Auswirkungen des EuGH-Urteils zum Familiennachzug für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (UMA) auf NRW

Kleine Anfrage

Kleine Anfrage 297
der Abgeordneten Enxhi Seli-Zacharias vom 08.08.2022

 

Auswirkungen des EuGH-Urteils zum Familiennachzug für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (UMA) auf NRW

Nach einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH, Urt. v. 01.08.2022, Az. C-273/20 und C-355/20) auf ein Vorabentscheidungsersuchen des Bundesverwaltungsgerichts hin (BVerwG, Beschl. v. 23.04.2020, Az. 1 C 9.19) dürfen unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (UMA) ihre Familien in die EU nachholen, selbst wenn die einstigen Minderjährigen im Laufe des Verfahrens volljährig werden. Die anderslautende bisherige deutsche Praxis sei europarechtswidrig. Danach komme es bei der Beurteilung der Minderjährigkeit auf den Zeitpunkt an, zu dem der betreffende unbegleitete minderjährige Ausländer internationalen Schutz beantragt hat. Maßgeblich sei die Richtlinie 2003/86/EG. Beim Recht auf Familienzusammenführung sei das Ziel der Schutz Minderjähriger, die Achtung des Privat-und Familienlebens und das Kindeswohl. Die Richtlinie stehe der „nationalen Regelung entgegen“ gem. § 36 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG).1

Eine Große Anfrage der AfD-Fraktion2 hat seinerzeit ergeben, dass es erhebliche Defizite bei der Altersfeststellung gibt. Obwohl sich die Mehrzahl der Personen im Alter von 16 bis unter 18 Jahren befand, erfolgte im Jahre 2019 in nur 5 von 100 Fällen eine medizinische Altersfeststellung. Dies erfolgte stattdessen in der Regel per Eigenauskunft bzw. Inaugenscheinnahme durch Mitarbeiter des Jugendamts. Dies begründet sich in fehlenden Ausweispapieren. Dieses Vorgehen ist jetzt auch vor dem Hintergrund des EuGH-Urteils prekär, da die möglichen Auswirkungen einer falschen Altersbestimmung evident sind.

Von erheblichem Umfang waren bei der letzten Abfrage für das Jahr 20213 die an die Jugendämter ausgezahlten Aufwendungserstattungen, z.B. 23,8 Mio. Euro für die Stadt Düsseldorf, 29,7 Mio. Euro für die Stadt Köln oder 5,5 Mio. Euro für die Stadt Gelsenkirchen.

Ich frage daher die Landesregierung:

  1. Wie viele Inobhutnahmen von Kindern und Jugendlichen auf Grund einer unbegleiteten Einreise Minderjähriger gab es in den Jahren 2020, 2021 sowie im ersten Halbjahr 2022? (Bitte differenziert nach Kreis bzw. kreisfreier Stadt, analog zur Antwort auf die Kleine Anfrage 4998, Lt.-Drucksache 17/13109, nach Altersstruktur und nach Nationalität auflisten)
  2. Wie hoch waren die in den Jahren 2020 und 2021 an die Jugendämter ausgezahlten Aufwendungserstattungen? (Bitte differenziert nach Kreis bzw. kreisfreier Stadt, analog zur Antwort auf die Kleine Anfrage 4998, Lt.-Drucksache 17/13109 auflisten)
  3. Im Rahmen der Großen Anfrage 21 schlüsselte die Landesregierung letztmalig auf, welche Methoden zur Altersfeststellung herangezogen wurden. Betrachtet wurden dabei die Jahre von 2014 bis 2019.4 Welche Werte ergeben sich für die Jahre 2020 und 2021?
  4. Wie viele UMA wären nach Schätzung der Landesregierung derzeit vom Urteil des EuGH betroffen?
  5. Mit welchen finanziellen Mehrbelastungen durch das Urteil des EuGH für das Land NRW und die betroffenen Kommunen rechnet die Landesregierung?

Enxhi Seli-Zacharias

 

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1 Vgl. https://www.lto.de/recht/nachrichten/n/eugh-c-273-20-c-355-20-zeitpunkt-antrag-familiennachzug-m inderjaehrige-fluechtlinge-volljaehrigkeit

2 Vgl. Große Anfrage 21; Lt.-Drucksache 17/10695; Anlagen 25-27

3 Vgl. Lt.-Drucksache 17/13109


Die Ministerin für Kinder, Jugend, Familie, Gleichstellung, Flucht und Integration hat die Kleine Anfrage 297 mit Schreiben vom 8. September 2022 namens der Landesregierung im Einvernehmen mit dem Minister der Finanzen sowie der Ministerin für Heimat, Kommunales, Bau und Digitalisierung beantwortet.

Vorbemerkung der Landesregierung

Es wird darauf hingewiesen, dass die Beantwortung der Großen Anfrage 21 der 17. Landtags­periode, Landtags-Drucksache 17/10695, entgegen der in der nun vorliegenden Kleinen An­frage 297 dargestellten Interpretation keine Defizite im Altersfeststellungsverfahren bei unbe­gleiteten Minderjährigen ergeben hat, sondern dargelegt hat, dass die nordrhein-westfälischen Jugendämter das bundesgesetzlich vorgeschriebene dreistufige Verfahren gemäß § 42f SGB VIII umsetzen.

  1. Wie viele Inobhutnahmen von Kindern und Jugendlichen auf Grund einer unbe­gleiteten Einreise Minderjähriger gab es in den Jahren 2020, 2021 sowie im ersten Halbjahr 2022? (Bitte differenziert nach Kreis bzw. kreisfreier Stadt, analog zur Antwort auf die Kleine Anfrage 4998, Lt.-Drucksache 17/13109, nach Altersstruk­tur und nach Nationalität auflisten)

Aus der Statistik für Kinder- und Jugendhilfe zu vorläufigen Schutzmaßnahmen von IT-NRW ergibt sich für das Jahr 2020 eine Gesamtzahl von 1.796 Inobhutnahmen mit dem Merkmal „Anlass der Maßnahme – unbegleitete Einreise aus dem Ausland“ und für das Jahr 2021 eine Gesamtzahl von 2.490 Inobhutnahmen mit dem Merkmal „Anlass der Maßnahme – unbeglei­tete Einreise aus dem Ausland“. Die Angaben enthalten sowohl vorläufige Inobhutnahmen nach § 42a SGB VIII als auch reguläre Inobhutnahmen nach § 42 SGB VIII, sodass es zu Dop­pelerfassungen kommt. Wie sich die Inobhutnahmen auch unter Berücksichtigung der Alters­struktur in den jeweiligen Jahren auf die Kreise und kreisfreien Städte verteilen, kann Anlage 1 entnommen werden. Eine Differenzierung nach Staatsangehörigkeiten ist nicht möglich. Eine Auswertung für das erste Halbjahr 2022 liegt der Landesregierung noch nicht vor.

  1. Wie hoch waren die in den Jahren 2020 und 2021 an die Jugendämter ausgezahl­ten Aufwendungserstattungen? (Bitte differenziert nach Kreis bzw. kreisfreier Stadt, analog zur Antwort auf die Kleine Anfrage 4998, Lt.-Drucksache 17/13109 auflisten)

Die im Jahr 2020 an die Jugendämter ausgezahlten Aufwendungserstattungen nach § 89d SGB VIII wurden bereits mit Beantwortung der Kleinen Anfrage 4998 beantwortet und können gemeinsam mit den Angaben zum Jahr 2021 der Anlage 2 entnommen werden. Diese Zahlen enthalten sowohl Kosten für die Unterbringung, Verpflegung und Betreuung als auch für pädagogische Maßnahmen. Die notwendigen Aufwendungen werden den Kommunen vom Land vollständig erstattet.

Da die Jugendämter diese Kosten bis zu vier Jahre nach Ablauf des Entstehungsjahres frist­wahrend zur Erstattung vorlegen können, sind die ausgezahlten Aufwendungserstattungen im jeweiligen Haushaltsjahr nicht den entsprechenden jährlichen Kosten zuzuordnen.

  1. Im Rahmen der Großen Anfrage 21 schlüsselte die Landesregierung letztmalig auf, welche Methoden zur Altersfeststellung herangezogen wurden. Betrachtet wurden dabei die Jahre von 2014 bis 2019. Welche Werte ergeben sich für die Jahre 2020 und 2021?

Hierzu liegen der Landesregierung für die Jahre 2020 und 2021 keine Angaben vor. Im Rah­men der Großen Anfrage 21 wurden die Daten für die Jahre 2014 bis 2019 mittels umfangrei­cher Einzelerhebungen gewonnen.

  1. Wie viele UMA wären nach Schätzung der Landesregierung derzeit vom Urteil des EuGH betroffen?
  2. Mit welchen finanziellen Mehrbelastungen durch das Urteil des EuGH für das Land NRW und die betroffenen Kommunen rechnet die Landesregierung?

Die Fragen 4 und 5 werden aufgrund des Sachzusammenhangs gemeinsam beantwortet. Die Zuständigkeit für Visaverfahren liegt bei den jeweiligen Botschaften im Herkunftsland. Vor die­sem Hintergrund liegen der Landesregierung weder statistische Daten im Sinne der Frage 4 vor, noch kann eine valide Aussage zur Frage 5 erfolgen.

 

Antwort samt Anlage als PDF