Hilfe in Krisenzeiten: Hat die Landesregierung die flächendeckende und zeitnahe Versorgung von Menschen in seelischen und emotionalen Notlagen auf der Agenda?

Kleine Anfrage 1844

der Abgeordneten Dr. Hartmut Beucker, Dr. Martin Vincentz und Markus Wagner AfD

Hilfe in Krisenzeiten: Hat die Landesregierung die flächendeckende und zeitnahe Versorgung von Menschen in seelischen und emotionalen Notlagen auf der Agenda?

Die Sozialpsychiatrischen Dienste gehören zu den in der Öffentlichkeit bekanntesten und den am meisten verbreiteten psychosozialen Versorgungssystemen.

Sie gehören zum Arbeitsgebiet der Sozialpsychiatrie, deren Wirken dann beginnt, wenn Menschen nicht (mehr) dazu fähig sind, notwendige Hilfen, die sie auf Grund einer Störung, Krankheit oder Behinderung benötigen, eigenständig zu erreichen. Unterstützung wird nicht nur in akuten Krisensituationen geleistet, sondern der Sozialpsychiatrische Dienst bietet im Sinne einer Nachsorge auch Gespräche nach einem Klinikaufenthalt als Hilfe zur Rückkehr in den Alltag an.

Krieg, Inflation und Energiekrise führten dazu, dass die Deutschen im Jahr 2022 ängstlicher geworden sind.1 Gemäß der Studie „Die Ängste der Deutschen“ haben Menschen in Nordrhein-Westfalen am meisten Angst vor steigenden Lebenshaltungskosten. „Die Preisspirale macht den Menschen in allen Bevölkerungsschichten Angst. Das gilt für reiche Befragte genauso wie für arme, für Jung und Alt, für Männer wie Frauen und für Anhänger aller Parteien in allen Bundesländern“.2 Die Sorge, wegen hoher Nebenkosten keine Wohnung mehr bezahlen zu können, landet in Nordrhein-Westfalen auf Platz 2 des Angstrankings.3

Für viele werden die Preissteigerungen zunehmend zur Belastung. Wenn die finanziellen Nöte zu groß werden, belastet das auch die Psyche. Einer Studie des Instituts für Arbeits-, Sozial-und Umweltmedizin der Johannes Gutenberg-Universität zufolge leiden überschuldete Menschen deutlich häufiger an psychischen Erkrankungen wie Depressionen, Schlafstörungen oder Angstzuständen.4

Insbesondere für psychisch labile Menschen sind allgemeine Krisenzeiten nicht einfach. Die psychische Widerstandskraft wird auf die Probe gestellt. Bei der psychiatrischen Krisenversorgung spielen die Sozialpsychiatrischen Dienste und die Krisendienste wiederum eine bedeutende Rolle als niedrigschwelliges Angebot und sind zugleich ein wichtiger Baustein der psychosozialen Erstversorgung.

Um eine nachhaltige Stärkung des Öffentlichen Gesundheitsdienstes voranzutreiben, haben Bund und Länder am 29. September 2020 den „Pakt für den Öffentlichen Gesundheitsdienst“ beschlossen. Zur Unterstützung des Ausbaus des Öffentlichen Gesundheitsdienstes (ÖGD) stellt der Bund seit dem Jahr 2021 4 Mrd. Euro für Personal, Digitalisierung und moderne Strukturen des ÖGD zur Verfügung. Der Pakt für den Öffentlichen Gesundheitsdienst sieht ausdrücklich einen Personalaufwuchs über alle Bereiche und Aufgaben sowie alle politischen Ebenen des ÖGD vor.

Wir fragen daher die Landesregierung:

  1. Welche Erkenntnisse zur landesweiten Versorgungssituation bzw. niedrigschwelligen Hilfe in psychischen Krisensituationen über die Öffnungszeiten der Sozialpsychiatrischen Dienste hinaus liegen der Landesregierung vor?
  2. Wie entwickelte sich die Anzahl der Einsätze ärztlicher Not- und Rettungsdienste gemäß § 2 Rettungsgesetz NRW anlässlich psychischer Krisensituationen in den vergangenen Jahren? (Bitte für die Jahre 2020 bis heute gesondert aufschlüsseln)
  3. Welche Mittel wurden aus dem Pakt für den Öffentlichen Gesundheitsdienst zur Förderung der Versorgungssituation im Bereich der Sozialpsychiatrischen Dienste eingesetzt? (Bitte die Mittel für die Jahre 2021 bis 2022 und für das Jahr 2023 bis zum 30.04. aufschlüsseln)
  4. Welche Erkenntnisse hat die Landesregierung zur Angebotssituation psychosozialer Krisenanlaufstellen im Sinne einer ambulanten Krisenhilfe rund um die Uhr in NRW?
  5. Wie werden eingesetzte Polizeikräfte auf Einsätze, die (auch) mit einer psychischen Krisensituation im Zusammenhang stehen?

Dr. Hartmut Beucker
Dr. Martin Vincentz
Markus Wagner

 

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1 https:// www .ruhr24.de/nrw/nrw-krisenstimmung-menschen-angst-studie-deutschland-wohnen-sorgen-lebenshaltungs-kosten-r-v-geld-91852564.html (abgerufen am 02.05.2023).

2 https:// www .ruv.de/newsroom/themenspezial-die-aengste-der-deutschen/pressemitteilungen/2022-10-13-studie-aengste-der-deutschen (abgerufen am 02.05.2023).

3 https:// www .ruv.de/newsroom/themenspezial-die-aengste-der-deutschen/ergebnisse-nach-bundeslaendern (abgerufen am 02.05.2023).

4 https:// presse .uni-mainz.de/zum-zusammenhang-von-armut-schulden-und-gesundheit/ (abgerufen am 02.05.2023).


Der Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales hat die Kleine Anfrage 1844 mit Schreiben vom 20. Juni 2023 namens der Landesregierung im Einvernehmen mit dem Minister des In­nern beantwortet.

  1. Welche Erkenntnisse zur landesweiten Versorgungssituation bzw. niedrigschwel-ligen Hilfe in psychischen Krisensituationen über die Öffnungszeiten der Sozial­psychiatrischen Dienste hinaus liegen der Landesregierung vor?
  2. Welche Erkenntnisse hat die Landesregierung zur Angebotssituation psychosozi­aler Krisenanlaufstellen im Sinne einer ambulanten Krisenhilfe rund um die Uhr in NRW?

Die Fragen 1 und 4 werden aufgrund des Sachzusammenhanges gemeinsam beantwortet.

Nach Kenntnis der Landesregierung gibt es bisher nur in wenigen Regionen Krisendienste außerhalb der Öffnungszeiten der Sozialpsychiatrischen Dienste. Die vorhandenen Krisen­dienste unterscheiden sich in ihrer Trägerschaft (Kommune, gGmbH, eingetragener Verein). Die Krisendienste sind in der Regel in der Woche abends bis 22.00 Uhr und teilweise die ganze Nacht, an den Wochenenden überwiegend rund um die Uhr besetzt.

Das Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales (MAGS) hat im Rahmen der für die Er­stellung des Landespsychiatrieplans in Auftrag gegebenen Bestandsaufnahme (2016) Daten und Informationen zu Krisendiensten erheben lassen (abrufbar unter https://www.mags.nrw/psychiatrie). Im Rahmen der Fortschreibung des Landespsychiatrie-plans in diesem Jahr wird eine neue Bestandsaufnahme zur Versorgungsstruktur in Auftrag gegeben. Zudem wird es eine Arbeitsgruppe „Ausbau und Verankerung von niedrigschwelli-gen Hilfen in Krisen“ zur Fortschreibung des Landespsychiatrieplans geben.

  1. Wie entwickelte sich die Anzahl der Einsätze ärztlicher Not- und Rettungsdienste gemäß § 2 Rettungsgesetz NRW anlässlich psychischer Krisensituationen in den vergangenen Jahren? (Bitte für die Jahre 2020 bis heute gesondert aufschlüsseln)

Jährlich werden durch das MAGS die Gesamteinsatzzahlen für die Notfallrettung und den Krankentransport über die Kreise und kreisfreien Städte als Träger des Rettungsdienstes er­hoben. Der Landesregierung liegen für den Bereich Rettungswesen keine eigenen, nach me­dizinischen Einsatzindikationen aufgeschlüsselten Daten vor. Eine mit einer manuellen Auswertung verbundene Abfrage bei den Kreisen und kreisfreien Städten als Trägern des Ret­tungsdienstes für die angefragten Zeiträume sowie mit den geforderten einsatzspezifischen Differenzierungs-kriterien ist innerhalb der für die Beantwortung der Kleinen Anfrage zur Ver­fügung stehenden Zeit mit vertretbarem Aufwand nicht möglich.

  1. Welche Mittel wurden aus dem Pakt für den Öffentlichen Gesundheitsdienst zur Förderung der Versorgungssituation im Bereich der Sozialpsychiatrischen Dienste eingesetzt? (Bitte die Mittel für die Jahre 2021 bis 2022 und für das Jahr 2023 bis zum 30.04. aufschlüsseln)

Im Rahmen des von Bund und Ländern im September 2020 geschlossenen Paktes für den Öffentlichen Gesundheitsdienst (ÖGD) stellt der Bund den Ländern vom 1. Februar 2020 bis zum 31. Dezember 2026 Finanzmittel zur Stärkung des ÖGD, u. a. im Sinne eines nachhalti­gen Personalaufbaus, zur Verfügung. Der personelle Aufbau orientiert sich dabei auf allen Ebenen am „Leitbild des ÖGD“ gemäß Beschluss der 91. Gesundheitsministerkonferenz und schließt damit den Personalaufwuchs in allen dort beschriebenen Aufgabenbereichen des ÖGD ein. Dazu zählt auch der Bereich der „Gesundheitshilfe“, der unter anderem die Sozial­psychiatrie umfasst. Das MAGS weist bei der Umsetzung des Förderverfahrens für den Per­sonalaufwuchs im ÖGD stets auf die Notwendigkeit des Personalaufbaus auf allen Ebenen und in allen Aufgabenbereichen des ÖGD hin. Die jeweilige Organisations- und Personalhoheit obliegt den Kreisen und kreisfreien Städten in eigener Zuständigkeit, so dass diese autonom über die Ausgestaltung des Personalaufwuchses im ÖGD entscheiden.

Zum Personalaufbau im Rahmen des Paktes für den ÖGD wird jährlich ein bundesweit ein­heitliches Monitoring zur landesweiten Stellenschaffung und -besetzung sowie zur Mittelver­ausgabung durchgeführt, welches jedoch keine Ausweisung der Mittelverausgabung für ein­zelne Aufgabenbereiche des ÖGD vorsieht. Vor diesem Hintergrund liegen dem MAGS keine Erkenntnisse zur Mittelverausgabung ausschließlich für den Bereich der Sozialpsychiatrie bzw. der Sozialpsychiatrischen Dienste vor.

  1. Wie werden eingesetzte Polizeikräfte auf Einsätze, die (auch) mit einer psychischen Krisensituation im Zusammenhang stehen?

Die Aus- und Fortbildung der Polizei Nordrhein-Westfalen stellt das Fundament für rechts­staatliches, den Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit entsprechendes Einschreiten von Poli­zeibeamtinnen und Polizeibeamten dar. Dies schließt die Hilfe und zeitnahe Versorgung von Menschen in seelischen und emotionalen Notlagen mit ein.

Im Rahmen des dreijährigen Bachelorstudiengangs an der Hochschule für Polizei und öffent­liche Verwaltung NRW (HSPV NRW) erlernen die Kommissaranwärterinnen und Kommissa­ranwärter unter anderem allgemeine Merkmale psychischer Störungen und in der Folge zwi­schen gewalttätigem Verhalten und relevanten psychischen Störungen zu differenzieren. Die Ausbildung ist als Duales Studium angelegt, in dem fortlaufend theoretische Inhalte vermittelt werden, die dann in Trainings, u. a. in Form von Rollenspielen und zuletzt in der Praxis ange­wendet werden (Prinzip Theorie-Training-Praxis).

Im Rahmen des Moduls „Training Sozialer Kompetenzen“ (TSK) werden sie u. a. in die Lage versetzt, sich angemessen zu verhalten und erforderlichenfalls notwendige organisatorische Maßnahmen im Umgang mit psychisch auffälligen bzw. kranken und hilflosen Personen ein­zuleiten. Überdies gibt es weitere Inhalte und Module, die sich speziell mit der Bewältigung von Konfliktsituation befassen. Die angehenden Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten werden in den Fächern Soziologie und Psychologie, dem Fachmodultraining „Gefahrenab-wehr/Einsatz“, in den Berufspraktischen Trainings „Schießen/Nichtschießen“ und „Eingriffs­techniken“ sowie im Rahmen des Einsatztrainings innerhalb der dreijährigen Ausbildungszeit geschult. Wiederkehrend werden dabei Inhalte zu der Thematik „Umgang mit psychisch kran­ken Menschen“ trainiert.

Aufbauend auf den Inhalten der Ausbildung absolvieren die Polizeibeamtinnen und Polizeibe­amten des Landes Nordrhein-Westfalen ihrer Funktion zugeordnete Fortbildungsmaßnahmen. Trainings im Zusammenhang mit dem Umgang psychisch auffälliger oder kranker Personen finden dabei im landesweit einheitlichen, regelmäßig verpflichtend zu absolvierenden Einsatz­training NRW (ET NRW), das sich inhaltlich an der jeweiligen Aufgabenwahrnehmung orien­tiert, statt. Um die Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten noch besser auf Situationen vorzu­bereiten, in denen sie auf Menschen in psychischen Ausnahmesituationen treffen, erfolgt seit April 2023 die Umsetzung eines multimedialen Drei-Stufen-Konzeptes. Das Konzept hat die Verdoppelung des Situationstrainings, die Wissensvermittlung und Sensibilisierung für alle Po­lizeibeamtinnen und Polizeibeamten durch einen Podcast sowie die spezielle und ver­pflichtende Beschulung aller Führungskräfte des Wachdienstes sowie der Dienstgruppenleiterinnen und Dienstgruppenleiter der Leitstellen zum Inhalt.

 

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