Erneuter Hilferuf von Essener Kommunalpolitikern: SPD-Bezirksbürgermeister fordert unter Bezugnahme auf das dänische „Ghetto-Gesetz“ radikale Schritte in Altenessen: „Straßenzüge teilweise und Schrottimmobilien komplett abreißen“

Kleine Anfrage
vom 12.10.2021

Kleine Anfrage 6024der Abgeordneten Gabriele Walger-Demolsky und Christian Loose vom 12.10.2021

 

Erneuter Hilferuf von Essener Kommunalpolitikern: SPD-Bezirksbürgermeister fordert unter Bezugnahme auf das dänische „Ghetto-Gesetz“ radikale Schritte in Altenessen: „Straßenzüge teilweise und Schrottimmobilien komplett abreißen“

Am 30. November 2020 berichtete die WAZ von der Empfehlung eines Essener FDP-Lokalpolitikers, Essen-Altenessen zu verlassen.1 Wie eine Kleine Anfrage ergab, konnte die gefühlte Verschlechterung der Sicherheitslage im Essener Norden allerdings nicht mit Zahlen belegt werden. So gab es in den Jahren von 2015 bis 2019 in der Polizeiinspektion Essen Nord der Kreispolizeibehörde Essen – wenn auch auf hohem Niveau – einen starken Rückgang der Straßenkriminalität und einen leichten Rückgang bei der Gewaltkriminalität.2

Auch im Bereich der PMK konnte keine weitere Verschlimmerung der Lage festgestellt werden.3 Ähnliches gilt für die Clan-Kriminalität, die sich zwischen 2016 und 2019 konstant auf einem hohen Niveau bewegte.

Die Möglichkeit einer Aussetzung weiterer Zuweisungen gemäß § 3 FlüAG und § 12a AufenthG in den Essener Norden wurde mit Verweis auf die kommunale Selbstverwaltung von der Landesregierung verworfen.4

Am 2. Oktober 2021 kam jetzt ein erneuter Hilferuf aus dem Essener Norden, dieses Mal von Seiten der SPD-Bezirksbürgermeister.5 Die Menschen fühlten sich unsicher, Migration würde zunehmen, Häuser würden verfallen. Auch auf die Problematik der Zuweisungen wurde erneut eingegangen, da hierbei der Norden eindeutig benachteiligt würde.

Wie die WAZ berichtet, plädieren die Bezirksbürgermeister für einschneidende Maßnahmen: für den Abriss von Schrottimmobilien sowie von Teilen der Altenessener Straße „mit allem Drum und Dran, Gebäude, Geschäfte und die Straße an sich“. Zudem wird die Forderung nach einer stärkeren Polizeipräsenz laut, begründet u.a. durch die Aktivitäten der Clans.

Beklagt wird die Abnahme des Anteils der „Alteingesessenen“ an der Gesamtbevölkerung in Stadtteilen wie Altenessen, Karnap oder Vogelheim. Wie eine statistische Auswertung der Stadt Essen ergab, ist der Stadtbezirk IV, verglichen mit anderen Essener Stadtbezirken, von einem überdurchschnittlichen Anteil ausländischer Mitbürger bzw. von Doppelstaatlern geprägt.6 Diese Konstellation korreliert mit der bekannten Zweiteilung der Stadt Essen, nördlich und südlich der Autobahn A40, wie sie bereits im Jahre 2013 konstatiert wurde.7 Deshalb fordern die Bezirksbürgermeister im Essener Norden jetzt eine differenziertere Betrachtung einzelner Stadtteile bei der Gesetzgebung.

Beklagt wird ein Zustand, nach dem der Essener Norden die Integrationsarbeit für die ganze Stadt leisten würde, und dass sich jene, denen der gesellschaftliche Aufstieg gelungen sei, in Richtung Süden der Stadt orientieren würden. Sollte dem so sein, wäre der weitere Abstieg der betroffenen Stadtteile im Norden quasi unumkehrbar.

Auch auf die Problematik der Schrottimmobilien, speziell im Essener Norden, wurde erneut eingegangen. Die Rede ist dabei von „fehlenden Wohnungstüren und Klingelschildern, Ratten im Hinterhof sowie einem Ausnutzen der ,Armutszuwanderer‘“.5

Als mögliche Lösung wird von Seiten eines SPD-Bezirksbürgermeisters u.a. das dänische „Ghetto-Gesetz“ als Vorbild gesehen. Dabei geht es bei dieser „dänischen Lösung“ längst nicht nur um den teilweisen Abriss und Neubau von Wohngebieten, sondern auch um die jeweilige Bevölkerungsstruktur in den einzelnen Stadtbezirken als Kriterium dieser Maßnahmen.

Anhand einer sogenannten „Ghettoliste“ werden Stadtteile identifiziert, die durch Sozialen Wohnungsbau, einen niedrigen sozioökonomischen Status, relativ hohe Kriminalität und einen hohen Anteil an Zuwanderern gekennzeichnet sind.

Mögliche Kriterien sind dabei der Anteil der Menschen, die weder berufstätig noch in Ausbildung sind, der Anteil der Verurteilten nach Strafgesetzbuch, Waffengesetz oder Betäubungsmittelgesetz, der Anteil der Personen, die lediglich über eine Grundschulbildung verfügen, das Durchschnitts-Brutto-Einkommen der Steuerpflichtigen sowie der Anteil der Zuwanderer bzw. ihrer Nachkommen aus nichtwestlichen Ländern.8

Zur Gruppe der „Westlichen Länder“ gehören nach dänischer Definition neben den EU-Mitgliedsstaaten folgende Länder: Großbritannien, Andorra, Island, Liechtenstein, Monaco, Norwegen, Schweiz, Vatikan, Kanada, USA, Neuseeland und Australien.9

Mögliche Folgen der negativen Einstufung eines Stadtteils können sowohl der Abriss einiger Gebäude als auch die Umsiedlung von Bewohnern in andere Gebiete sein. So sollen in einem Aarhuser Vorort 1.000 Wohnungen abgerissen werden.10

Im Zusammenhang mit der Erstellung der ersten „Ghetto-Liste“ im Jahre 2010 entwickelte die dänische Regierung einen 32-Punkte-Maßnahmenplan, der in folgende fünf Bereiche untergliedert wurde:11

  1. Schaffung attraktiverer Wohngebiete, welche die Isolation durchbrechen können
  2. Besseres Gleichgewicht bei der Zusammensetzung der Bewohner
  3. Stärkere Anstrengungen für Kinder und Jugendliche
  4. Abkehr von Sozialhilfe, welche Bewohner vom Arbeitsmarkt fernhält
  5. Bekämpfung von Sozialbetrug und Kriminalität.

Das „Getto-Gesetz“ und die damit verbundenen Maßnahmen werden auch von der aktuellen dänischen Regierung unter der Ministerpräsidentin Mette Frederiksen (Sozialdemokraten) geteilt. Dänemark gehört zu einem der Länder in Europa mit den härtesten Einwanderungs-und Asylgesetzen, die allerdings im gesamten Parteienspektrum eine große Zustimmung erfahren.

Wir fragen daher die Landesregierung:

  1. Inwiefern sieht die Landesregierung, auf Grundlage der besonderen Situation im Essener Norden, die Möglichkeit, weitere Zuweisungen gemäß § 3 FlüAG und § 12a AufenthG an die Stadt Essen mindestens temporär auszusetzen?
  2. Wie hat sich in den Jahren von 2014 bis 2021 der aktive Personalstand in der PI Nord der KPB Essen entwickelt? (Bitte differenziert nach Polizeivollzugsbeamten, Regierungsbeschäftigten im Polizeidienst und Jahr auflisten)
  3. Inwiefern teilt die Landesregierung die oben dargelegte Ansicht des Essener SPD-Bezirksbürgermeisters, wonach das dänische „Ghetto-Gesetz“ Vorbildcharakter habe?
  4. Welche zum „dänischen Vorbild“ ähnlich gelagerten Projekte gibt es auf Landesebene?
  5. Inwiefern teilt die Landesregierung die Ansicht, dass sich soziokulturelle Problemlagen, wie in Essen-Altenessen oder z.B. auch in der Dortmunder Nordstadt oder Gelsenkirchen-Ückendorf, dauerhaft nicht allein durch Integrationsmaßnahmen bewältigen lassen?

Gabriele Walger-Demolsky
Christian Loose

 

Anfrage als PDF

 

1 Vgl. https://www.waz.de/staedte/essen/essen-fdp-politiker-raet-buergern-altenessen-zu-verlassen-id231038102.html?fbclid=IwAR2Rf5KQEPnH3QEQZ59f35Avn5VGsDewtzkyC_h_ITqM6XTrE5fTV4xyB

2 Vgl. Lt.-Drucksache 17/12411

3 Die Zahlen wurden nur für die Stadt Essen allgemein erhoben.

4 Ebenda

5 Vgl. https://www.waz.de/staedte/essen/altenessener-strasse-abreissen-radikale-forderung-im-norden-id233467297.html?fbclid=IwAR3X lzB8UbLMHfdR8ClRNdoMO3n-4ffFh5l26SRfSWB1Sd1iRX5A37TXpA

6 Vgl. https://media.essen.de/media/wwwessende/aemter/12/Bevoelkerungszahlen.pdf

7 Vgl.- https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/wirtschaftspolitik/armut-und-reichtum/armut-und-reichtum-essen-die-gespaltene-stadt-12015532.html?printPagedArticle=true#pageIndex_2

8 Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Ghettoliste_(D%C3%A4nemark)

9 Vgl. https://www.focus.de/politik/ausland/fokus-die-parallelgesellschaften-daenemark-nicht-westlich-nicht-willkommen_id_13140151.html

10 Vgl. https://www.tagesschau.de/ausland/europa/daenemark-migration-101.html

11 Vgl. https://dewiki.de/Lexikon/Ghettoliste_(D%C3%A4nemark)#32-Punkte-Plan


Der Minister für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration hat die Kleine Anfrage 6024 mit Schreiben vom 4. November 2021 namens der Landesregierung im Einvernehmen mit dem Minister des Innern, dem Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales, der Ministerin für Heimat, Kommunales, Bau und Gleichstellung und der Ministerin für Schule und Bildung be­antwortet.

  1. Inwiefern sieht die Landesregierung, auf Grundlage der besonderen Situation im Essener Norden, die Möglichkeit, weitere Zuweisungen gemäß § 3 FlüAG und § 12a AufenthG an die Stadt Essen mindestens temporär auszusetzen?

Die Zuweisungen von Asylbewerbern, die nicht mehr nach § 3 FlüAG verpflichtet sind, in einer Aufnahmeeinrichtung des Landes zu wohnen, sowie die Zuweisung von anerkannten Schutz­berechtigten nach § 12a AufenthG erfolgt unter Berücksichtigung der jeweiligen Erfüllungsquo­ten und den daraus abgeleiteten Aufnahmeverpflichtungen der Kommunen.

Aufgrund der ausgelasteten Erfüllungsquote der Stadt Essen werden nur anerkannte Schutz­berechtigte im Sinne von § 12a AufenthG zugewiesen, die einen Rechtsanspruch auf eine Zuweisung in diese Kommune haben. Dies ist insbesondere bei Familienzusammenführungen oder bei Vorliegen sonstiger humanitärer Gründe von vergleichbaren Gewicht der Fall. In die­sem Kalenderjahr wurden der Stadt Essen bis dato 86 Personen mit Anerkennungsstatus zu­gewiesen (Stand 17.10.2021). Da die Betroffenen einen Rechtsanspruch auf Zuweisung in eine bestimmte Kommune haben, ist eine Aussetzung der Zuweisungen nach § 12a AufenthG nicht möglich.

Die Erfüllungsquote für Zuweisungen nach § 3 FlüAG liegt für die Stadt Essen mit Stand vom 17.10.2021 bei 97,33 Prozent. Daher werden der Stadt Essen auch in diesem Zusammenhang derzeit nur Flüchtlinge zugewiesen, die einen Rechtsanspruch auf eine Zuweisung in diese Kommune haben, zum Beispiel bei Familienzusammenführungen oder aus sonstigen humani­tären Gründen von vergleichbarem Gewicht. Eine darüber hinaus gehende Aussetzung der Zuweisung von Asylbewerbern wäre gemäß § 3 Abs. 4 FlüAG nur auf Antrag und für längstens acht Wochen möglich, wenn eine Gemeinde glaubhaft darlegen kann, ihrer Aufnahmeverpflich­tung aufgrund unvorhersehbarer Ereignisse kurzfristig nicht nachkommen zu können.

  1. Wie hat sich in den Jahren von 2014 bis 2021 der aktive Personalstand in der PI Nord der KPB Essen entwickelt? (Bitte differenziert nach Polizeivollzugsbeamten, Regierungsbeschäftigten im Polizeidienst und Jahr auflisten)

Dargestellt wird jeweils die Anzahl der Personen und die Anzahl der Planstellen/Stellen zum 1. Oktober des jeweils angegebenen Jahres.

 

Jahr Polizeivollzugs- beamtinnen/ -beamte Personen Polizeivollzugs- beamtinnen/ -beamte Planstellen Regierungs- beschäftigte Personen Regierungs­beschäftigte Stellen
2014 200 194,32 1 1
2015 197 192,63 1 1
2016 202 197,67 1 1
2017 216 212,79 1 1
2018 215 214,04 1 1
2019 209 205,89 1 1
2020 202 201,36 3 3
2021 199 198 4 4

 

  1. Inwiefern teilt die Landesregierung die oben dargelegte Ansicht des Essener SPD-Bezirksbürgermeisters, wonach das dänische „Ghetto-Gesetz“ Vorbildcharakter habe?
  2. Welche zum „dänischen Vorbild“ ähnlich gelagerten Projekte gibt es auf Landes­ebene?

Die Fragen 3 und 4 werden aufgrund des Sachzusammenhangs gemeinsam beantwortet.

Im Baugesetzbuch sind mit dem besonderen Städtebaurecht gemäß § 136 ff die Vorausset­zungen vorhanden, um Stadt- und Ortsteile, die durch städtebauliche Missstände gekenn­zeichnet sind, mit einem Bündel von Maßnahmen zu erneuern und zu attraktiven Wohngebie­ten zu entwickeln. Den Trägern der kommunalen Planungshoheit steht damit ein bewährter Instrumentenbaukasten zur Verfügung, mit dem öffentliche und private Investitionen in Woh­nungsbau und öffentliche Infrastruktur gebündelt und das Wohnumfeld verbessert werden kann. Hierbei können auch Maßnahmen der städtebaulichen Kriminalprävention umgesetzt werden. Außerdem können mit Modernisierungs- oder Neubauprojekten der öffentlichen Wohnraumförderung wichtige Erneuerungsimpulse gesetzt werden.

Die Landesregierung Nordrhein-Westfalen hat beispielsweise allein mit dem „Städtebauförder-programm 2021“ und den „Investitionspakt Sportstätten 2021“ 294 Projekte in 214 Städten und Gemeinden zur Erneuerung von Stadt- und Ortsteilen bewilligt.

Das so genannte dänische „Ghetto-Gesetz“ hat daher keinen Vorbildcharakter für Nordrhein-Westfalen und es bedarf keiner ähnlich gelagerten Projekte.

  1. Inwiefern teilt die Landesregierung die Ansicht, dass sich soziokulturelle Problemlagen, wie in Essen-Altenessen oder z.B. auch in der Dortmunder Nordstadt oder Gelsenkirchen-Ückendorf, dauerhaft nicht allein durch Integrationsmaßnahmen bewältigen lassen?

Integrationspolitik ist Querschnittspolitik und bedarf der engen Abstimmung mit allen anderen Politikbereichen. Das ist seit langem Grundsatz der nordrhein-westfälischen Integrationspolitik, wie er etwa in der Teilhabe- und Integrationsstrategie 2030 zum Ausdruck kommt.

 

Antwort als PDF