Fachkräfte-Fiasko auch in NRW? Wie wirkt die Landesregierung dem Trend entgegen, dass tendenziell Leistungsträger abgeschreckt und Leistungsempfänger angezogen werden?

Kleine Anfrage

Kleine Anfrage 1106
der Abgeordneten Enxhi Seli-Zacharias und Carlo Clemens vom 20.01.2023

Fachkräfte-Fiasko auch in NRW? Wie wirkt die Landesregierung dem Trend entgegen, dass tendenziell Leistungsträger abgeschreckt und Leistungsempfänger angezogen werden?

Im Zeitraum von 2020 bis 2021 gab es einen Netto-Fortzug deutscher Staatsbürger ins Ausland in Höhe von 28.193 Personen, welcher einem Netto-Zuzug ausländischer Staatsbürger in Höhe von 111.299 Personen gegenüberstand.

Die geplanten Maßnahmen, mit denen die Landesregierung dem hohen negativen Wanderungssaldo deutscher Staatsbürger ins Ausland zu begegnen gedenkt, können nicht überzeugen. So heißt es in einer Antwort der Landesregierung auf eine Kleine Anfrage der AfD: „Nordrhein-Westfalen ist ein starker und attraktiver Standort für Menschen mit und ohne Einwanderungsgeschichte. Die Politik der Landesregierung ist darauf ausgerichtet, in Nordrhein-Westfalen die besten wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und ökologischen Voraussetzungen für den dauerhaften Verbleib seiner Einwohnerinnen und Einwohner zu schaffen.“1 Diese Selbsteinschätzung wirkt – insbesondere vor dem Hintergrund der aktuellen wirtschaftlichen Entwicklung in unserem Land – irritierend bis verstörend.

Anspruch und Wirklichkeit klaffen hier dann doch weit auseinander. Wie die BILD in einem Artikel anschaulich darstellte, ist Deutschland als ehemalige Top-Wirtschaftsmacht in Europa bei den Karriere-Chancen nicht einmal mehr unter den Top 10. Laut Studien liegt Deutschland noch hinter Kolumbien, Rumänien und Ecuador auf Platz 13 (Platz 1: USA, dann England und Taiwan).2 Wie ein Experte des Instituts der deutschen Wirtschaft gegenüber der BILD ausführte, gibt es „nur einige Million Gutqualifizierte weltweit, die Auslandsjobs suchen. Da haben z.B. USA, Kanada, Australien die Nase vorn, weil die Sprache dort Englisch ist.“ Der Direktor des Kieler Wirtschaftsinstituts IfW betont, dass „das Gesamtpaket anderer Länder wie der USA [für qualifizierte Fachkräfte] da einfach attraktiver sei.“

Deutlich mehr Strahlkraft habe, laut BILD, in der Vergangenheit offensichtlich der deutsche Sozialstaat gehabt, was dazu führte, das aktuell nur 53,5 Prozent der arbeitsfähigen Ausländer in Deutschland eine Stelle haben. Der Experte des Instituts der deutschen Wirtschaft führte gegenüber der BILD diesbezüglich aus: „Den allermeisten fehlt eine passende Ausbildung. Deshalb sind auch so viele Flüchtlinge bei uns im Sozialleistungsbezug gelandet.“ So liegt die Erwerbstätigenquote bei Syrern exemplarisch bei lediglich 35 %.3

Die Neue Zürcher Zeitung kommt zu einer ähnlichen Bewertung.4 Danach ist Deutschland längst nicht mehr so leistungsstark und attraktiv wie früher einmal. Negativ wirke sich insbesondere die hohe Steuer- und Abgabenlast, aber auch hohe Immobilienpreise aus. „Andere Länder bieten bei den Faktoren, die mit darüber entscheiden, ob man «es schafft» im Leben, wesentlich bessere Voraussetzungen, und damit ist nicht nur die Schweiz gemeint. Wer eine gefragte Fachkraft und mobil ist, hat heute viele Gründe, sich gegen Deutschland zu entscheiden.“

Auf der anderen Seite seien die Migranten der vergangenen Jahre aus Syrien, Afghanistan, dem Irak oder aus afrikanischen Staaten eben überwiegend nicht diejenigen, die das Land so dringend brauche, also Ärzte, Ingenieure, Handwerker oder Programmierer. Es seien im Gegenteil eher Menschen, die den Staat überproportional als Leistungsempfänger belasten und ihm eben nicht als Leistungsträger zur Verfügung stehen.

Wir fragen daher die Landesregierung:

  1. Wie viele Ausländer leben aktuell mit einem Aufenthaltstitel gem. der Richtlinie 2009/50/EG bzw. § 18b (2) des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG), also mit einer sogenannten Blauen Karte EU, in NRW? (Bitte nach Herkunftsland und Anzahl differenziert listen)
  2. In welchen Berufsfeldern arbeiten diese Personen?
  3. Mit welchen Maßnahmen plant die Landesregierung den Zuzug von Nicht- oder Geringqualifizierten zu minimieren und im Gegenzug den Zuzug von hochqualifizierten Fachkräften nach NRW von Landesseite zu unterstützen, also von Personen, die mindestens die Anforderungen der Blauen Karte EU erfüllen?
  4. Wie sind aktuell die Vakanzzeiten in den unterschiedlichen Berufsgruppen?
  5. Bei welchen Berufsgruppen lässt sich der Fachkräftebedarf aktuell am schwierigsten über den heimischen bzw. europäischen Arbeitskräftemarkt decken?

Enxhi Seli-Zacharias
Carlo Clemens

 

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1 Vgl. Lt.-Drucksache 18/380

2 Vgl. htt p s :/ / www. B i l d .de/politik/inland/politik – in l a n d /viele-fluechtlinge-aber-w e n i g-fach k r a e f t e-wie-passt-das-zusammen-82 1 2 57 56. B i l d.h t m l

3 Ebd.

4 Vgl. htt p s : / / www. N z z .ch/meinung/der- a n d e r e -blick/fach kraefte-gesucht-so-s c h r e c k t-deutschland-l eistungs t r a e g e r-ab-ld.1714761


Der Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales hat die Kleine Anfrage 1106 mit Schreiben vom 15. Februar 2023 namens der Landesregierung im Einvernehmen mit der Ministerin für Kinder, Jugend, Familie, Gleichstellung, Flucht und Integration beantwortet.

  1. Wie viele Ausländer leben aktuell mit einem Aufenthaltstitel gem. der Richtlinie 2009/50/EG bzw. § 18b (2) des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG), also mit einer so­genannten Blauen Karte EU, in NRW? (Bitte nach Herkunftsland und Anzahl diffe­renziert listen)

In der Statistik des Ausländerzentralregisters als hier maßgebliche Informationsquelle waren zum Stichtag 31.12.2022 insgesamt 13.445 Drittstaatsangehörige in Nordrhein-Westfalen im Besitz einer Blauen Karte EU, sowohl nach § 18b Abs. 2 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) sowie nach § 19a AufenthG (Altfallregelung). Eine weitergehende Aufschlüsselung der Zahlen war in der für die Beantwortung einer Kleinen Anfrage zur Verfügung stehenden Zeit nicht möglich.

  1. In welchen Berufsfeldern arbeiten diese Personen?

Zur Beantwortung der Frage werden Daten aus der amtlichen Statistik der Bundesagen­tur für Arbeit verwendet. Es können Angaben zu den sozialversicherungspflichtig Be­schäftigten in Nordrhein-Westfalen mit einer Niederlassungserlaubnis als Inhaberinnen und Inhaber einer Blauen Karte EU nach Wirtschaftsabschnitten (WZ 2008) gemacht werden. Es wird auf die Tabelle in Anlage 1 verwiesen.

  1. Mit welchen Maßnahmen plant die Landesregierung den Zuzug von Nicht­oder Geringqualifizierten zu minimieren und im Gegenzug den Zuzug von hochqualifizierten Fachkräften nach NRW von Landesseite zu unterstützen, also von Personen, die mindestens die Anforderungen der Blauen Karte EU erfüllen?

Der Fachkräftemangel in Deutschland besteht nicht alleine im Bereich der hochqualifi-zierten Beschäftigung im Sinne einer Blauen Karte EU. Auch in anderen Berufsfeldern stellt der Zuzug von Arbeitskräften aus dem Ausland einen wichtigen Baustein dar, um den anhaltenden und steigenden Arbeitskräftebedarf in Nordrhein-Westfalen bzw. Deutschland decken zu können. Entsprechend den bundesgesetzlichen Grundlagen ist die Vergabe von Visa aber stets an bestimmte Voraussetzungen geknüpft. Eine Einwan­derung im Rahmen einer nicht qualifizierten Beschäftigung ist bereits jetzt lediglich im Rahmen der von der Beschäftigungsverordnung vorgesehenen Beschäftigungsmöglich­keiten realisierbar. Für weitere Einschränkungen dieser Möglichkeiten besteht aus Sicht der Landesregierung kein Bedarf.

Unter Federführung des Ministeriums für Arbeit, Gesundheit und Soziales wurde eine interministerielle Arbeitsgruppe (IMAG) zur Koordinierung einer Fachkräfteoffensive der Landesregierung Nordrhein-Westfalens eingerichtet.

  1. Wie sind aktuell die Vakanzzeiten in den unterschiedlichen Berufsgruppen?

Nach Auskunft der Regionaldirektion Nordrhein-Westfalen der Bundesagentur für Arbeit hatten im Jahresdurchschnitt 2021 48% der gemeldeten sozialversicherungspflichtigen Arbeitsstellen eine Vakanzzeit von 3 Monaten oder länger.

Die abgeschlossene Vakanzzeit5 gibt die durchschnittliche Zeit an, die von der Anmel­dung bis zur Abmeldung einer gemeldeten Stelle vergeht. In Nordrhein-Westfalen lag die abgeschlossene Vakanzzeit im Jahr 2020 im Durchschnitt bei 133 Tagen. Zwar ging die Vakanzzeit anschließend etwas zurück, stieg 2022 aber erneut etwas an, sodass es 2022 bereits 123 Tage dauert, bis eine Stelle neu besetzt ist.6

Eine lange Vakanzzeit kann auf einen Engpass bei der Stellenbesetzung hindeuten. Be­rufsgruppen mit Engpassrelation7 und hoher abgeschlossener Vakanzzeit sind Boden­verlegung (244 Tage), Altenpflege (217 Tage), Hochbau (215 Tage), Klempnerei, Sani­tär, Heizung, Klimatechnik (213 Tage) und Aus-, Trockenbau., Iso., Zimmer., Glas., Roll.bau (209 Tagen).8

Es wird auf die Tabellen in Anlage 2 verwiesen.

  1. Bei welchen Berufsgruppen lässt sich der Fachkräftebedarf aktuell am schwierigsten über den heimischen bzw. europäischen Arbeitskräftemarkt decken?

Hierzu können keine belastbaren Aussagen getroffen werden. Es ist davon auszugehen, dass die größten Schwierigkeiten, den Fachkräftebedarf über den heimischen bzw. den europäischen Arbeitsmarkt zu decken, bei den in der Antwort zu Frage 4 aufgezählten Berufsgruppen mit den längsten Vakanzzeiten, bestehen.

 

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