Kleine Anfrage 1509
der Abgeordneten Andreas Keith und Enxhi Seli-Zacharias vom 13.03.2023
Der Messer-Mörder von Brokstedt: Multiples Behördenversagen?
Die Geschichte des A., der am 25. Januar 2023 in einem Regionalzug von Kiel nach Hamburg mehrere Reisende mit einem Messer schwer verletzte und zwei sogar tötete, ist geprägt von Drogenkonsum, Kriminalität, aber auch durch ein multiples und erhebliches Versagen der Behörden auf Bundes- und Landesebene.
A. ist nach bisherigem Kenntnisstand 2014 nach Deutschland eingereist und sei nach eigenen Angaben „staatlosen Palästinenser“. Behördenvertreter übernahmen auch in öffentlichen Stellungnahmen dieser Behauptung von A. Inzwischen ist jedoch bekannt geworden, dass niemals eine formale Feststellung der Staatenlosigkeit durch die Behörden stattgefunden hatte.
Allein in Nordrhein-Westfalen sind zwischen 2015 und 2021 24 Ermittlungsverfahren geführt worden, unter anderem wegen Diebstahls- und Betrugsdelikten, gefährlicher Körperverletzung, Kindesmissbrauchs, der Vergewaltigung Widerstandsunfähiger, Schwarzfahrens oder Hausfriedensbruchs. Nur in drei Fällen ist A. verurteilt worden; überwiegend sind die Verfahren rechtskräftig eingestellt worden. Die nordrhein-westfälische Justiz prüft derweil eine Wiederaufnahme der Verfahren in vier Fällen.
16 dieser Verfahren weisen einen Bezug zur Stadt Euskirchen auf, in der sich der „Flüchtling“ zeitweise aufhielt. Nach einer Anklageerhebung wegen Unterschlagung ist A. laut Medienberichten dann verschwunden, die Akte ist daraufhin geschlossen worden.
Nur eine Woche vor seiner Bluttat wurde A. aus der Untersuchungshaft in Hamburg entlassen, obwohl er sich dort gewalttätig, teils unkooperativ verhalten und Angaben, die auf eine psychische Erkrankung hinweisen, gemacht hatte.
In einer nicht-öffentlichen Sitzung des Innenausschusses des Bundestages am 8. Februar 2023 kam überdies heraus, dass das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge A. zeitweise fälschlicherweise eine syrische ID-Karte zugeordnet hatte. Zum Zeitpunkt der Erteilung des Schutzstatus 2016 ist dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zudem offenbar nicht bekannt gewesen, dass A. in NRW mehrfach Straftaten verübt hatte.
Unter anderem in der Frage, weshalb ein Verfahren des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF), das die Rücknahme des subsidiären Schutzstatus anstrebte, nicht abgeschlossen worden ist, streiten sich gegenwärtig die Behörden von Hamburg, Schleswig-Holstein und das BAMF. Behördenvertreter tätigen widersprüchliche Aussagen darüber, wann Informationen, zum Beispiel über Inhaftierung und Freilassung interbehördlichen übermittelt worden sind.1
Wir fragen daher die Landesregierung:
- Welche Ausländerbehörden waren in Nordrhein-Westfalen nach Kenntnis der
Landesregierung mit Verwaltungsvorgängen, die A. betreffen, seit dessen Einreise in die Bundesrepublik befasst? (Die Antwort bitte nach Behörde und Zeitpunkt aufschlüsseln.) - Welche Entscheidungen nach dem Aufenthaltsgesetz, die A. betreffen, haben nordrhein-westfälische Ausländerbehörden seit dessen Einreise in die Bundesrepublik getroffen?
- Hat in Nordrhein-Westfalen ein interbehördlicher Austausch nach der Anordnung über die Mitteilung in Strafsachen (MiStra) über Straf- und Ermittlungsverfahren gegen A. stattgefunden? (Bitte nach beteiligten Behörden aufschlüsseln.)
- Haben nordrhein-westfälische Behörden das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge nach der Anordnung über die Mitteilung in Strafsachen (MiStra) jemals über in NRW geführte Straf- und Ermittlungsverfahren gegen A. informiert?
- Wie bewertet das Justizministerium die hohe Zahl rechtskräftiger Einstellungen von Ermittlungsverfahren gegen A. in der Gesamtschau der heutigen personenbezogenen Erkenntnisse?
Andreas Keith
Enxhi Seli-Zacharias
1 Vgl. zu dieser Sachverhaltsdarstellung: Bild (2023): Das große Versagen der Behörden; Focus-Online (2023): Erst eine Woche nach der Tat erfuhr Stadt Kiel über Entlassung von A.; ntv online (2023): A. droht Wiederaufnahme von Verfahren; Spiegel-Online (2023): Offenbar falscher Ausweis in Bamf-Akte von A
Die Ministerin für Kinder, Jugend, Familie, Gleichstellung, Flucht und Integration hat die Kleine Anfrage 1509 mit Schreiben vom 26. April 2023 namens der Landesregierung im Einvernehmen mit dem Minister des Innern und dem Minister der Justiz beantwortet.
- Welche Ausländerbehörden waren in Nordrhein-Westfalen nach Kenntnis der Landesregierung mit Verwaltungsvorgängen, die A. betreffen, seit dessen Einreise in die Bundesrepublik befasst? (Die Antwort bitte nach Behörde und Zeitpunkt aufschlüsseln.)
Die Zentrale Ausländerbehörde Köln und die Ausländerbehörde Kreis Euskirchen waren mit entsprechenden Verwaltungsvorgängen befasst.
- Welche Entscheidungen nach dem Aufenthaltsgesetz, die A. betreffen, haben nordrhein-westfälische Ausländerbehörden seit dessen Einreise in die Bundesrepublik getroffen?
Nach der Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge am 22. Juli 2016 erteilte die zuständige Ausländerbehörde Kreis Euskirchen Fiktionsbescheinigungen bzw. Aufenthaltserlaubnisse gemäß § 25 Abs. 2 Satz 2 Alternative 2 Auf-enthG. Am 01. Dezember 2020 meldete die Ausländerbehörde Kreis Euskirchen den Fortzug nach unbekannt der betroffenen Person.
- Hat in Nordrhein-Westfalen ein interbehördlicher Austausch nach der Anordnung über die Mitteilung in Strafsachen (MiStra) über Straf- und Ermittlungsverfahren gegen A. stattgefunden? (Bitte nach beteiligten Behörden aufschlüsseln.)
Das Ministerium der Justiz hat hierzu mitgeteilt, dass nach der dort vorliegenden Berichtslage in den gegen den Beschuldigten bei der Staatsanwaltschaft Bonn geführten Verfahren Mitteilungen nach der MiStra in den dafür vorgesehenen Fällen wie folgt erteilt worden sind:
- an die Polizei gemäß Nr. 11 Abs. 2 MiStra in vierzehn Verfahren,
- an die bewährungsaufsichtsführende Stelle nach Nr. 13 MiStra in einem Verfahren und
- an die Ausländerbehörde gemäß Nr. 42 MiStra in sieben Verfahren.
Nach einem Bericht des Generalstaatsanwalts in Köln vom 30.01.2023 erfolgten Letztere insbesondere auch in den in der LT-Vorlage 18/806 mitgeteilten Verurteilungsfällen in den Jahren 2016 und 2018.
In den bei der Staatsanwaltschaft Köln gegen den Beschuldigten geführten, allesamt eingestellten Ermittlungsverfahren sind nach Berichts-lage die nach der MiStra vorgesehenen Mitteilungen mit Ausnahme einer Mitteilung nach Nr. 42 Mistra an die Ausländerbehörde erteilt worden.
Der Generalstaatsanwalt in Köln hat dem Ministerium der Justiz mit Bericht vom 23.03.2023 mitgeteilt, die Leitenden Oberstaatsanwälte in Bonn und Köln hätten bereits das Erforderliche veranlasst.
- Haben nordrhein-westfälische Behörden das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge nach der Anordnung über die Mitteilung in Strafsachen (MiStra) jemals über in NRW geführte Straf- und Ermittlungsverfahren gegen A. informiert?
Das Ministerium der Justiz hat hierzu mitgeteilt, dass sich die Mitteilungspflicht gegenüber dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge nach § 8 Absatz 1a AsylG richtet und seit deren Inkrafttreten am 01.05.2019 auch nach Nummer 42a MiStra. Soweit hiernach eine Mitteilung an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in dem Strafverfahren, in dem der Beschuldigte 2016 wegen gefährlicher Körperverletzung verurteilt worden ist (vgl. hierzu die LT-Vorlage 18/806) veranlasst war, wird auf den Inhalt der LT-Vorlage 18/885 Bezug genommen. Nach einem Bericht des Generalstaatsanwalts in Köln vom 05.04.2023 sei in einem, allerdings gemäß § 170 Abs. 2 StPO eingestellten Ermittlungsverfahren die Unterrichtung verspätet erfolgt, da aus den Akten nicht hervorgegangen sei, dass es sich bei dem Beschuldigten um einen Asylbewerber handelte. Der Generalstaatsanwalt in Köln hat am 23.03.2023 berichtet, seitens der Behördenleitung der Staatsanwaltschaft Bonn sei das Erforderliche veranlasst worden, um künftig den vorgesehenen Austausch zwischen Behörden sicherzustellen.
- Wie bewertet das Justizministerium die hohe Zahl rechtskräftiger Einstellungen von Ermittlungsverfahren gegen A in der Gesamtschau der heutigen personenbezogenen Erkenntnisse?
Das Ministerium der Justiz hat hierzu mitgeteilt, dass die Dienst- und Fachaufsicht über staats-anwaltschaftliche Maßnahmen im Geschäftsbereich des Ministeriums der Justiz zunächst durch die örtlich und sachlich zuständige Behördenleitung ausgeübt wird. Der Generalstaatsanwalt in Köln hat in seinem vorbezeichneten Bericht vom 23.03.2023 mitgeteilt, die Leitenden Oberstaatsanwälte in Bonn und Köln hätten ihm ihrerseits berichtet, die Sachentscheidungen bei den Verfahrenseinstellungen begegneten keinen Bedenken.
Soweit die Einstellungen nach Opportunitätsvorschriften erfolgt seien, habe eine Prüfung ergeben, dass sie sich im Rahmen der den Staatsanwaltschaften eingeräumten Beurteilungsspielräumen hielten und sachfremde Erwägungen nicht erkennen ließen.