Kleine Anfrage 239
der Abgeordneten Enxhi Seli-Zacharias vom 01.08.2022
Antiziganistische Straftaten im ersten Halbjahr 2022 – Notwendigkeit einer eigenen Meldestelle für Handlungen unterhalb der Strafbarkeitsgrenze
Wie eine Kleine Anfrage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ergab, wurden im Jahre 2021 im Kriminalpolizeilichen Meldedienst Politisch motivierte Kriminalität (KPMD-PMK) in Nordrhein-Westfalen 25 Straftaten mit antiziganistischem Hintergrund erfasst, davon 4 Gewaltdelikte.1 Dabei wurde kein Tatverdächtiger wegen einer antiziganistischen Straftat festgenommen. In allen 25 Fällen wurden Ermittlungsverfahren eingeleitet. Die Straftaten verteilten sich wie folgt auf die unterschiedlichen Deliktbereiche:
- Körperverletzungsdelikt (§ 224 StGB): 1 Fall
- Nötigungs- oder Bedrohungsdelikt (§ 241 StGB): 2 Fälle
- Volkverhetzungsdelikt (§ 130 StGB): 11 Fälle
- Sachbeschädigungsdelikt (§ 303 StGB): 1 Fall
- Beleidigungsdelikt (§ 185 StGB): 10 Fälle
Trotz der relativ geringen Fallzahl konnte die Landesregierung seinerzeit keine Angaben zur Anzahl der Anklagen, Verurteilungen oder ggf. auch zur Einstellung von Ermittlungen – inkl. der Gründe dafür – machen. Ebenso wurde seinerzeit nicht angegeben, in wie vielen Fällen ein Täter ermittelt werden konnte, was für eine korrekte Einstufung in die unterschiedlichen PMK-Kategorien erforderlich wäre.
Auch unabhängig davon stellt sich die Frage nach der Notwendigkeit einer eigenen Meldestelle bei nur 2 strafrechtsrelevanten, angezeigten Vorkommnissen pro Monat.
Ich frage daher die Landesregierung:
- Warum ist es – nach Ansicht der Landesregierung – den bestehenden Antidiskriminierungsstellen in Anbetracht der geringen Fallzahl nicht möglich, antiziganistische Vorfälle entgegenzunehmen, um diese bei Verdacht auf eine strafrechtliche Relevanz an die entsprechenden Stellen weiterzuleiten?
- Welchen deutlichen Mehrwert hätte – in Anbetracht der anfallenden Kosten für den Aufbau und Betrieb einer Meldestelle – die geplante Meldestelle Antiziganismus in Bezug auf strafrechtlich relevante Vorfälle?
- Seit 2017 werden antiziganistische Straftaten gesondert in der Statistik des KPMD-PMK in Nordrhein-Westfalen erfasst. Wie viele antiziganistische Straftaten wurden in den Jahren 2017 bis 2021 sowie im ersten Halbjahr 2022 verzeichnet? (Bitte differenziert nach Jahr, Anzahl, Straftatbestand und PMK-Einstufung auflisten)
- In wie vielen der unter Frage 3 erfragten Fälle konnte kein Täter ermittelt werden? (Bitte differenziert nach Jahr, Anzahl, Straftatbestand und PMK-Einstufung auflisten)
- Wie definiert die Landesregierung meldewürdige, aber legale Sachverhalte unterhalb der Strafbarkeitsgrenze – folglich sind auch z.B. Beleidigungs- und Volksverhetzungsdelikte ausgenommen – im Zusammenhang mit der geplanten Meldestelle Antiziganismus?
Enxhi Seli-Zacharias
1 Vgl. Lt.-Vorlage 17/16667
Die Ministerin für Kinder, Jugend, Familie, Gleichstellung, Flucht und Integration hat die Kleine Anfrage 239 mit Schreiben vom 1. September 2022 namens der Landesregierung im Einvernehmen mit dem Minister des Innern beantwortet.
Vorbemerkung der Landesregierung
Die Kleine Anfrage 239 korrespondiert für die Jahre 2017 bis 2020 mit der Kleinen Anfrage 4209 (LT-Drs. 17/10482) und für das Jahr 2021 mit den Kleinen Anfragen 4844 (LT-Drs. 17/12361) und 6384 (LT-Drs. 17/16430).
Die aktuelle Auswertung (Stand 05.08.2022) der antiziganistischen Fallzahlen für das Jahr 2020 ergab eine Differenz von einer Straftat gegenüber den Fallzahlen, die im Januar 2021 im Rahmen der Kleinen Anfrage 4844 ausgewertet wurden. Die Abweichung ist dadurch begründet, dass zum Auswertungszeitpunkt (01.02.2021) der Fallzahlenabgleich mit dem BKA noch nicht abgeschlossen war und es sich entsprechend der damaligen Vorbemerkung um vorläufige Fallzahlen gehandelt hat.
Die statistische Erfassung „Politisch motivierter Kriminalität“ (PMK) erfolgt bundesweit einheitlich auf der Grundlage des im Jahr 2001 von der Ständigen Konferenz der Innenminister und -senatoren der Länder beschlossenen Definitionssystems „Politisch motivierte Kriminalität“.
Der PMK werden demnach Straftaten zugeordnet, wenn in Würdigung der Umstände der Tat und/oder der Einstellung des Täters Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass sie
- den demokratischen Willensbildungsprozess beeinflussen sollen, der Erreichung oder Verhinderung politischer Ziele dienen oder sich gegen die Realisierung politischer Entscheidungen richten;
- sich gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung bzw. eines ihrer Wesensmerkmale, den Bestand und die Sicherheit des Bundes oder eines Landes richten oder eine ungesetzliche Beeinträchtigung der Amtsführung von Mitgliedern der Verfassungsorgane des Bundes oder eines Landes zum Ziel haben;
- durch Anwendung von Gewalt oder darauf gerichtete Vorbereitungshandlungen auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährden;
- gegen eine Person wegen ihrer politischen Einstellung, Nationalität, Volkszugehörigkeit, Rasse, Hautfarbe, Religion, Weltanschauung, Herkunft oder aufgrund ihres äußeren Erscheinungsbildes, ihrer Behinderung, ihrer sexuellen Orientierung oder ihres gesellschaftlichen Status gerichtet sind und die Tathandlung damit im Kausalzusammenhang steht bzw. sich in diesem Zusammenhang gegen eine Institution/Sache oder ein Objekt richtet.
Darüber hinaus gehören Straftaten gemäß der §§ 80a-83, 84-86a, 87-91, 94-100a, 102-104a, 105-108e, 109-109h, 129a, 129b, 130, 192a, 234a oder 241a Strafgesetzbuch als Staats-schutzdelikte zur PMK, selbst wenn im Einzelfall eine politische Motivation nicht festgestellt werden kann.
Politisch motivierte Straftaten werden hinsichtlich des Begründungszusammenhangs (Motiv) einem oder mehreren Themenfeldern zugeordnet.
Datenquelle zur Beantwortung der Fragen ist der Kriminalpolizeiliche Meldedienst in Fällen der Politisch motivierten Kriminalität (KPMD-PMK).
Die Erhebung der Fallzahlen für das Jahr 2022 ist noch nicht abgeschlossen, weshalb die in diesem Bericht angegebenen Fallzahlen als vorläufig zu betrachten sind.
- Warum ist es – nach Ansicht der Landesregierung – den bestehenden Antidiskriminierungsstellen in Anbetracht der geringen Fallzahl nicht möglich, antiziganistische Vorfälle entgegenzunehmen, um diese bei Verdacht auf eine strafrechtliche Relevanz an die entsprechenden Stellen weiterzuleiten?
- Welchen deutlichen Mehrwert hätte – in Anbetracht der anfallenden Kosten für den Aufbau und Betrieb einer Meldestelle – die geplante Meldestelle Antiziganismus in Bezug auf strafrechtlich relevante Vorfälle?
Die Fragen 1 und 2 werden aufgrund des Sachzusammenhangs gemeinsam beantwortet:
Die Aufgaben der Meldestellen unterscheiden sich von denen der Antidiskriminierungsstellen. Zur Unterscheidung verweist die Landesregierung auf die Antwort zur Kleinen Anfrage 6421, Drucksache 17/16779.
Es ist darüber hinaus zu betonen, dass aufgrund der besonderen Geschichte sowie der empirischen Befunde Antiziganismus als eigene Form der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit zu qualifizieren ist, die sich von anderen Formen des Rassismus klar unterscheidet. Daraus erwächst die Notwendigkeit, zielgruppenspezifische Angebote zu erarbeiten. Die Forderung nach einem zivilgesellschaftlichem Monitoring antiziganistischer Vorfälle findet sich dabei unter anderem im Bericht der unabhängigen Kommission Antiziganismus von 2021 sowie im neuen strategischen EU-Rahmen zur Gleichstellung, Inklusion und Teilhabe der Roma. Personenbezogene Anzeigen sind auch weiterhin ausschließlich an die Polizei zu richten.
- Seit 2017 werden antiziganistische Straftaten gesondert in der Statistik des KPMD-PMK in Nordrhein-Westfalen erfasst. Wie viele antiziganistische Straftaten wurden in den Jahren 2017 bis 2021 sowie im ersten Halbjahr 2022 verzeichnet? (Bitte differenziert nach Jahr, Anzahl, Straftatbestand und PMK-Einstufung auflisten)
Für den Zeitraum vom 01.01.2017 bis zum 30.06.2022 sind bisher 76 Straftaten im Sachzusammenhang erfasst worden. Die gewünschte Auflistung bitte ich der beigefügten Anlage 1 zu entnehmen.
- In wie vielen der unter Frage 3 erfragten Fälle konnte kein Täter ermittelt werden? (Bitte differenziert nach Jahr, Anzahl, Straftatbestand und PMK-Einstufung auflisten)
Von den zuvor genannten 76 Straftaten konnte in 26 Fällen kein Tatverdächtiger ermittelt werden. Weitere Informationen bitte ich der beigefügten Anlage 2 zu entnehmen.
- Wie definiert die Landesregierung meldewürdige, aber legale Sachverhalte unterhalb der Strafbarkeitsgrenze – folglich sind auch z.B. Beleidigungs- und Volksver-hetzungsdelikte ausgenommen – im Zusammenhang mit der geplanten Meldestelle Antiziganismus?
Zur Beantwortung wird auf die Antwort zur Kleinen Anfrage 156 verwiesen.