Kleine Anfrage 4280des Abgeordneten Dr. Christian Blex vom 03.09.2020
Freispruch für den Diesel – Warum wird die Luft mit weniger Autos nicht besser?
Am 16. Juni 2020 wurde unter der Drucksache 17/9804 ein Antrag eingereicht, der sich mit der Validität der Grenzwerte und mit der Verlässlichkeit der Messungen von Stickstoffdioxid beschäftigt.
Der kausale Zusammenhang zwischen Verkehr und Emission von Stickstoffdioxid ist bekannt. Es stellt sich jedoch die Frage, ob während der Corona-Pandemie die Immissionswerte im gleichen Umfang gesunken sind wie das Verkehrsaufkommen. Die Monatswerte der Immissionen bestätigten jedoch kein Absinken, das dem Umfang des Rückgangs des Verkehrsaufkommens entsprach.1 Das wäre eigentlich zu erwarten gewesen. (Hierbei handelt es sich um ein sogenanntes „Experiment des Lebens“, das nicht wissenschaftlich geplant wurde, aber praktische Antworten auf bisher eher theoretische Überlegungen gibt und weitergehende Schlüsse zulässt.)
Trotz dieser Ergebnisse behauptet die NRW-Umweltministerin Heinen-Esser, dass der Kfz-Verkehr „nachweislich der maßgebliche Verursacher der Belastung“ sei.2
Ein Blick auf die Monatswerte offenbart einen steigenden Immissionstrend. So sind die NO2-Mittelwerte von März bis April um insgesamt 73 µg/m3 gestiegen. Alleine die Ergebnisse der Messstation auf der Brackeler Straße in Dortmund (VDOM) stiegen von 31 µg/m3 im Februar 2020 und 37 µg/m3 im März 2020 auf 41 µg/m3 im April 2020. Dabei ist der Verkehr in diesem Zeitraum um bis zu 70 Prozent eingebrochen.
Entscheidend bei der Beurteilung von Messergebnissen ist der gewählte Referenzzeitraum. Dabei wird gerne auf die Monatswerte des vorangegangenen Jahres verwiesen. Dieses Vorgehen mag zwar jahreszeitliche Effekte eliminieren aber eben auch alle getroffenen Maßnahmen, wie z.B. die Umweltprämie.
In einer Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der FDP-Abgeordneten Luksic, Sitta und Reuther in der Drucksache 19/20300 wurde deutlich, dass auch in anderen Bundesländern ein sog. Corona-Effekt zwar auf das Verkehrsaufkommen, nicht aber auf die Stickstoffdioxid-Belastung festgestellt werden konnte.3 Es stellt sich hier die Frage, wie die schwarz-gelbe Landesregierung die Maßnahmen zur Senkung der Stickstoffbelastung weiter „ambitioniert“ umsetzen will, wenn die FDP-Fraktion im Bundestag das eiserne Festhalten an der Luftreinhaltepolitik so vehement kritisiert.4
Vor diesem Hintergrund frage ich die Landesregierung:
- Wie werden die Monatswerte für Stickstoffdioxid ermittelt?
- Welche Messstationen in NRW haben von Februar auf April einen Anstieg der NO2-Monatswerte gezeigt?
- Warum sind die NO2-Werte, beispielsweise die an der Messstation auf der Brackeler Straße, während der Corona-Zeit gestiegen?
- Wie groß sind die Schwankungen bei Messungen von NO2, welche durch meteorologische Effekte verursacht werden können?
- Die Corona-Pandemie brachte ein einmaliges „Verkehrsexperiment“ mit sich. Was hat die Landesregierung aus der Corona-Pandemie über NO2 gelernt?
Dr. Christian Blex
1 https://www.lanuv.nrw.de/umwelt/luft/immissionen/berichte-und-trends/monatswerte
3 https://dipbt.bundestag.de/doc/btd/19/203/1920300.pdf
Die Ministerin für Umwelt, Landwirtschat, Natur- und Verbraucherschutz hat die Kleine Anfrage 4280 mit Schreiben vom 29. September 2020 namens der Landesregierung im Einvernehmen mit dem Minister für Verkehr beantwortet.
Vorbemerkung der Landesregierung
Zur grundsätzlichen Frage ist zu bemerken, dass eine Verringerung der Schadstoffemissionen zu einer Verringerung der Belastungen führt. Dies gilt auch für die Emissionen aus dem Straßenverkehr. Dabei darf aber nicht vergessen werden, dass auch die von der meteorologischen Situation abhängige Durchmischung der Atmosphäre einen relevanten Einfluss auf die Verdünnung und somit auf die lokale Schadstoffbelastung hat.
Die meteorologische Situation ist kurzfristigen Schwankungen unterworfen. Um diesem Fakt sachgerecht zu begegnen, werden Grenzwerte als Mittelwert über ein Kalenderjahr festgelegt und Messwerte dementsprechend beurteilt.
Zur meteorologischen Situation im Winter 2019/2020 wurde vom Deutschen Wetterdienst eine Analyse im GAW Brief des DWD Nr. 755 veröffentlicht: „…Im vergangenen Winter herrschte eine ungewöhnliche Wettersituation vor mit ständigen Tiefdruckgebiet-Passagen über Europa, starkem Westwind und einem fehlenden kontinentalen Hoch im Nordosten (s.a. Ozon-Bulletin 1386). Folge war ein ständiger und schneller Austausch der Luftmassen über Europa, wenige Inversionslagen, so dass sich Emissionen des Kontinents nicht zu hohen Konzentrationen aufbauen konnten. Ein Wechsel hin zu einem kontinentalem Hoch und Luftströmung überwiegend aus Ost erfolgte ab 21. März mit in Folge deutlich höheren Konzentrationen…“.
Diese Auswertung des DWD zeigt, dass eine Änderung der meteorologischen Bedingungen zufällig im ähnlichen Zeitraum auftrat wie der Beginn der Corona-bedingten Verringerungen des Verkehrsaufkommens. Um hier dennoch zu einer Aussage über die Auswirkungen der Verkehrsverringerungen zu kommen, hat der Deutsche Wetterdienst in Zusammenarbeit mit dem Umweltbundesamt die um die Änderungen der meteorologischen Situation bereinigte Entwicklung der NO2-Belastung modelliert und mit den real gemessenen Belastungen verglichen. Die Ergebnisse sind im GAW Brief des DWD Nr. 767 und dem zugehörigen Hintergrundpapier8 veröffentlicht. Dabei wurde im Mittel über Deutschland eine Minderung um „…23±6% für NO2 in den ersten 4 Wochen des Lockdowns [ermittelt]. In der zweiten 4-Wochen-Phase des Lockdowns sind die Minderungen bedingt durch die wieder zunehmende Verkehrsaktivität schwächer. Die bis hier vorgestellten Ergebnisse beziehen sich auf Werktage; an Wochenenden und Feiertagen sind die Minderungen in beiden Phasen um ca. 2 % stärker ausgeprägt, was durch den an Wochenenden fehlenden Liefer-, LKW- und Berufsverkehr und damit alleinige Prägung durch den PKW Verkehr plausibel ist…“
Die Analyse des DWD kommt zu ähnlichen Ergebnissen wie die vom LANUV durchgeführte Analyse9 auf Grundlage des Vergleichs der Vorjahreswerte: „…Der Vergleich der LANUV-Messwerte für einzelne Städte des Monats März mehrerer Jahre zeigt, dass die NO2-Belastung im Jahr 2020 im Vergleich zum Jahr 2019 um etwa 20 % gesunken ist […]. Dies beinhaltet neben den Auswirkungen der Coronakrise auch die Wirkungen von Maßnahmen der Luftreinhalteplanung sowie meteorologische Einflüsse.“
- Wie werden die Monatswerte für Stickstoffdioxid ermittelt?
Die Ermittlung der Kenngrößen für die Luftqualität erfolgt in Deutschland in allen Bundesländern einheitlich. Die Berechnung erfolgt gemäß den Vorgaben der EU-Richtlinie 2008/50/EG. Enthält die Richtlinie keine Vorgaben, so finden die Regelungen des Guidance zur Kommissionsentscheidung 2011/850/EG Anwendung. Monatsmittelwerte gehören nicht zu den berichtspflichtigen aggregierten Größen und unterliegen daher keiner einheitlichen Vorschrift. Zur Vergleichbarkeit setzt das LANUV die gleiche Vorschrift wie für Tagesmittelwerte ein, d.h. es müssen mindestens 75% der Stundenwerte eines Monats vorliegen. Aus den Stundenwerten wird ein arithmetischer Mittelwert gebildet. Die Rundung auf ganze µg/m3 erfolgt erst im letzten Schritt der Berechnung.
- Welche Messstationen in NRW haben von Februar auf April einen Anstieg der NO2-Monatswerte gezeigt?
Von Januar nach April zeigen nur 3 Stationen einen Anstieg, 10 keine Veränderung und 44 eine Reduzierung der NO2-Monatsmittelwerte. Hier ist deutlich sichtbar, wie die Reduktion des Verkehrs auch eine Reduktion der Immissionsbelastung zur Folge hat.
Im Februar wurde die Immissionsbelastung, wie vom DWD beschrieben, durch eine für die Luftreinhaltung sehr günstige Wetterlage beeinflusst, die sich im Laufe des März in eine für die Luftreinhaltung ungünstige Wetterlage änderte. In der Folge gab es an einzelnen Stationen im April höhere Werte als im Februar. Eine Übersicht der Messwerte von Januar 2020 bis Mai 2020 ist in Tabelle 1 dargestellt:
Tabelle 1: Monatswerte der 57 kontinuierlich messenden Messstationen im LANUV Messnetz. Dargestellt sind vorläufige, nicht endvalidierte Messwerte. Alle Angaben in µg/m3. Werte unterhalb der Nachweisgrenze werden als „<10“ dargestellt, Messausfälle werden als „--" dargestellt. Eine Zuordnung der Stationskennungen sowie Beschreibungen der einzelnen Stationen findet sich unter: https://www.lanuv.nrw.de/umwelt/luft/immissionen/messorte-und-werte
— Tabelle in PDF —
*Stationsabbau zum 06.01.2020.
- Warum sind die NO2-Werte, beispielsweise die an der Messstation auf der Brackeler Straße, während der Corona-Zeit gestiegen?
Die Luftschadstoffkonzentration ergibt sich aus der Höhe der Emissionen und deren Verteilung durch meteorologische Bedingungen. Der Anstieg der Monatsmittelwerte ist mit großer Wahrscheinlichkeit auf die in den Vorbemerkungen erläuterten meteorologischen Effekte zurückzuführen. Die oben genannten Auswertungen des DWD zeigen, dass es bei einer Bereinigung um die meteorologischen Effekte bundesweit eine deutliche Reduktion der Belastungen während der Corona-bedingten Maßnahmen im Frühjahr 2020 gab.
- Wie groß sind die Schwankungen bei Messungen von NO2, welche durch meteorologische Effekte verursacht werden können?
Allein aus den Messwerten lässt sich nicht unterscheiden, inwieweit Schwankungen durch meteorologischen Effekte oder andere Effekte verursacht werden. Im Extremfall können zwischen zwei Monaten Schwankungen der NO2-Belastung in einer Größenordnung von bis zu 20 µg/m3 auftreten.
- Die Corona-Pandemie brachte ein einmaliges „Verkehrsexperiment“ mit sich. Was hat die Landesregierung aus der Corona-Pandemie über NO2 gelernt?
Der mit den Schutzmaßnahmen gegen die Corona-Pandemie einhergehende Rückgang der Verkehrszahlen führte nach Auswertung des LANUV zu einer Abnahme der Luftschadstoffbelastung in einer Größenordnung, wie sie der Rückgang des Straßenverkehrs erwarten lässt10.
Der Zusammenhang von weniger Verkehrsemissionen und verringerter Luftschadstoffbelastung wurde bestätigt.
5 https://www.dwd.de/DE/forschung/atmosphaerenbeob/zusammensetzung_atmosphaere/hohenpeisse nberg/download/gaw_briefe/gaw_brief_075_de_pdf.html?nn=452004
6 https://www.dwd.de/DE/forschung/atmosphaerenbeob/zusammensetzung_atmosphaere/hohenpeisse nberg/download/ozon_bulletins/ozonbulletin_138_2003_de_pdf.pdf?__blob=publicationFile&v=3
7 https://www.dwd.de/DE/forschung/atmosphaerenbeob/zusammensetzung_atmosphaere/hohenpeisse nberg/download/gaw_briefe/gaw_brief_076_de_pdf.html?nn=452004
8 https://www.dwd.de/DE/forschung/atmosphaerenbeob/zusammensetzung_atmosphaere/hohenpeisse nberg/download/gaw_briefe/gaw_brief_076_hintergrundpapier_de_pdf.pdf?__blob=publicationFile&v= 4
9 https://www.lanuv.nrw.de/fileadmin/lanuv/luft/immissionen/ber_trend/Auswirkungen_Covid19_Luftquali t%C3%A4t.pdf
10 https://www.lanuv.nrw.de/fileadmin/lanuv/luft/immissionen/ber_trend/Auswirkungen_Covid19_Luftquali t%C3%A4t.pdf