert auflisten)

Vom 01.01.2022 bis 31.08.2022 wurden insgesamt 8.655 Zuweisungen gemäß § 50 Asylgesetz i.V.m. § 3 FlüAG vorgenommen:

 

  Zuweisungen § 50 Asylgesetz i.V.m. § 3 FlüAG
Januar 2022 1.713
Februar 2022 738
März 2022 683
April 2022 741
Mai 2022 1.450
Juni 2022 1.167
Juli 2022 833
August 2022 1.330
gesamt 8.655

 

Quelle: Bezirksregierung Arnsberg, Dezernat 201, Stand 31.08.2022

Vom 01.01.2022 bis 31.08.2022 wurden insgesamt 9.348 Zuweisungen gemäß § 12a Auf-enthG vorgenommen:

  Personen mit Wohnsitz   in  einer
Kommune und Zu- weisung nach dem 01.12.2016
Personen, die sich zum Zeitpunkt der Zuweisung in einer Aufnahmeeinrich-tung des Landes
aufhielten
Gesamtan-
zahl
Januar 2022 509 144 653
Februar 2022 490 121 611
März 2022 686 316 1.002
April 2022 557 354 911
Mai 2022 1.350 379 1.729
Juni 2022 1.193 339 1.532
Juli 2022 1.148 413 1.561
August 2022 922 427 1.349
gesamt 6.855 2.493 9.348

Quelle: Bezirksregierung Arnsberg, Dezernat 201, Stand 31.08.2022

  1. Inwiefern hält es die Landesregierung für vertretbar, wenn aus Städten wie Gel­senkirchen, die sich in einer derart prekären Lage befinden, trotz fehlender Zu­ständigkeit die Forderung nach einem Selbsteintrittsrecht gem. Dublin-III-Verordnung für Mittelmeer-Flüchtlinge („Sichere Häfen“) erhoben wird?

Eine derartige Entscheidung obliegt den Gremien der jeweiligen Kommunen und entzieht sich einer Bewertung durch die Landesregierung.

 

Antwort als PDF

Weitere Beiträge