Kleine Anfrage 3045der Abgeordneten Andreas Keith und Dr. Martin Vincentz vom 11.10.2019
Gesetzliche Betreuung in Nordrhein-Westfalen – Erhalten psychisch kranke Menschen mit Betreuungsbedarf genügend Unterstützung in Form von zeitnaher Bearbeitung der Betreuungsverfahren?
Die rechtliche Betreuung gilt als Rechtsfürsorge zum Wohl des betroffenen Menschen. Sie ist an die Stelle von Entmündigung, Vormundschaft für Erwachsene und Gebrechlichkeitspflegschaft getreten.1 Die Voraussetzungen für die Einrichtung einer Betreuung sind in § 1896 BGB geregelt. Für einen volljährigen Menschen bestellt das Betreuungsgericht gemäß § 1896 Abs. 1 BGB nur dann einen Betreuer, wenn jener auf Grund einer psychischen Erkrankung oder einer geistigen, seelischen oder körperlichen Behinderung seine Angelegenheiten ganz oder teilweise nicht mehr selbst regeln kann.
Die größte Gruppe der Menschen, für die ein Betreuer bestellt wird, bilden alte Menschen, die an der Alzheimerkrankheit erkrankt sind oder deren Gehirnleistung nachgelassen hat.2 Oft kommt es auch zu Betreuungen bei Patienten, die an einer Psychose oder am Borderline-Syndrom leiden.3 Der demographische Wandel, die Zunahme psychischer Erkrankungen, die Veränderungen bei den Haushalts- und Familienstrukturen und schließlich zunehmend fehlende Kapazitäten und Ressourcen bei den sozialen Diensten sprechen für einen zukünftigen Anstieg der Betreuungszahlen.4
Gerade Fälle psychischer Erkrankung gehen häufiger mit fehlender Krankheits- und Behandlungseinsicht einher, so dass die Betroffenen in doppelter Hinsicht das Nachsehen haben. Zum einen sind sie krankheitsbedingt nicht in der Lage, ihre Situation zutreffend einzuschätzen, und lehnen angebotene Hilfe ab. Zum anderen sind sie als Betroffene im Betreuungsverfahren besonders darauf angewiesen, dass die Unterstützungssysteme greifen.
Zu beachten ist in diesem Zusammenhang zum Beispiel, dass Betroffene mit einer Psychose-Spektrum-Störung ein deutlich erhöhtes Suizidrisiko haben.5 Insofern sind im Betreuungswesen gerade bei psychischen Erkrankungen, die eine erhöhte Suizidalität mit sich bringen können, zeitnahe Entscheidungen und effektive Hilfen von enormer Bedeutung.
Wir fragen daher die Landesregierung:
1. Wie viele Frauen und Männer stehen derzeit in Nordrhein-Westfalen unter Betreuung? (Bitte die Entwicklung seit 2012 und nach Gerichtsbezirken aufschlüsseln)
2. Wie lange dauert in Nordrhein-Westfalen durchschnittlich ein Betreuungsverfahren vom Verfahrensbeginn bis zur Entscheidung zur Einrichtung der Betreuung? (Bitte nach Gerichtsbezirken aufschlüsseln)
3. Wie hat sich die Fallanzahl pro Richter in den Betreuungsabteilungen der Amtsgerichte seit 2012 entwickelt? (Bitte nach Gerichtsbezirken aufschlüsseln)
4. Sind der Landesregierung Fälle bekannt, in denen das Betreuungsgericht, die Betreuungsbehörde oder der beauftragte Sachverständige infolge Arbeitsüberlastung einer zeitnahen Erledigung der übertragenen Aufgaben nicht nachkommen konnte?
5. Welche Maßnahmen im Betreuungswesen schützen nach Ansicht der Landesregierung die Betroffenen im einzelnen vor unverhältnismäßig langen Bearbeitungszeiten?
Andreas Keith
Dr. Martin Vincentz
1 https://www.bundesjustizamt.de/DE/Themen/Buergerdienste/Justizstatistik/Betreuung/Betreuung nod e.html
2 https://www.bundesanzeiger-verlag.de/betreuung/wiki/Betreuungsvoraussetzung
3 https://www.bundesanzeiger-verlag.de/betreuung/wiki/Betreuungsvoraussetzung
4 https://www.isg-institut.de/home/wp-content/uploads/Machbarkeitsstudie ISG1.pdf
5 https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/96031/Psychosen-fuer-jeden-zehnten-Suizid-verantwortlich
Nachfolgend die Antwort der Landesregierung, verfasst am 07.11.2019
Der Minister der Justiz hat die Kleine Anfrage 3045 mit Schreiben vom 7. November 2019 namens der Landesregierung im Einvernehmen mit der Ministerin für Heimat, Kommunales, Bau und Gleichstellung beantwortet.
1. Wie viele Frauen und Männer stehen derzeit in Nordrhein-Westfalen unter Betreuung? (Bitte die Entwicklung seit 2012 und nach Gerichtsbezirken aufschlüsseln)
Die Antwort ergibt sich aus Anlage 1. Dabei beginnt die Zeitreihe mit dem Berichtsjahr 2016, da die betreffenden Daten erst seit diesem Zeitpunkt im Rahmen der Anordnung über die Erhebung von statistischen Daten in Verfahren des Betreuungsgerichts (B-Statistik) erfasst werden und eine nachträgliche Erhebung in der für eine Kleine Anfrage zur Verfügung stehenden Zeit nicht leistbar ist.
2. Wie lange dauert in Nordrhein-Westfalen durchschnittlich ein Betreuungsverfahren vom Verfahrensbeginn bis zur Entscheidung zur Einrichtung der Betreuung? (Bitte nach Gerichtsbezirken aufschlüsseln)
Der gewünschte Zeitraum wird im Rahmen der Anordnung über die Erhebung von statistischen Daten in Verfahren des Betreuungsgerichts (B-Statistik) nicht standardisiert ausgewertet. Die Ermittlung der Daten würde eine aufwändige Sonderauswertung erforderlich machen, die in der für eine Kleine Anfrage zur Verfügung stehenden Zeit nicht leistbar ist.
3. Wie hat sich die Fallanzahl pro Richter in den Betreuungsabteilungen der Amtsgerichte seit 2012 entwickelt? (Bitte nach Gerichtsbezirken aufschlüsseln)
Die Antwort ergibt sich aus Anlage 2. Dabei wird die Zahl der Neuzugänge in Betreuungssachen ins Verhältnis zu der richterlichen Personalverwendung in Betreuungssachen und Unterbringungssachen Erwachsener nach den Personalübersichten gesetzt. Für das Berichtsjahr 2019 liegt die betreffende Zahl der Neuzugänge allein für das erste Halbjahr vor, so dass eine vergleichbare und aussagekräftige Quote nicht dargestellt werden kann.
4. Sind der Landesregierung Fälle bekannt, in denen das Betreuungsgericht, die Betreuungsbehörde oder der beauftragte Sachverständige infolge Arbeitsüberlastung einer zeitnahen Erledigung der übertragenen Aufgaben nicht nachkommen konnte?
Die begehrte Information liegt der Landesregierung nicht vor.
Die Beantwortung der Frage, ob in Einzelfällen die Erledigung der übertragenen Aufgaben durch das Betreuungsgericht und/oder den gerichtlich bestellten Sachverständigen aufgrund von Arbeitsüberlastung nicht zeitnah erfolgen konnte, ist einer Beantwortung anhand objektiver Maßstäbe nicht zugänglich, da sie nur unter Heranziehung des subjektiven Empfindens des Antwortgebers erfolgen könnte. Im Übrigen wird auch keine Statistik über die Frage einer infolge von Arbeitsüberlastung verzögerten Bearbeitung von Betreuungsangelegenheiten geführt.
Das parlamentarische Fragerecht bezieht sich auf den Verantwortungsbereich der Landesregierung. Die Frage zielt in Bezug auf die Betreuungsbehörden auf den Bereich der kommunalen Selbstverwaltung ab. In Angelegenheiten der kommunalen Selbstverwaltung ist die Funktion der Landesexekutive auf eine bloße Rechtsaufsicht beschränkt. Als Mittel der Kommunalaufsicht dient auch das Informationsrecht nur der Gewährleistung einer rechtmäßigen Selbstverwaltung. Da die Rechtmäßigkeit des kommunalen Handelns hier nicht in Frage steht, gibt es für ein Tätigwerden der Kommunalaufsicht keinen Anlass.
5. Welche Maßnahmen im Betreuungswesen schützen nach Ansicht der Landesregierung die Betroffenen im Einzelnen vor unverhältnismäßig langen Bearbeitungszeiten?
Der Anspruch auf Rechtsschutz in angemessener Zeit folgt aus Artikel 19 Absatz 4 des Grundgesetzes (GG) und aus dem Justizgewährungsanspruch gemäß Artikel 20 Absatz 3 GG (BVerfGE 35, 382, 405). Im Betreuungsverfahren gilt das Familienverfahrensgesetz (FamFG). Eine ausdrücklich gesetzlich normierte Beschwerde in den Fällen einer unzumutbaren Verzögerung existiert im FamFG nicht.
Seit dem 3. Dezember 2011 besteht aber nach § 198 des Gerichtsverfassungsgesetzes (GVG) die Möglichkeit der Geltendmachung eines Entschädigungsanspruchs bei überlangen Gerichtsverfahren. Die Vorschrift stellt die Antwort des Bundesgesetzgebers auf die Rechtsprechung des EGMR dar. Der EGMR hatte 2006 die Dauer eines konkreten deutschen Zivilprozesses sowie das Fehlen eines gegen überlange Verfahrensdauer gerichteten Rechtsbehelfs im deutschen Zivilprozessrecht als Verstoß gegen Artikel 6 Absatz 1 EMRK beanstandet (EGMR, NJW 2006, 2389). Mit dem Entschädigungsanspruch kann auch der Ersatz eines immateriellen Schadens verlangt werden. § 198 Absatz 2 Satz 3 GVG sieht für den Regelfall eine Entschädigung von 1.200,00 € pro Jahr der Verzögerung vor.
Mit § 198 GVG wurde ein innerstaatlicher Rechtsbehelf geschaffen, mit dem ein Betroffener sich gegen Gefährdungen und Verletzungen seines Rechts auf angemessene Verfahrensdauer wehren kann, und der geeignet ist, entweder die befassten Gerichte zu einer schnelleren Entscheidungsfindung zu veranlassen (präventive Wirkung) oder dem Rechtsuchenden für die bereits entstandenen Verzögerungen eine angemessene Entschädigung – insbesondere auch für immaterielle Nachteile – zu gewähren (kompensatorische Wirkung).
Daneben steht dem Betroffenen die Dienstaufsichtsbeschwerde zu.
Auch kann neben der Entschädigungsklage die Amtshaftungsklage nach § 839 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB), Artikel 34 GG erhoben werden, die jedoch eine schuldhafte Amtspflichtverletzung voraussetzt und auch keinen Ersatz für immaterielle Schäden gewährt.
Eine Verfassungsbeschwerde ist gegenüber der Entschädigungsklage nach § 198 GVG subsidiär und kommt erst nach Erschöpfung des Rechtswegs im Fall spezifischer Grundrechtsverletzung in Betracht.