Kleine Anfrage 1977der Abgeordneten Andreas Keith und Dr. Martin Vincentz vom 29.01.2019
Fehlerhafte Krankenhausrechnungen, Verjährungsverkürzung für Kassenforderungen
Die Bundesregierung plant eine Rechtsänderung zu verabschieden, die rückwirkend in die Rechte der gesetzlichen Krankenkassen eingreift. Geplant ist eine Halbierung der Verjährungsfrist für Forderungen der Kassen wegen fehlerhafter Rechnungen der Krankenhäuser von ursprünglich vier auf zwei Jahre. Die Krankenkassen sollen demnach auf alle Forderungen wegen falscher Klinikrechnungen vor 2017 verzichten, sofern diese zum Zeitpunkt der Verabschiedung des Gesetzes nicht vor den Sozialgerichten geltend gemacht wurden.
Vor diesem Hintergrund fragen wir die Landesregierung:
1. Um wie viele Fälle von kassenseitigen Regressforderungen an Krankenhäuser in Nordrhein-Westfalen, auf die die geplante Regelung der Bundesregierung Anwendung finden würde, handelt es sich?
2. Sind bereits in der oben genannten Angelegenheit Vertreter der Kranken- und Ersatzkassen an die Landesregierung herangetreten?
3. Wie hoch ist die Summe, die der Versichertengemeinschaft in Nordrhein-Westfalen aus der „Generalamnestie“ für die betreffenden Falschabrechnungen der Krankenhäuser entgehen würde?
4. Wie bewertet die Landesregierung die oben genannten Pläne der Bundesregierung?
Andreas Keith
Dr. Martin Vincentz
Nachfolgend die Antwort der Landesregierung, verfasst am 26.02.2019
Der Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales hat die Kleine Anfrage 1977 mit Schreiben vom 27. Februar 2019 namens der Landesregierung beantwortet.
Vorbemerkung der Landesregierung
Die der Kleinen Anfrage offensichtlich zugrunde liegenden Rechts-änderungen sind bereits durch das Pflegepersonalstärkungsgesetz (PpSG) zum 1. Januar 2019 in Kraft getreten.
Zum einen ist durch das Pflegepersonalstärkungsgesetz die Ver-jährungsfrist von vier auf zwei Jahre verkürzt worden. Auf der anderen Seite ist die zweite Lesung des Pflegepersonalstärkungsgesetzes im Bundestag am 9. November 2018 als Ausschlusszeitpunkt für die gerichtliche Durchsetzbarkeit von Rückforderungsansprüchen fixiert worden. Daneben wurde das Deutsche Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) ermächtigt, auch mit Wirkung für die Vergangenheit Klarstellungen zu den Abrechnungsvorgaben für Krankenhausleistungen vorzunehmen.
Konkreter Anlass für diese Änderungen waren zwei Entscheidungen des Bundessozialgerichts (BSG) aus dem Jahr 2018, die Festlegungen zu Mindestmerkmalen des Operationen- und Prozedurenschlüssels (OPS) unter anderem bei der Behandlung von Schlaganfällen betreffen. Durch diese Entscheidungen wurden rückwirkend Abrechnungsvorgaben anders ausgelegt, als sie bis dahin praktiziert worden waren.
Hierdurch sahen sich die Krankenhäuser zum Teil erheblichen Rück-forderungen für Abrechnungen von Komplexbehandlungen in der Geriatrie und der Schlaganfallbehandlung (in sog. „Stroke Units“) gegenüber, die nach nachvollziehbarer Einschätzung der Krankenhausgesellschaft Nordrhein-Westfalen gerade im Bereich der Schlag-anfallversorgung wichtige Versorgungsstrukturen in Nordrhein-Westfalen gefährdet hätten.
Diese Probleme dürften durch die Gesetzesänderung gelöst sein, weil das DIMDI zwischenzeitlich die Abrechnungsvorgaben für die Schlag-anfall- und die geriatrische Komplexbehandlung so klargestellt hat, dass die in Nordrhein-Westfalen durch die Krankenhausplanung festgelegte landesweite Versorgungsstruktur mit Stroke Units und der Geriatrie weiterhin wirtschaftlich betrieben werden kann.
Zur parallel vorgenommenen Änderung der Verjährungsfristen ist darauf hinzuweisen, dass diese nicht nur die von der o.g. BSG-Rechtsprech-ung betroffenen Abrechnungsfälle erfasst, sondern sämtliche Rückforderungen wegen (angeblich) fehlerhafter
Krankenhausabrechnung. Der Bundesgesetzgeber hat zur Begründung u.a. darauf verwiesen, dass auch die Krankenhäuser schon vorher ihre Nachforderungen etc. jeweils in einem Zeitraum von zwei Jahren geltend machen mussten, so dass jetzt durch die Änderung eine Gleichbehandlung sichergestellt sei.
1. Um wie viele Fälle von kassenseitigen Regressforde-rungen an Krankenhäuser in Nordrhein-Westfalen, auf die die geplante Regelung der Bundesregierung Anwendung finden würde, handelt es sich?
Der Landesregierung liegen insoweit keine Erkenntnisse vor. Sie ist an dem Abrechnungsverfahren weder direkt noch indirekt beteiligt. Lediglich für die landesunmittelbaren Krankenkassen hat sie die wirtschaftliche Aufgabenwahrnehmung im Rahmen der Rechtsaufsicht sicherzustellen. Diese Aufsicht umfasst aber nicht die Erfassung und Begleitung einzelner Abrechnungsvorgänge oder Klageverfahren. Die bundesweit tätigen Krankenkassen (z.B. Ersatzkassen) unterliegen der Aufsicht des Bundesversicherungsamts.
Mit der Vorlage 17/1690 hat das Ministerium der Justiz dem Rechtsaus-schuss im Februar 2019 die ihm vorliegenden Zahlen zu den bei den Sozialgerichten zum Jahresende 2018 erhobenen Klagen dargestellt.
Hieraus kann aber kein eindeutiger Rückschluss auf die Zahl der kassenseitigen Regressforderungen gezogen werden, weil die Klagen einerseits auch andere Rechtsstreitigkeiten betreffen und anderseits durchaus eine Klage auch mehrere Regressforderungen umfassen kann.
Nach Schätzung des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen sind gegenüber dem Vorjahr rund 10.000 Mehreingänge in 2018 zu verzeichnen.
2. Sind bereits in der oben genannten Angelegenheit Vertreter der Kranken- und Ersatzkassen an die Landesregierung herangetreten?
Ja.
3. Wie hoch ist die Summe, die der Versichertengemein-schaft in Nordrhein-Westfalen aus der „Generalamnestie“ für die betreffenden Falschabrechnungen der Krankenhäuser entgehen würde?
Zur Summe der Rückforderungen, auf die die Gesetzesänderung Anwendung findet, liegen der Landesregierung keine eigenen Erkenntnisse vor (s. Antwort zu Frage 1).
Nur ergänzend sei festgestellt, dass mit dem Begriff „Generalamnestie“ aus Sicht der Landesregierung der Vorgang fälschlicherweise in Verbin-dung zu einem sachlich nicht vorliegenden Sachverhalt gebracht wird.
Die nachträglichen Klarstellungen des DIMDI haben kein bewusst rechtswidriges Verhalten nachträglich legitimiert, sondern eine langjährige Abrechnungspraxis bestätigt. Der Landesregierung ist nicht bekannt, dass diese Praxis zwischen den Beteiligten grundsätzlich umstritten gewesen wäre. Auch eine Veränderung der Verjährungs-zeiträume rechtfertigt kein rechtswidriges Verhalten, wie die Verwendung des Begriffs „Amnestie“ nahelegt. Die Geltendmachung berechtigter Rückforderungen war trotz der Änderung rechtlich – und wie die große Zahl der Klagen vor Eintritt der Verjährungsfrist zeigt – auch faktisch weithin möglich.
4. Wie bewertet die Landesregierung die oben genannten Pläne der Bundesregierung?
Grundsätzlich hat das Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales die gesetzgeberischen Aktivitäten auf Bundesebene inhaltlich begrüßt, da sie das Ziel verfolgten, negative Auswirkungen für die Kranken-häuser ebenso zu vermeiden wie Haftungsrisiken für die verantwort-lichen Personen bei den Krankenkassen.
Allerdings lösten die erst zwischen den Bundesratsberatungen zum Pflegepersonalstärkungsgesetz eingefügten Regelungen zur Verjährungsverkürzung und zur Ausschlussfrist für die Durchsetzbarkeit der Ansprüche einen Zeitdruck für die handelnden Akteure aus, der konsensuale Verfahrensabsprachen nicht mehr ermöglichte. Eine Vielzahl von Klagen der Kostenträger ist bei den Sozialgerichten in Nordrhein-Westfalen eingegangen.
Nach Bekanntwerden dieser zahlreichen Klagen seit Verabschiedung des Pflegepersonalstärkungsgesetzes hat das Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales noch vor der zweiten Bundesratsbefassung am 21. November 2018 in seiner Funktion als damaliges Vorsitzland der Gesundheitskonferenz (GMK) ein Schreiben an Herrn Bundesgesund-heitsminister Spahn versendet und das Bundesgesundheitsministerium darum gebeten, gemeinsam mit den Ländern sowie den Kostenträgern und der Krankenhausseite pragmatische Lösungswege zu entwickeln, z.B. durch ein zeitnahes Schlichtungs-/Mediationsverfahren sowie durch eine Anpassung und rückwirkende Klarstellung der einschlägigen OPS durch das DIMDI gemäß der Neuregelung des § 295 Absatz 1 Satz 7 SGB V.
Eine der letztgenannten Anregung entsprechende Entschließung hat auch der Bundesrat in seiner Sitzung am 23. November 2018 mehrheitlich gefasst (vgl. BR-Drucksache 560/18 – Beschluss, Seite 3).