Bedarfsgerechte Behandlung von Alopecia areata (Kreisrundem Haarausfall)

Antrag
vom 15.08.2023

Antrag

der Fraktion der AfD

Bedarfsgerechte Behandlung von Alopecia areata (Kreisrundem Haarausfall)

I. Ausgangslage

Alopecia areata (kreisrunder Haarausfall) ist mit einer Lebenszeitprävalenz von 2 Prozent eine der häufigsten chronischen Autoimmunerkrankungen.1 Sie tritt auf, wenn das körpereigene Immunsystem die eigenen Haarfollikel im Anagenstadium, also in der Wachstumsphase, an­greift und das Haarwachstum unterdrückt. Dies führt zu Haarausfall und kann unterschiedliche Ausprägungen haben, von vereinzelten, teils kreisrunden kahlen Stellen an der Kopfhaut („patch-type“ Alopecia areata) bis hin zu einem vollständen Verlust der Kopfbehaarung (Al-opecia totalis) oder sogar der gesamten Körperbehaarung (Alopecia universalis).

Die genaue Ursache von Alopecia areata ist bisher nicht vollständig verstanden, es wird aber angenommen, dass sowohl genetische Veranlagung als auch Umweltfaktoren eine Rolle spie­len. Es wird vermutet, dass ein Zusammenspiel dieser Faktoren das Immunsystem dazu ver­anlasst, irrtümlicherweise die Haarfollikel als fremd anzuerkennen und eine Immunreaktion gegen sie auszulösen. Dabei sammeln sich T-Zell-Lymphozyten um die betroffenen Follikel und verursachen Entzündungen, die letztendlich zum Haarausfall führen. Grundsätzlich wird bei der Autoimmunerkrankung Alopecia areata das Stammzellkompartiment verschont, so­dass lediglich die Basis des Haarfollikels, die von infiltrierenden Lymphozyten umgeben ist, angegriffen wird. Trotz dieser deutlichen Veränderung im Haarfollikel gibt es keine dauerhafte Zerstörung des Organs und ein Nachwachsen der Haare bleibt möglich.

Obwohl die Immunreaktion auf die Haarfollikel begrenzt bleibt, ist die Auswirkung auf die Le­bensqualität der Betroffenen teils enorm. Es existieren keine offiziellen statistischen Daten zur Anzahl der Personen in Deutschland, die unter Alopecia areata leiden. Schätzungen zufolge könnten in Deutschland zwischen 830.000 bis 1,5 Millionen2 Menschen von Alopecia areata betroffen sein. Die Erkrankung betrifft Menschen aller Altersgruppen, beider Geschlechter und kann sowohl bei Kindern als auch bei Erwachsenen auftreten.

Im Jahr 2010 wurde eine genomweite Assoziationsstudie mit 1.054 Fällen von Alopecia areata und 3.278 Kontrollen durchgeführt. Dabei konnte insbesondere eine psychodermatologische Verbindung festgestellt werden, bei der Beeinträchtigungen bei psychischen Begleiterkrankungen und Störungen sowie des psychischen Wohlbefindens und Selbstwert­gefühls als pathogene Auslöser für Alopecia areata wirken.3

Darüber hinaus untersuchte eine Studie aus Großbritannien im Zeitraum von 2009 bis 2018 das gleichzeitige Auftreten von Depressionen und Angststörungen bei Erwachsenen mit Al-opecia areata (AA) im Vergleich zur allgemeinen Bevölkerung. Dafür wurden insgesamt 5.435 Personen mit neu diagnostizierter AA aus der Primärversorgung mit 21.740 Kontrollpersonen verglichen. Die Ergebnisse zeigten deutlich, dass Depressionen und Angststörungen bei den Personen mit AA häufiger auftraten als bei den Kontrollpersonen. Zudem hatten die von AA Betroffenen ein erhöhtes Risiko, später eine neue Depression oder Angststörung zu entwi­ckeln. Darüber hinaus ergab die Studie, dass Personen die unter AA leiden, vermehrt mit Ar­beitsunfähigkeit und Arbeitslosigkeit in Verbindung gebracht werden konnten. Personen mit AA erhielten außerdem eine höhere Rate an Verschreibungen von Antidepressiva.4 Diese Er­gebnisse deuten auf eine erhöhte psychische Belastung und einen größeren Bedarf an men­taler Gesundheitsversorgung bei Personen mit Alopecia areata hin.

Was der Haarverlust bei Menschen psychisch verursacht, haben auch andere Studien unter­sucht. In einer Studie im Jahr 1998 wurden Frauen – alle mit Haarausfall – nach einer Chemo­therapie begleitet. Dabei zeigte sich ein Muster aus mehreren Reaktionen. Zuerst waren die Patientinnen überhaupt nicht vorbereitet, dann zeigten sie sich schockiert und voller Scham, und schließlich verminderte sich ihr Selbstwertgefühl. Für manche Frauen war der Haarverlust psychologisch sogar schwieriger zu verkraften als die Amputation einer Brust durch Krebs. Auch bei Kindern mit Alopecia areata wurden psychologische Probleme wie vermehrte Ängst­lichkeit, Depressionen, Zurückgezogenheit und Aggressivität festgestellt. Dabei litten Mäd­chen stärker als Jungen.5

Auch in einem medizinischen Fachartikel in der Zeitschrift „Kompass Dermatologie“ in diesem Jahr heißt es: „Insbesondere für Kinder und Jugendliche, die sich in einer wichtigen persönli­chen Entwicklungsphase befinden, bedeutet der Haarverlust eine häufig stigmatisierende, ausgrenzende und langanhaltende Belastung für die psychische Gesundheit, die zu Ein­schränkung von Selbstbewusstsein und Lebensqualität, bis hin zu Isolation, sozialem Rückzug und psychischen Erkrankungen, wie z. B. Depressionen und Angstzuständen und auch Be­einträchtigung der schulischen Leistung führen kann […].“6

Der individuelle Umgang und Behandlung der Erkrankung variiert je nach betroffener Person, und keine der derzeit verfügbaren therapeutischen Möglichkeiten weist eine heilende oder präventive Wirkung auf. Dies impliziert, dass, selbst wenn durch therapeutische Maßnahmen das Nachwachsen der Haare erreicht wird, ein erneuter Haarausfall eintreten kann, sobald die Behandlungsmaßnahmen abgesetzt werden. Auch die objektive Bewertung der Wirksamkeit der Behandlung ist grundsätzlich sehr schwierig, denn zum Beispiel sind spontane Remissio-nen nicht vorhersehbar. Wenn der betroffene Haarbereich jedoch fleckig ist, kann das Haar in einigen Fällen ohne therapeutischen Maßnahmen spontan nachwachsen. Bei zunehmenden Auftreten des Haarverlusts, insbesondere auf der Kopfhaut, erreichen viele Betroffene einen Punkt, an dem sie therapeutische Unterstützung wünschen, sei es in Form von Medikamenten, Haarersatz oder psychologischem Beistand.

Dabei sind die geläufigsten Behandlungsmethoden der Pharmakotherapie für Alopecia areata:

  • Kortikosteroid-Injektionen: Injektionen von Kortikosteroiden in die betroffenen Hautbe­reiche können das Haarwachstum stimulieren und Entzündungen reduzieren.
  • Topische Kortikosteroide: Kortikosteroid-Cremes oder -Lotionen können auf die betroffe­nen Hautstellen aufgetragen werden, um Entzündungen zu verringern und das Haar­wachstum zu fördern.
  • Topisches Minoxidil: Minoxidil ist ein Haarwuchsmittel, das auch bei Alopecia areata an­gewendet werden kann, um das Nachwachsen der Haare zu fördern.
  • Immuntherapie: Eine Behandlungsmethode, bei der ein Allergen auf die Haut aufgetra­gen wird, um eine allergische Reaktion auszulösen, die das Haarwachstum stimuliert.
  • Topisches Anthralin: Anthralin ist ein Medikament, das auf die betroffenen Hautstellen aufgetragen wird, Entzündungen reduzieren und das Haarwachstum fördern kann.

Im Juni 2022 wurde mit dem JAK-Inhibitor Baricitinib die erste systemische Therapie zur Be­handlung der fortgeschrittenen Alopecia areata zuerst von FDA, dann auch von der EMA zu­gelassen. Baricitinib hemmt die Janus-Kinasen 1 und 2, die für die intrazelluläre Signalfortlei-tung von sowohl IFN-γ als auch IL-15 benötigt werden. IFN-γ ist das primäre Zytokin, über das es zum Kollaps des Immunprivilegs des Haarfollikels kommt, während IL-15 eine wichtige Rolle in der Aktivierung der T-Zellen spielt. Somit hemmt Baricitinib zwei wichtige Mechanis­men in der Entstehung der Alopecia areata.

Mit über 1200 Patienten in den beiden Phase-3-Studien gibt es bisher unerreichte Evidenz für die Wirksamkeit von Baricitinib. In den beiden Studien wurden ausschließlich Patienten mit einem SALT-Score > 50, also mindestens 50 Prozent Verlust der Kopfbehaarung, einge­schlossen. Als primärer Endpunkt wurde ein SALT-Score von 20 oder weniger nach 36 Wo­chen definiert. Insgesamt erreichten 40 Prozent der Patienten unter einer Dosis von Baricitinib 4 mg und 20 Prozent unter einer Therapie mit 2 mg diesen Endpunkt. Die Ansprechrate in der Placebogruppe lag zwischen 3 und 6 Prozent, was zeigt, dass eine Spontanremission bei aus­gedehnter Alopecia areata deutlich seltener ist als bei der lokalisierten Form.7

Im Laufe des Jahres wird die Zulassung von mindestens zwei weiteren Kandidaten aus der Familie der JAK-Inhibitoren erwartet. Auch wenn das Nebenwirkungsspektrum der JAK-Inhi-bitoren (z. B. thromboembolische Komplikationen, erhöhte virale Infektneigung oder kardiale Zwischenfälle) nicht außer Acht gelassen werden darf, stellt diese Medikamentenklasse eine zukünftig vielsprechende Behandlungsoption für Alopecia areata dar.

Unabhängig von der gewählten Behandlungsmethode stehen die Betroffenen mit ihrer Krank­heit allerdings vor einem großen Problem. Denn nach der derzeitigen Gesetzeslage sind die Betroffenen grundsätzlich selbst für die Kosten der Behandlung verantwortlich, sodass die Kosten nicht von der gesetzlichen Krankenkasse übernommen werden. Laut § 34 Abs. 1 S. 7 SGB V sind Arzneimittel, bei denen die Erhöhung der Lebensqualität im Vordergrund steht, von der Versorgung nach § 31 SGB V ausgeschlossen. Bei diesen Arzneimitteln steht die individuelle Bedürfnisbefriedigung im Fokus. Das Wort „Lebensqualität“ ist nicht legaldefiniert, es ergibt sich jedoch aus der Aufzählung im Gesetz, dass solche Arzneimittel erfasst sein sollen, deren Wirkung sich dem persönlichen Wohlbefinden widmen und keinen Bezug zum Versicherungsfall „Krankheit“ aufweisen.

2018 stufte der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) Wirkstoffe zur Behandlung von Alope-cia areata als Lifestyle-Arzneimittel ein. Der Beschluss wurde Ende Dezember 2018 ohne Be­anstandung des Bundesministeriums für Gesundheit im Bundesanzeiger veröffentlicht und ist seither in Kraft. Der G-BA räumte in seiner Begründung zwar ein, dass die Behandlung der Alopecia areata in verschiedenen Schweregraden eine Krankenbehandlung ist und eine Be­lastung für die Betroffen darstellt. Allerdings sei laut G-BA das alleinige Behandlungsziel der Alopecia areata die Verhinderung beziehungsweise Verbesserung des Haarwuchses. „Sofern Arzneimittel dazu dienen den Haarwuchs zu verbessern beziehungsweise den Haarverlust zu verhindern, sind diese gemäß § 34 Abs. 1 Satz 8 SGB V von der Versorgung zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung ausgeschlossen“, so der G-BA in seiner Begründung.8

II. Der Landtag stellt fest,

  • dass Alopecia areata eine (Autoimmun-)Krankheit ist, unter welcher die Betroffenen ent­sprechend leiden;
  • dass für die Therapie von Alopecia areata zwar verordnungsfähige dermatologische Be­handlungen zur Verfügung stehen, die allerdings nicht erstattungsfähig sind.

III. Der Landtag fordert die Landesregierung auf,

sich auf Bundesebene dafür einzusetzen, Rahmenbedingungen zu schaffen, damit Patienten, die an Alopecia areata erkrankt sind, einen bedarfsgerechten Zugang zur medizinischen Be­handlung erhalten. Dazu muss Alopecia areata als Autoimmunerkrankung anerkannt und die Behandlungskosten von der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) übernommen werden.

Dr. Martin Vincentz
Andreas Keith

und Fraktion

 

Antrag als PDF

 

1 Gutierrez Y. et al. (2021). Alopecia areata in the United States: a ten-year analysis of patient charac-teristics, comorbidities, and treatment patterns. Dermatol Online J 27(10):15 (https://escholar-ship.org/uc/item/7b078245)

2 https://www.pfizer.de/newsroom/news-stories/unternehmensblog/wir-sollten-krankheiten-nicht-unter-schiedlich-bewerten

3 https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC2921172/

4 https://academic.oup.com/bjd/article/187/1/73/6705729

5 Picardi, A., & Abeni, D. (2001). Stressful Life Events and Skin Diseases: Disentangling Evidence from Myth. Psychotherapy and Psychosomatics, 70(3), 118–136

6 Kompass Dermatol (2023) 11 (1): 1-3

7 King B. et al. (2022). Two phase 3 trials of baricitinib for alopecia areata. N Engl J Med 386:1687– 1699

8 https://www.bvdd.de/aktuelles-presse/newsroom/hautarztnews/details/g-ba-behandlung-von-alope-cia-aerata-zaehlt-zum-lifestyle/